Fünfundzwanzigstes Kapitel

[407] Mein Aufenthalt in Interlaken und mein Beisammensein mit Therese währten nur vierzehn Tage. Der Sommer war naß, die Luft im Thale sehr schwül, ich konnte sie nicht wohl vertragen, fühlte mich abgespannt und unwohl, und obschon Therese Alles that, mich herzustellen, trieb mein richtiges Verlangen nach frischerer, bewegterer Luft mich zum Scheiden.

Ich war auch kaum an den Genfer See gekommen, als ich mich wie neugeboren fand; und diesen ersten Aufenthalt in Vevay rechne ich zu den sanftesten Tagen, die ich bis dahin erlebt hatte.

Ich hatte eine Wohnung in einem Privathause gemiethet, dessen Zimmer auf eine am See hochgelegene Terrasse hinausgingen. Das Essen brachte man uns aus einem Speisehause, und so sah ich denn, da ich Niemand in Vevay kannte, durch die vierzehn Tage, welche wir dort verweilten, keinen Menschen, als meine Reisegefährtin.

Gleich an dem ersten Abende, an dem ich meinen Koffer auspackte und meine Sachen in einen der Wandschränke einräumte, entdeckte ich in einer Ecke desselben ein paar Bücher, welche dort lange gelegen haben mochten,[407] denn sie waren ganz mit Staub bedeckt. Es war die Neue Heloise und der Contrat social.

Ich kannte Rousseau noch nicht und es gewährte mir ein großes Vergnügen, ihn auf dem Boden kennen zu lernen, auf den er seine Dichtung verlegt hat, ihn in der Stille jener Tage in mich aufzunehmen.

Der Zeitpunkt konnte gar nicht günstiger sein. Das Leben der Menschen hat, wie die Natur, seine Windstillen, und in einer solchen befand ich mich. Was mich in meiner Jugend und in meinen häuslichen und Familien-Verhältnissen gedrückt hat, lag für den Augenblick weit hinter mir. Ich hatte keine Sorge um die Meinen. Es ging in meinem Vaterhause Alles wohl, meine Geschwister, die nicht mehr in demselben lebten, schritten mit ihren Unternehmungen vorwärts, selbst von meinem jüngern Bruder hatten wir Nachrichten, welche eine gute Zukunft für ihn in Aussicht stellten.

Die Reise durch das südliche Rußland, der Besuch von Odessa, die Tour durch die Steppe hatten ihn zerstreut, und die Natur des vollen Südens, deren Anblick sich ihm in Tiflis zum ersten Male darbot, hatte ihn so entzückt, daß er dort zu verweilen beschloß. Dabei hatte er die klimatischen Verhältnisse und Krankheiten der Gegend kennen lernen, und war nach kurzem Aufenthalte in derselben auf den Gedanken gerathen, in Gemeinschaft mit einem andern deutschen Arzte, den er in Tiflis schon ansässig, aber ohne Praxis gefunden, eine Poliklinik zu errichten, welche bald eine bedeutende Kundschaft gewann und auch einen reichlichen Geldertrag abwarf. Thätigkeit, Freiheit des Handelns und Erfolg, das waren aber die rechten Mittel zur Heilung für den Bruder; und bald[408] hatten wir die Genugthuung, es zu bemerken, wie über den Wunden seines Herzens und über den Erinnerungen, die er nicht vergaß, doch wieder neuer Lebensmuth und neue Hoffnungen in ihm emporwuchsen.

Aehnlich sah es in meinem eigenen Herzen aus. Ich war mir all des Guten bewußt, das mein Leben mir darbot und hatte eben jetzt der köstlichsten Erwerbungen gar viele gehabt.

Ich hatte eine Reihe bedeutender Menschen kennen lernen und ihren Antheil an mir gefühlt; ich hatte einsam mit einem Führer auf der Wengeralp gestanden, wo wir die Lawinen von dem Gipfel der Jungfrau herabrollen und mit dumpfem Donner zerschellen hörten, und hatte auf dem mer de glace die riesigen Felsenmassen des Montblanc sich über und vor mir erheben sehen. Die Erhabenheit der Alpenwelt hatte mir die Seele erweitert, das schweigende Alleinsein in der Natur mir das Herz still gemacht; und zu alle diesen unschätzbaren Erwerbnissen hatte ich noch eine Freundin gewonnen, an die zu denken und auf deren Wiedersehen zu hoffen mir ein Genuß war.

