Gotthold Ephraim Lessing

Der Rezensent braucht nicht besser

machen zu können, was er tadelt

Tadeln heißt überhaupt, sein Mißfallen zu erkennen geben.

Man kann sich bei diesem Mißfallen entweder auf die bloße Empfindung berufen, oder seine Empfindung mit Gründen unterstützen.

Jenes tut der Mann von Geschmack: dieses der Kunstrichter.

Welcher von ihnen muß das, was er tadelt, besser zu machen verstehn?

Man ist nicht Herr von seinen Empfindungen; aber man ist Herr, was man empfindet, zu sagen. Wenn einem Manne von Geschmack in einem Gedichte oder Gemälde etwas nicht gefällt: muß er erst hingehen, und selbst Dichter oder Maler werden, ehe er es heraussagen darf: das gefällt mir nicht? Ich finde meine Suppe versalzen: darf ich sie nicht eher versalzen nennen, als bis ich selbst kochen kann?

Was sind die Gründe des Kunstrichters? Schlüsse, die er aus seinen Empfindungen, unter sich selbst und mit fremden Empfindungen verglichen, gezogen und auf die Grundbegriffe des Vollkommnen und Schönen zurückgeführt hat.

Ich sehe nicht, warum ein Mensch mit seinen Schlüssen zurückhaltender sein müsse, als mit seinen Empfindungen. Der Kunstrichter empfindet nicht bloß, daß ihm etwas nicht gefällt, sondern er fügt auch noch sein denn hinzu. Und dieses denn sollte ihn zum Bessermachen verbinden? durch dieses denn müßte er grade des Bessermachens überhoben sein können.

Freilich, wenn dieses denn ein gutes gründliches denn ist, so wird er leicht daraus herleiten können, wie das, was ihm mißfällt, eigentlich sein müßte, wenn es ihm nicht mißfallen sollte.[331]

Aber dieses kann den Kunstrichter höchstens verleiten, einen Fingerzeig auf die Schönheit zu geben, welche anstatt des getadelten Fehlers da sein könnte und sollte.

Ich sage verleiten: denn verleitet wird man zu Dingen, zu welchen man nicht gezwungen werden kann, und zu Dingen, welche übel ausschlagen können.

Wenn der Kunstrichter zu dem dramatischen Dichter sagt: anstatt daß du den Knoten deiner Fabel so geschürzet hast, hättest du ihn so schürzen sollen; anstatt daß du ihn so lösest, würdest du ihn besser so gelöset haben: so hat sich der Kunstrichter verleiten lassen.

Denn Niemand konnte es mit Recht von ihm verlangen, daß er sich so weit äußerte. Er hat seinem Amte ein Genüge geleistet, wenn er bloß sagt: dein Knoten taugt nichts, deine Verwicklung ist schlecht, und das aus dem und dem Grunde. Wie sie besser sein könnte, mag der Dichter zusehen.

Denn will er ihm helfen, und der Dichter will sich helfen lassen, und geht hin, und arbeitet nach den Anschlägen des Kunstrichters um: es ist wahr, so ist ihm der Dichter und der Leser Dank schuldig, wenn die Umarbeitung gelingt; – aber wenn sie nicht gelingt?

So fehlt auch nicht viel, die ganze Schuld fällt auf ihn allein. Und nur in diesem Falle dürfte er, um seine Meinung zu rechtfertigen, genötigt sein, den Pfuscher von der Staffelei wegzustoßen, und selbst Pinsel und Pallet in die Hand zu nehmen.

»Glück zur Arbeit! Eben hier haben wir dich erwartet, guter Mann! Wenn du fertig bist, alsdenn wollen wir vergleichen!«

Und wer glaubt nicht, vergleichen zu können!

Wehe ihm, wenn er nur schlecht und recht verbessert hat; wenn er es genug sein lassen, Fehler zu vertilgen; wenn es ihm nicht gelungen, uns für jeden mit einer ganz neuen, ganz unerwarteten Schönheit zu überraschen!

Was für ein Arzt, der einen Blinden bloß sehen macht, und ihm nicht zugleich, statt der matten grauen Augen, die ihm die Natur bestimmte, schöne blaue oder feurige schwarze Augen erteilt![332]

»War das der Mühe wert? An jenen Fehler waren wir schon gewohnt: und an die Verbesserung sollen wir uns erst gewöhnen.«

Vielleicht hätten wir den Fehler auch gar nicht bemerkt, und die Verbesserung hat ihn uns zuerst bemerken lassen. Wir werden unwillig, wenn wir finden, daß uns das, was uns so lange gefallen hat, nicht hätte gefallen sollen.

Kurz, wenn der Kunstrichter durch Tadeln beleidigt, so beleidigt er durch Bessermachen doppelt.

Mache es besser! ist zwar die Ausforderung, welche der getadelte Schriftsteller an ihn ergehen läßt, aber nicht in der Absicht, daß sie angenommen werden soll. Es soll ein bloßes Stichblatt sein, die Stöße des Kunstrichters abglitschen zu lassen.

Nimmt sie der Kunstrichter an, und er ist unglücklich: so ist ihm das Handwerk auf einmal gelegt.

Nimmt er sie an, und er ist glücklich – Aber wer wird es ihm zugestehen, daß er glücklich ist? Kein Mensch in der Welt. Weder die Künstler, noch seine Kollegen in der Kunstrichterei.

Unter jenen ist es dem Getadelten nicht zuzumuten: und den übrigen – keine Krähe wird der andern die Augen aushacken: die Reihe könnte auch an sie kommen.

Diese aber verdammen ihn des bösen Exempels; er hat sich seines Rechts vergeben; nun wird man das Bessermachen von ihnen allen fordern; dafür muß er gestraft sein!

Und überhaupt sind die Kunstrichter die einzige Art von Krähen, welche das Sprichwort zum Lügner machen.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 5, München 1970 ff., S. 331-333.
Entstanden wohl 1767/68, Erstdruck in: Nebenstunden (Breslau), 1799.
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