Dreizehntes Kapitel

[216] Ein alter Vers sagt: »Ist am größten die Noth, ist Gott am nächsten der Demuth!« und ohne zu erörtern, in wie weit das letzte Prädikat in jener Zeit auf mich passen mochte, kamen mir damals, nach christlichen Begriffen, ein Trost und eine Quelle der Hoffnung recht eigentlich vom Himmel; denn sie wurden mir durch eine Todte, durch Rahel Varnhagen von Ense zu Theil, die im Jahre achtzehnhundert zweiunddreißig gestorben war, und deren Briefe, in ihrer ersten, für Freunde gedruckten Ausgabe, ich etwa zu Ende des Jahres vierunddreißig kennen lernte.

Es waren eine Offenbarung und eine Erlösung, die sich für mich durch die hinterlassenen Briefe dieser Frau vollzogen. Was den Menschen am tiefsten niederwirft, das ist die Vorstellung: ein Besonderes zu erleiden. Das gilt von allen Menschen und von allen Arten von Leid; denn der Mensch ist ein Gesellschaftswesen. Was er von Andern ertragen sieht, erträgt er leichter. Der Schrecken, der Verlust, den er mit Andern zu theilen hat, verlieren bis zu einem gewissen Grade ihre lähmende Gewalt und ihr niederwerfendes Gewicht für ihn. Große, allgemeine Leidenszeiten, wie die Epochen der Pest, wie die französische[216] Schreckensherrschaft im vorigen Jahrhundert, und wie Kriegszeiten überhaupt, beweisen und bestätigen diese Erfahrung.

Was mir auch begegnet war, was ich Unbequemes, Peinliches, Schmerzliches zu ertragen und zu erleiden gehabt hatte, Rahel Levin hatte das Alles gekannt, hatte das Alles durchgemacht, hatte über Alles mit der ihr innewohnenden Kraft den Sieg davon getragen, und sich endlich an den Platz hinzustellen gewußt, an dem sie gefunden, was sie ersehnt: die Möglichkeit zu genießen und zu leisten nach dem eingebornen Bedürfniß ihrer Natur. Alles konnte ich ihr nachempfinden, bis in die kleinsten Züge ihres Wesens, bis in die verborgensten Falten ihrer Seele konnte ich ihr nachdenken, und überall fast hätte ich sagen mögen: das ist Fleisch von meinem Fleische, das ist Blut von meinem Blute. In jedem ihrer Jugendbriefe fand ich sie wieder, die Schilderung eines würdigen, liebevollen Familienlebens, das doch unter Umständen grade für den Einzelnen, durch dessen besondere Anlagen und Neigungen zu einer hemmenden Schranke, und allmählig zu einer Quelle von Leiden werden kann; Kränkungen, Herzeleid, Liebesschmerzen, den Drang nach freier Entwicklung, sie hatte das Alles gekannt, Alles durchlebt, Alles bestanden und überwunden durch das Festhalten an sich selbst und an der Wahrheit.

Wie durch meine erste Jugend mir der Denkspruch, welchen mein Lehrer Motherby mir in mein Stammbuch geschrieben, zu einem Compaß geworden war, mit welchem ich mich zurecht fand, wenn Etwas mich verwirrte, so traten jetzt einzelne Aussprüche von Rahel an dessen[217] Stelle. In manchen Herzensbedrängnissen, in mancher Verlegenheit und Pein haben mich die Worte aufgerichtet: »Ich habe mich in der großen allgemeinen Weltnoth einem Gotte gewidmet; und so oft ich noch gerettet worden bin, so ist's der, der mich gerettet hat, die Wahrheit!« – Wenn ich, von den Vorurtheilen meiner Umgangsgenossen eingeengt, nicht wußte, ob das was mein Gefühl mich zu thun antrieb, mit den allgemeinen Schicklichkeitsregeln in Einklang zu bringen sei, und ob Diese und Jene sich herausnehmen würden, was mir unerläßlich dünkte, hielt ich mir Rahel's Ausspruch vor: »Damit ein schlechtes Mädchen nicht dumm handeln kann, soll ein gutes eingeschränkt sein! Bewundern Sie die Institution, wenn Sie können.« – Kurz überall, wo ich einer Stütze bedurfte, wo mir eine Ermuthigung fehlte, fand ich sie an ihr. Es war, bei der großen Liebesfähigkeit ihres Herzens, etwas Männliches, Festes, Dreistes in ihrem Geiste, das mir in hohem Grade sympatisch war, und sie hatte eine Beharrlichkeit und eine Unermüdlichkeit im Aufrechterhalten ihrer Ueberzeugungen, die mir Ehrfurcht einflößten. Ich fand an ihr den Meister, der mir Muth zum Ertragen und zum Handeln, der mir Ausdauer im Lieben und im Wollen, und Selbstverläugnung predigte, wo diese einem Andern frommen konnte. Und wie der Gläubige die Bibel aufschlägt, um sich Rath und Trost und Beruhigung aus ihr zu schöpfen, so griff ich zu den Briefen Rahel's, und fand mich immer mir selbst und einer relativen Ruhe und Zufriedenheit wiedergegeben, wenn ich mich in den Lebenslauf und in das Sein und Wesen dieser merkwürdigen Frau vertieft hatte, die nicht[218] persönlich kennen gelernt, und zwar aus Verzagtheit nicht kennen gelernt zu haben, ich jetzt ungemein bedauerte.