Ich dachte mit völlig freiem Herzen und doch mit liebender Neigung an meinen Vetter zurück, ich wußte, daß Italien mit all seiner Herrlichkeit meiner wartete, und hinschauend auf die sonnenbeschienenen, blauen Fluthen des schönen Genfer Sees, hinüberschauend nach Clarens, und mit dem Auge die Plätze suchend, an denen Saint Preux und Julie ihr heißes Liebesleben gelebt, las ich in seelenruhigen, betrachtendem Genießen Rousseau's Schilderungen der Liebe und ihrer Freuden und Schmerzen,[409] als hätte ich sie nicht selbst bereits gefühlt, als könnte ich sie niemals mehr empfinden.

Man ist sehr weise, sehr altklug, sehr behaglich und sehr wohl mit sich zufrieden in solchen Zeiten der Windstille; aber man müßte älter sein, als ich es damals war, um ihnen eine ewige Dauer zu wünschen, um sie nicht, wie der Seemann auf dem Meere, gelegentlich als ein Unglück zu betrachten, und sich nach dem frischen belebenden Winde zu sehnen, in welchem das Schiff mit vollen Segeln hoch emporgehoben von den Wellen, und von ihrer Höhe tief hinabgeschleudert, siegreich kämpfend durch die lebendigen Fluthen des Weltmeeres zieht.

Auch hielt ich das bloße, stille Lesen nicht lange aus. Ich hatte Niemand neben mir, gegen den ich hätte aussprechen können, was mich bewegte. Ich fing an, den Meinen zu schreiben, indeß die Heloise und der Contrat social regten mich mächtig auf, und was sollte es den Meinen frommen, die zu Hause ruhig bei einander saßen, wenn ich vor ihnen eine Erregung kund gab, die sie sich nicht zu deuten im Stande gewesen wären. Ich zerriß die Briefe also, und doch hatte ich das Bedürfniß, mich auszusprechen, mich aufzuklären.

Eines Abends, als eine Menge von Gedanken und Empfindungen sich in solcher Weise unruhig in mir kreuzten, setzte ich mich dann nieder, und fing »Liebesbriefe«, einen kleinen Roman, zu schreiben an. Meine Reise durch das Oberland, meine Wohnung in Interlaken boten einen Theil der Scenerie, und meine alte Idee, einmal einen Roman zu componiren, dessen Held jeder äußern Thätigkeit beraubt war, dessen Wirkung also einzig und allein auf[410] das innere Erleben begründet werden mußte, gelangte darin zur Ausführung.

Es wurden jedoch in Vevay nur einige Kapitel oder Briefe des Romans fertig. Ich hatte mir den Sinn wieder hell und frei schreiben wollen, und das Heft blieb durch eine geraume Zeit liegen, wie es eben war. Erst später, als die polnische Emeute des Jahres sechsundvierzig eine Anzahl junger Polen in die Gefangenschaft gebracht hatte, kam mir mit dem Gedanken an ihr Loos der in Vevay begonnene Roman, dessen Held ein Gefangener war, wieder in das Gedächtniß, und erhielt dann nach einer Umarbeitung des früher geschriebenen Anfanges die Gestalt, in welcher er der Oeffentlichkeit übergeben wurde. In Italien habe ich gar nicht gearbeitet, und während eines ganzen Jahres, mit Ausnahme von Familienbriefen und Briefen an meine Freunde, keinen Federstrich, nicht einmal ein Tage- oder Notizbuch für mich geführt.

Mein Vater hatte sich von mir das Versprechen geben lassen, daß ich nicht während der heißen Jahreszeit nach Italien gehen würde. Ich blieb also durch die ganze zweite Hälfte des August in Vevay, das ich seitdem nicht wieder gesehen habe, und das mir noch heute als ein Ort des süßen Friedens in allem Zauber sommerlicher Wärme vor Augen steht. Mich dünkt solches mittägige Naturleben, wie in dem Garten auf meiner Terrasse am Genfersee, habe ich, außer auf den luftigen Höhen von Ischia nie wiedergefunden, und ich habe seitdem eine Vorliebe für den hohen Mittag, für diese kurze Blüthenstunde des Tages bewahrt.

