Erster Auftritt

[85] Das Zimmer der Sara.

Sara schwach in einem Lehnstuhle. Betty.


BETTY. Fühlen Sie nicht, Miß, daß Ihnen ein wenig besser wird?

SARA. Besser, Betty? – Wenn nur Mellefont wieder kommen wollte. Du hast doch nach ihm ausgeschickt?

BETTY. Norton und der Wirt suchen ihn.

SARA. Norton ist ein guter Mensch, aber er ist hastig. Ich will durchaus nicht, daß er seinem Herrn meinetwegen Grobheiten sagen soll. Wie er es selbst erzählte, so ist Mellefont ja an allem unschuldig. – Nicht wahr, Betty, du hältst ihn auch für unschuldig? – Sie kömmt ihm nach; was kann er dafür? Sie tobt, sie raset, sie will ihn ermorden. Siehst du, Betty? dieser Gefahr habe ich ihn ausgesetzt. Wer sonst als ich? – Und endlich will die böse Marwood mich sehen, oder nicht eher nach London zurückkehren. Konnte er ihr diese Kleinigkeit abschlagen? Bin ich doch auch oft begierig gewesen, die Marwood zu sehen. Mellefont weiß wohl, daß wir neugierige Geschöpfe sind. Und wenn ich nicht selbst darauf gedrungen hätte, daß sie bis zu seiner Zurückkunft bei mir verziehen sollte, so würde er sie wieder mit weggenommen haben. Ich würde sie unter einem falschen Namen gesehen haben, ohne zu wissen, daß ich sie gesehen hätte. Und vielleicht würde mir dieser kleine Betrug einmal angenehm gewesen sein. Kurz, alle Schuld ist mein. – Je nun, ich bin erschrocken; weiter bin ich ja nichts? Die kleine Ohnmacht wollte nicht viel sagen. Du weißt wohl, Betty, ich bin dazu geneigt.[85]

BETTY. Aber in so tiefer hatte ich Miß noch nie gesehen.

SARA. Sage es mir nur nicht. Ich werde dir gutherzigen Mädchen freilich zu schaffen gemacht haben.

BETTY. Marwood selbst schien durch die Gefahr, in der Sie sich befanden, gerühret zu sein. So stark ich ihr auch anlag, daß sie sich nur fortbegeben möchte, so wollte sie doch das Zimmer nicht eher verlassen, als bis Sie die Augen ein wenig wieder aufschlugen, und ich Ihnen die Arzenei einflößen konnte.

SARA. Ich muß es wohl gar für ein Glück halten, daß ich in Ohnmacht gefallen bin. Denn wer weiß, was ich noch von ihr hätte hören müssen. Umsonst mochte sie mir gewiß nicht in mein Zimmer gefolgt sein. Du glaubst nicht, wie außer mir ich war. Auf einmal fiel mir der schreckliche Traum von voriger Nacht ein, und ich flohe als eine Unsinnige, die nicht weiß warum, und wohin sie flieht. – Aber Mellefont kömmt noch nicht. – Ach! –

BETTY. Was für ein Ach, Miß? Was für Zuckungen? –

SARA. Gott! was für eine Empfindung war dieses – –

BETTY. Was stößt Ihnen wieder zu?

SARA. Nichts, Betty. – Ein Stich! nicht Ein Stich, tausend feurige Stiche in einem! – Sei nur ruhig; es ist vorbei.


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 85-86.
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