Neben diesem unsichtbaren und verschwiegenen Tröster war mir aber auch der Umgang mit unserm Hausgenossen Crelinger zu einer großen Förderung und zu einem dauernden Gewinn geworden. Er hatte sich mehr und mehr an uns angeschlossen, und als er etwa ein Jahr in unserm Hause wohnte, besaßen wir Alle, und Jeder von uns im Besondern einen Freund an ihm, wie wir nie vorher einen gehabt, und wie man ihn überhaupt nur selten findet; denn er hatte eben so viel Verstand als Güte, eben so viel Scharfblick als Nachsicht und Geduld, und er hatte einen Genuß daran, Andern Freude zu bereiten. Mit feinem Sinne errieth er Alles, wo er Freundschaft für Jemand hegte. Er fragte nie, wovon oder wodurch man gequält werde, weshalb man leide? Er wußte es immer und half, ohne daß er seine Hülfe fühlbar machte. Er verstand zu schweigen und zu sprechen, er konnte Stunden lang sich von seinen dringendsten Arbeiten entfernen, um ruhig neben einem Menschen zu sitzen, den er von einer Sorge oder von einem Schmerze gedrückt glaubte, und dem er die Möglichkeit bereiten wollte, sich in dem Augenblicke aussprechen zu können, wenn sein Bedürfniß ihn dazu antrieb. Wie kein Anderer vermochte er die Gedanken eines Bekümmerten von sich und seinen Widerwärtigkeiten abzuziehen, und neue Reihen von heiteren Vorstellungen den trüben Bildern und Gedanken unterzuschieben. Stets bereit jede Freude durch seine Theilnahme zu erhöhen, und jedes Leiden mitzutragen, machte er, wo er sich einmal hingab, wenig[219] Ansprüche für sich selbst, und war doch äußerst empfänglich, äußerst dankbar für jeden Beweis von Neigung und Anerkennung, den man ihm entgegenbrachte. Kurz, er war ein Virtuose im geselligen Verkehr und ein wahres Genie für die Freundschaft. Diese Art von Menschen werden aber immer seltner. Die Unruhe und Hastigkeit des jetzigen Lebens ist dem Ausleben der Empfindungen offenbar nicht günstig, und wenn es so fortgeht mit dem Drängen und Treiben der Noth und des Egoismus, wird bald die rechte Freundschaft kaum noch ihre volle Ausbildung unter uns gewinnen können.

Die Eltern und wir Kinder, Jeder fand, daß ihm irgend eine Ergänzung durch den »Rath« zu Theil wurde, und selbst als seine advokatische Praxis die bedeutendste der Stadt geworden war, und seine gesellschaftlichen Verbindungen sich durch alle Kreise der Gesellschaft weit über seine Wünsche ausgedehnt hatten, blieb unser Familienkreis sein eigentliches Centrum, und erhielt er sich die Zeit und die Freiheit für den innigsten Verkehr mit uns.

Er brachte, während der vier, fünf Jahre, die er bei uns wohnte, einen großen Theil seiner Abende mit uns zu, war unser Gast am Sonntag Mittag, und manche Dämmerungsstunde wurde mit uns verplaudert. Er besuchte die Mutter in ihrem Zimmer, saß oft lange in meinem und meiner Schwester Stübchen, er war im eigentlichen Sinne einer der Unsern, wie keiner unserer Verwandten es je gewesen war. Für mich hatte er, neben all' dem Guten und Bedeutenden, das ich an ihm zu schätzen wußte, den großen Vorzug, mit allen meinen Breslauer Verwandten bekannt zu sein, und vor allem[220] die beste Meinung von Heinrich Simon zu haben. Meine Geschwister waren, ohne diesen Letzteren zu kennen, gegen denselben eingenommen, weil sie mich leiden sahen, und ihm die Schuld davon aufbürdeten. Sie waren Alle jung und wußten nicht, wie leicht eines Mädchens Liebe sich auf einen bedeutenden Mann hinwendet, und wie schwer es für diesen ist, selbstlos und kalt zu bleiben, gegenüber einem warmen Herzen, das sich ihm entgegenbringt. Mit reiner Liebe geliebt zu werden ist ein solcher Genuß, hat etwas so Bezauberndes, daß es kaum ein Menschenwesen, weder Weib noch Mann geben dürfte, welches dabei nur an die künftigen möglichen Leiden des Liebenden, und nicht vielmehr an sein eignes gegenwärtiges Glück gedächte. Und ich möchte behaupten, daß Derjenige, welcher dieser selbstlosen Reflexion und Beherrschung fähig wäre, vor dem Geliebtwerden ziemlich sicher sein könnte.