Es ist etwas Bezauberndes in der Fülle von Licht und Wärme, etwas Wundervolles um die Luftstille,[411] welche dem Mittag im Sommer zu eignen pflegt, die helle Schattenlosigkeit hat etwas Magisches. Alles ist in höchstem Genießen versenkt, ruhend und seine Schönheit still entfaltend. Die Blumen duften alle stärker und breiten die ganze Pracht ihrer Blätter, die ganze Herrlichkeit ihrer Farben aus, während die Sonne tief bis in ihre Kelche eindringt. Die Schmetterlinge wiegen sich mit leise bewegtem Flügel, die Bienen summen durch die Luft und fliegen und sinken von einer Blume zu der andern nieder, und die Ranken und Aeste und Zweige und Blätter heben und neigen sich linde, als wollten sie durch die sanfte Bewegung den Sonnenstrahlen entgegenkommen, um noch mehr von ihrer segenbringenden Kraft zu genießen. Man meint es sehen zu können, wie Alles wächst, wie der Apfel sich färbt, wie in der warmen Traube die feurige Kraft des Weines sich entwickelt, man fühlt sich selber wie in seinem eigentlichen Elemente. Von frisch glänzendem Rasen durch Baumesgrün, zum sonnendurchleuchteten Himmelsblau emporzuschauen, ist eine unvergleichliche Lust. Es liegt etwas so Herzerschließendes, etwas selig Berauschendes in dem Mittag. Wenn Gott die Erde erschaffen, so hat er sicherlich den ersten Menschen am hohen Mittag die Augen öffnen lassen, damit er es gleich mit einem Male erfahre, was die Erde ihm zu bieten habe, und wie herrlich und schön die Welt sei.

Abends wenn die Kühlung kam, wanderten wir hinaus durch die Rue du lac, in welcher wir wohnten, nach dem Hafenplatze. Es saßen dort Obstverkäuferinnen, welche Pfirsiche und Aprikosen, Trauben und Feigen in Fülle feil hielten. Ich sah die Früchte immer mit Entzücken[412] vor mir; sie waren mir Bilder des Südens, und ein Zeichen, wie nahe ich ihm sei.

Dann wieder gingen wir die Rue du Simplon entlang, und das Gefühl der bald zu befriedigenden Erwartung beseeligte mich förmlich.

Mit jedem Tage wurde ich heiterer. Ich konnte mich kaum noch der Muthlosigkeit erinnern, welche ich bei meiner Abreise von Berlin empfunden hatte, auch die ruhige Stimmung, welche ich Anfangs in Vevay in mir getragen, fing an der Freude zu weichen. Ich zählte die Tage, welche noch bis zu meiner Abreise vergehen mußten. Ich wanderte an jedem Abende eine Strecke weiter auf der Simplonstraße vorwärts, und sah nach den beschneiten Berggipfeln hinüber, und suchte die Berge des Wallis, durch welche mein Weg mich führen sollte.

Und als nun der Tag gekommen war, als wir das Dampfschiff verließen, um in Ville neuve die Schnellpost zu besteigen, welche uns über den Simplon nach Italien tragen sollte, da klopfte mir das Herz vor Freude. Aber es war nicht mehr die unruhige Lust, welche ich ein Jahr vorher empfunden, als ich zum ersten Male allein und aus eigenen Mitteln den Ausflug durch Böhmen angetreten hatte, nicht mehr jenes Jubeln über die errungene Freiheit, in dessen Aufjauchzen sich noch die schmerzende Erinnerung an die Sclaverei verbirgt. Die Hast, die Aufregung des Emporkömmlings waren von mir genommen, ich hatte mir nicht mehr die Anstrengung zuzumuthen, welche in jeder geflissentlichen Behauptung einer bestimmten Stellung liegt. Ich war meiner Freiheit, meiner Verhältnisse, meiner selbst Herr geworden, und damit erst recht fähig, sie zu benutzen und zu genießen.[413]

Wir brauchten zwei ganze Tage für den Uebergang über den Simplon, aber diese Passage ist weitaus die schönste, die ich kenne, und würde die Mühe der Reise belohnen, auch wenn man an ihrem Ende umkehren und Italien nicht sehen sollte.

