Sulzer, Gedanken von dem vorzüglichen Wert

[241] Gedanken von dem vorzüglichen Wert der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers von J[ohann] G[eorg] S[ulzer]. Berlin 1754. In 8vo. 2 Bogen. Dieser kleine Aufsatz betrachtet die Gedichte des Herrn Bodmers von einer Seite, von welcher sehr selten Gedichte betrachtet werden, und eben so selten betrachtet werden können, weil ihre Verfasser keine größere Absicht damit gehabt haben, als ihre Kunst zu zeigen. Diese Seite ist diejenige, welche der rechtschaffne Mann weit eher als der Kunstrichter[241] wahrnimmt, und die dem Kunstrichter nur alsdenn nicht unbemerkt entwischt, wenn er, wie der Verfasser dieser Gedanken, gegen das moralisch Schöne eben so fühlbar ist, als gegen das poetische. Die Kunst des Dichters also bei Seite gesetzt, welches hier um so viel leichter hat geschehen können, je entschiedner der Wert derselben bei Kennern bereits ist; wird gezeigt, daß die Bodmerschen Epopeen, nach ihrer Anlage, nach ihrem Inhalte und ihrer Absicht, einen sehr großen Vorzug vor den unsterblichsten Werken des Altertums verdienen. Ihre Absicht erstreckt sich viel weiter, als auf die Besserung der bürgerlichen Tugenden, welches das höchste ist, was man einem Homer und Virgil beimessen kann. Sie gehen auf die innere Besserung des Menschen, von welcher sein Schicksal jenseit des Lebens abhängt; und die Hauptlehre, auf welche der Dichter sich alles beziehen läßt, ist diese, daß die Gottesfurcht, oder die in dem Herzen würkende Religion unser höchstes Gut sei, und daß der Mangel derselben, und die daher entstehenden Laster uns notwendig unglücklich machen. Diesem Augenmerke gemäß wird kaum ein merkwürdiger Umstand des menschlichen Lebens, von dem Eintritte in dasselbe, bis auf den Abschied daraus, zu finden sein, davon man nicht an den Helden dieser Gedichte, die wahre Gemütsverfassung und das allein gute und würdige Betragen, auf die einnehmendste Art, vorgestellet sieht; keine Tugend, die nicht in ihrer vollkommnen Liebenswürdigkeit, und kein Laster, das nicht in seiner wahren Häßlichkeit und unglücklichen Folgen geschildert wird. Wie dieses alles die Bodmerschen Gedichte für eine jede Art von Lesern zu den nützlichsten Schriften machen muß, so findet der Herr S. auch noch eine andere Eigenschaft an ihnen, die sie vornehmlich bequem macht, der Jugend eine historische Kenntnis fast von allem, was der Umfang der Wissenschaften merkwürdiges in sich faßt, auf die beste Weise gelegentlich beizubringen. Denn Herr Bodmer scheint auch darinne ein neuer Homer zu sein, daß die ganze Wissenschaft seines Weltalters entweder darinne liegt, oder doch nicht undeutlich daraus geschlossen werden kann. Etc. Kostet in den Vossischen Buchläden hier und in Potsdam 2 Gr.[242]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 241-243.
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