Erster Auftritt


[521] Juliane. Henriette. Lisette.


HENRIETTE. Sage was du willst; sein Betragen ist nicht zu entschuldigen.

JULIANE. Davon würde sich alsdann erst urteilen lassen, wann ich auch seine Gründe gehört hätte. Aber, meine liebe Henriette, willst du mir wohl eine kleine schwesterliche Ermahnung nicht übel nehmen?

HENRIETTE. Das kann ich dir nicht voraus sagen. Wenn sie dahin abzielen sollte, wohin ich mir einbilde – –

JULIANE. Ja, wenn du mit deinen Einbildungen dazu kömmst – –

HENRIETTE. O! ich bin mit meinen Einbildungen recht wohl zufrieden. Ich kann ihnen nicht nachsagen, daß sie mich jemals sehr irre geführt hätten.

JULIANE. Was meinst du damit?

HENRIETTE. Muß man denn immer etwas meinen? Du weißt ja wohl, Henriette schwatzt gerne in den Tag hinein, und sie erstaunt allezeit selber, wenn sie von ohngefähr ein Pünktchen trifft, welches das Pünktchen ist, das man nicht gerne treffen lassen möchte.

JULIANE. Nun höre einmal, Lisette!

HENRIETTE. Ja, Lisette, laß uns doch hören, was das für eine schwesterliche Ermahnung ist, die sie mir erteilen will.

JULIANE. Ich dir eine Ermahnung?

HENRIETTE. Mich deucht, du sprachst davon.

JULIANE. Ich würde sehr übel tun, wenn ich dir das Geringste sagen wollte.

HENRIETTE. O! ich bitte – –

JULIANE. Laß mich!

HENRIETTE. Die Ermahnung, Schwesterchen! – –

JULIANE. Du verdienst sie nicht.

HENRIETTE. So erteile sie mir ohne mein Verdienst.

JULIANE. Du wirst mich böse machen.[521]

HENRIETTE. Und ich, – – ich bin es schon. Aber denke nur nicht, daß ich es über dich bin. Ich bin es über niemanden, als über den Adrast. Und was mich unversöhnlich gegen ihn macht, ist dieses, daß meine Schwester seinetwegen gegen mich ungerecht werden muß.

JULIANE. Von welcher Schwester sprichst du?

HENRIETTE. Von welcher? – – von der, die ich gehabt habe.

JULIANE. Habe ich dich jemals so empfindlich gesehen! – Du weißt es, Lisette, was ich gesagt habe.

LISETTE. Ja, das weiß ich; und es war wirklich weiter nichts, als eine unschuldige Lobrede auf den Adrast, an der ich nur das auszusetzen hatte, daß sie Mamsell Henrietten eifersüchtig machen mußte.

JULIANE. Eine Lobrede auf Adrasten?

HENRIETTE. Mich eifersüchtig?

LISETTE. Nicht so stürmisch! – – So gehts den Leuten, die mit der Wahrheit gerade durch wollen: sie machen es niemanden recht.

HENRIETTE. Mich eifersüchtig? Auf Adrasten eifersüchtig? Ich werde, von heute an, den Himmel um nichts inbrünstiger anflehen, als um die Errettung aus den Händen dieses Mannes.

JULIANE. Ich? eine Lobrede auf Adrasten? Ist das eine Lobrede, wenn ich sage, daß ein Mann einen Tag nicht wie den andern aufgeräumt sein kann? Wenn ich sage, daß Adrasten die Bitterkeit, worüber meine Schwester klagt, nicht natürlich ist, und daß sie ein zugestoßener Verdruß bei ihm müsse erregt haben? Wenn ich sage, daß ein Mann, wie er, der sich mit finsterm Nachdenken vielleicht nur zu sehr beschäftiget – –


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 521-522.
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