Am Abend des zweiten Tages langten wir am Fuße des Simplon, in Domo d'Ossola an. Wir sollten dort übernachten; ich konnte jedoch dem Verlangen nicht widerstehen, schon diesen Abend den Boden Italiens zu betreten. Ein leichter offener Einspänner war bald gefunden. Man lud unsere Koffer auf, wir stiegen ein, und im sinkenden Sonnenlichte fuhren wir in das Thal hinunter.

Maulbeerbäume, Maisfelder, Weingärten und blühende Hanffelder umgaben uns von allen Seiten, die ganze Luft war von einem mir fremden Arom gefüllt. Als der Fuhrmann einmal Halt machte, und wir ausstiegen, pflückte ich eine Handvoll Kräuter, Thimian, Winden und Klee, die am Rand des Weges wuchsen, sie dufteten anders, stärker, süßer als in meiner Heimath, und der ungewohnte, volle Geruch bewegte mir das Herz.

Frauen, die an uns vorübergingen, trugen auf den Köpfen Weinranken und Maisblätter in großen Körben oder Bündeln zum Futter für die Thiere heim, ein Kapuziner ritt auf einem Esel durch das Land, an einer Gartenmauer saß ein Weltgeistlicher, um den ein paar Frauen und Kinder sich versammelt hatten; und als die Dunkelheit angebrochen war, läutete es von verschiedenen Punkten das Ave Maria durch das Thal.

Ich war in Italien.

Mit dem Sonnenuntergange zogen sich Wolken zusammen,[414] die Luft wurde schwül, der Weg war länger, als wir erwartet, der Fuhrmann fuhr langsamer, als er verheißen hatte, und es wurde völlig Nacht, während wir uns noch auf dem Wege befanden. Finsteres Gewölk hing über unsern Häuptern, hier und da zuckte ein Blitz auf. Wie im Fluge gewann man dann einen Blick auf das Wasser des Lago maggiore, der eben so schnell dem Auge in der Dunkelheit wieder verschwand.

Als wir in Baveno anlangten, war es spät. Wir stiegen die steinernen Treppen des Hauses empor, man geleitete mich in mein Zimmer, der Fußboden bestand aus rothem Ziegelstein, über den man Strohmatten gedeckt hatte. Die Einrichtung des Raumes war mir eine fremde. Zwei Thüren führten auf einen Balkon hinaus, der Kellner öffnete sie, draußen herrschte tiefes Dunkel. Nur das leise Rauschen des See's war zu vernehmen, und jener fremde, wundersame Duft strömte wieder durch die geöffneten Thüren in das Gemach.

Ich trat auf den Balkon hinaus, ich konnte von der Gegend Nichts erkennen. In schweigendem Sinnen schaute ich durch die Nacht. – Was wird das Jahr mir bringen, das ich auf diesem Boden zu verleben denke? fragte ich mich unwillkürlich.

Und was ich mir auch vorstellen mochte, ich konnte nicht ahnen, nicht hoffen, daß es mir mit der höchsten Liebe die Erfüllung aller meiner Wünsche, daß es mir das Glück meines Lebens bringen würde.

Große schwere Tropfen fielen einzeln vom Himmel herab, der Wind stand auf. Das Gewitter kam empor, die fliegenden Blitze zerrissen das Dunkel, der Donner hallte in langem Rollen über das Wasser. Mit dem[415] Sturme brauste der See um die Wette, schmetternder Regen fiel herab. Das währte eine Stunde und darüber, dann ward es still; und müde und sanft bewegt legte ich mich zur Ruhe nieder.

Am Morgen strahlte mir der See, strahlte mir Italien in seiner blendenden, sinnberauschenden Herrlichkeit entgegen. Unwillkürlich fielen mir die Worte ein, mit denen Fouqué seinen Zauberring beginnt, und die seit meiner frühesten Kindheit einen großen, geheimnißvollen Reiz für mich gehabt hatten:


Man geht durch Nacht in Sonne,

Man geht durch Graus in Wonne,

Durch Tod zu Leben ein.


Diese Worte hatten etwas Prophetisches, etwas Symbolisches für mich in dieser Stunde.

Italien umfing mich, Italien nahm mich in seinen Zauberring auf, und wie jene ritterlichen Pilger, die zum heiligen Grabe wallen, sollte ich in Italien durch Nacht zu Sonne, durch Schmerz zu Wonne, durch Tod zu neuem beglückendem Leben eingehen![416]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 407-417.
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