Neunter Auftritt

[95] Sir William Sampson. Sara. Waitwell.


SIR WILLIAM. Du bleibst mir viel zu lange, Waitwell. Ich muß sie sehen.

SARA. Wessen Stimme – –

SIR WILLIAM. Ach, meine Tochter!

SARA. Ach, mein Vater! – Hilf mir auf, Waitwell, hilf mir auf, daß ich mich zu seinen Füßen werfen kann. Sie will aufstehen, und fällt aus Schwachheit in den Lehnstuhl zurück. Er ist es doch? Oder ist es eine erquickende Erscheinung, vom Himmel gesandt, gleich jenem Engel, der den Starken zu stärken kam? – Segne mich, wer du auch seist, ein Bote des Höchsten, in der Gestalt meines Vaters, oder selbst mein Vater!

SIR WILLIAM. Gott segne dich, meine Tochter! – Bleib ruhig. Indem sie es nochmals versuchen will, vor ihm niederzufallen. Ein andermal, bei mehrern Kräften, will ich dich nicht ungern mein zitterndes Knie umfassen sehen.

SARA. Jetzt, mein Vater, oder niemals. Bald werde ich nicht mehr sein! Zu glücklich, wenn ich noch einige Augenblicke gewinne, Ihnen die Empfindungen meines Herzens zu entdecken. Doch nicht Augenblicke, lange Tage, ein nochmaliges Leben würde erfodert, alles zu sagen, was eine schuldige, eine reuende, eine gestrafte Tochter, einem beleidigten, einem großmütigen, einem zärtlichen Vater sagen kann. Mein Fehler, Ihre Vergebung – –

SIR WILLIAM. Mache dir aus einer Schwachheit keinen Vorwurf, und mir aus einer Schuldigkeit kein Verdienst. Wenn du mich an mein Vergeben erinnerst, so erinnerst du mich auch daran, daß ich damit gezaudert habe. Warum vergab ich dir nicht gleich? Warum setzte ich dich in die Notwendigkeit, mich zu fliehen? Und noch heute, da ich dir schon vergeben hatte, was zwang mich, erst eine Antwort von dir zu erwarten? Itzt könnte ich dich schon einen Tag wieder genossen haben, wenn ich sogleich deinen Umarmungen zugeeilet wäre. Ein heimlicher Unwille mußte in einer der verborgensten Falten des betrognen Herzens zurückgeblieben sein, daß ich vorher[95] deiner fortdauernden Liebe gewiß sein wollte, ehe ich dir die meinige wiederschenkte. Soll ein Vater so eigennützig handeln? Sollen wir nur die lieben, die uns lieben? Tadle mich, liebste Sara, tadle mich; ich sahe mehr auf meine Freude an dir, als auf dich selbst. – Und wenn ich sie verlieren sollte, diese Freude? – Aber wer sagt es denn, daß ich sie verlieren soll? Du wirst leben; du wirst noch lange leben! Entschlage dich aller schwarzen Gedanken. Mellefont macht die Gefahr größer als sie ist. Er brachte das ganze Haus in Aufruhr, und eilte selbst Ärzte aufzusuchen, die er in diesem armseligen Flecken vielleicht nicht finden wird. Ich sahe seine stürmische Angst, seine hoffnungslose Betrübnis, ohne von ihm gesehen zu werden. Nun weiß ich es, daß er dich aufrichtig liebet; nun gönne ich dich ihm. Hier will ich ihn erwarten, und deine Hand in seine Hand legen. Was ich sonst nur gedrungen getan hätte, tue ich nun gern, da ich sehe, wie teuer du ihm bist. – Ist es wahr, daß es Marwood selbst gewesen ist, die dir dieses Schrecken verursacht hat? So viel habe ich aus den Klagen deiner Betty verstehen können, und mehr nicht. – Doch was forsche ich nach den Ursachen deiner Unbäßlichkeit, da ich nur auf die Mittel, ihr abzuhelfen, bedacht sein sollte. Ich sehe, du wirst von Augenblicke zu Augenblick schwächer, ich seh es, und bleibe hülflos stehen. Was soll ich tun, Waitwell? Wohin soll ich laufen? Was soll ich daran wenden? mein Vermögen? mein Leben? Sage doch!

SARA. Bester Vater, alle Hülfe würde vergebens sein. Auch die unschätzbarste würde vergebens sein, die Sie mit Ihrem Leben für mich erkaufen wollten.


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 95-96.
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