Fünfter Auftritt


[754] Jungfer Ohldin, Lisette, Herr Kräusel und der Schneider.


LISETTE. Jungfer, hier bringe ich Ihnen zwei Leute, nach denen Sie geschickt haben. Der Herr Schneider, und der Herr Poete.

JUNGFER OHLDIN zum Poeten. Willkommen Meister Schneider! Zum Schneider. Gedulden Sie sich einen Augenblick, mein lieber Herr Poete, ich will nur erstlich ihn abfertigen.

HERR KRÄUSEL. Was? mich einen Schneider zu heißen? Was denken Sie? Himmel, welcher Schimpf! Einen gekrönten Poeten für einen Schneider anzusehn?

DER SCHNEIDER. Und was? Einen ehrlichen Bürger und Meister für einen Poeten anzusehn? Für so einen Müßiggänger? Halten Sie das für keine Injurie?

LISETTE. Sachte, ihr Leutgen, sachte. Sie kennt euch noch nicht.

HERR KRÄUSEL. Ei was? Ich ein Schneider?

DER SCHNEIDER. Was, ich ein Poete?

HERR KRÄUSEL. Lassen Sie sich das Gedicht von ihm machen, wenn er kann. Adieu.[754]

DER SCHNEIDER. Lassen Sie sich die Kleider von ihm machen, wenn er kann. Adieu.

LISETTE. Warten Sie doch. Wer wird sich um ein Versehn gleich so ärgern. Sie sind beide ehrliche rechtschaffene Leute, die man nicht entbehren kann.

HERR KRÄUSEL. Einen Mann, der Tag und Nacht mit den göttlichen Musen umgeht, einen Schneider zu heißen? Das ist unerträglich! Lassen Sie mich fort. Geht ab.

DER SCHNEIDER. Ein Mann, der wohl fürstliche Personen gekleidet hat, soll sich einen Poeten schimpfen lassen? Ich versteh meine Profession. Es wird mir niemand was Übels nachzusagen haben. Und ich will den Schimpf gewiß auch nicht leiden. Wir wollens schon sehen; wir wollens schon sehn. Geht ab.


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 754-755.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die alte Jungfer
Sämmtliche Schriften: Miss Sara Sampson.-Philotas.-Emilia Galotti.-Nathan Der Weise.-Damon; Oder, Die Wahre Freundschaft.-Die Alte Jungfer.-Theatralischer Nachlass (German Edition)