Auch mir bewährte unser Hausfreund sein Talent zu trösten und zu beruhigen, in seiner eigenthümlichen Weise. Er sprach mit mir lange Zeit hindurch nie von mir selbst, er sprach nur von sich, sprach von Frauen und Mädchen, deren Schicksal er sich hatte entfalten sehen, er verwies mich darauf, daß mein Vetter eine bedeutende Zukunft haben werde, er machte mich diese Zukunft als die Hauptsache ansehen, und er wußte mir daneben so viel Neues zuzuführen, mein Interesse nach allen Bereichen des Lebens anzuregen und auszudehnen, daß ich mich nicht mehr so unbeschäftigt fühlte, weil ich in mir selbst mehr beschäftigt wurde.

Dabei hatte er eine große Freude an dem Schönen und am Luxus, und sobald seine günstigen Verhältnisse[221] es ihm gestatteten, sich diesem Zuge hinzugeben, nahmen auch wir daran auf unsere Weise Theil. Heute hatte er von einer Berliner Buchhandlung, die ihm regelmäßig Zusendungen zur Auswahl machte, Kupferwerke bekommen, die wir ansahen, morgen hatte er für Einen von uns einen Blumenstock, übermorgen für den Andern einen neuen Parfüm oder irgend eine andere kleine Gabe. Ganz unmerklich wurden wir ältern Schwestern dadurch an eine ganze Menge von neuen Bedürfnissen gewöhnt, und obschon beide Eltern sich dagegen entschieden auflehnten, und die einzelnen Geschenke immer nur von geringem Werthe sein durften, so brachten sie uns doch dahin, auf eine Eleganz zu halten, an die zu denken wir uns früher nicht erlaubt hatten. Meine schlechten Zeichnungen in meinem Stübchen machte allmählig einigen guten Lithographien nach bedeutenden Malerwerken Platz, ich bekam schönere Schreibgeräthe und damit die Lust, mir das dazu Fehlende von meinem reichlichen Taschengelde anzuschaffen, ich fing an viel Blumen zu ziehen, und mich überhaupt an kleinen Freuden ergötzen zu lernen. Darin liegt eine Resignation, aber eine schöne und segenbringende; denn wer sich nicht gewöhnt, in jedem Augenblicke das kleinste Gute, das sich ihm darbietet, anzuerkennen und zu genießen, der wird viel freudlose Zeiten in seinem Leben zählen. Große Befriedigungen, große Glücksfälle werden uns nur selten zu Theil, aber es giebt kaum einen Tag, der uns nicht etwas Gutes oder Angenehmes brächte, kaum einen Tag, an welchem uns nicht ein Unangenehmes, das uns begegnen konnte, erspart worden ist; und wer es erlernt, dies negative und jenes positive Gute zu[222] beachten und dankbar anzuerkennen, der hat am Ende jeder Woche doch meist Etwas, woran er sich zu halten und wofür er seinem Schicksal zu danken hat. Liebevolle Anerkennung des geringsten Erfreulichen ist ein sicheres Mittel zu beständiger Zufriedenheit.

Crelinger's Anwesenheit in Königsberg und in unserm Hause brachte uns aber, abgesehen von dem unschätzbaren Verkehr mit ihm, auch an seinen auswärtigen Freunden, wenn sie nach Preußen kamen, manche angenehme Bekanntschaft und manchen werthen Gast. Einer der ersten von diesen war Carl von Holtei, der im Frühjahr von achtzehnhundertsiebenunddreißig nach Preußen kam, als er sich anschickte, die Direktion des Rigaer Theaters zu übernehmen. Er war ein Vierziger von gefälligem Aeußern, obschon der erste Eindruck kein bedeutender war. Sein Wuchs war hoch, sein Haar hellbraun und glatt, die Augen blau, ziemlich erloschen und ohne festen Blick. Aber Nase und Mund waren, wenn gleich groß, so doch von edlem Schnitt, und die Hände schön und durchgebildet in der Bewegung. Den Schauspieler sah man ihm in Haltung und Erscheinung eben so wenig an, als den Edelmann. Er hatte eine Art sich gehen zu lassen, welche jenen beiden Ständen im Allgemeinen nicht zu eignen pflegt. Sein Behaben war schlicht im gewöhnlichen Verkehr, wurde er aber angeregt, so brach der Schwung des Lyrikers, des Poeten in seinem Wesen schnell hervor, und er hatte dann Feuer und Anmuth in gleichem Grade. Er sprach gut, und wie die meisten Menschen, welche diesen Vorzug besitzen, auch gern. Erzählte er von sich und seinen Erlebnissen, wozu er neigte, so wurde er[223] leicht gerührt und zu Thränen bewegt, konnte aber wenig Augenblicke danach nicht nur eine sehr heitere Anekdote, sondern so burschikose, so dreiste, ja zuweilen so cynische Scherze und Witze zum Vorschein bringen, daß man sich wundern mußte, wie diese Stimmungen bei ihm so nahe bei einander wohnen konnten. Mein Vater, welchem das Unschöne eben so fremd, als zuwider war, ertrug es auch von seinem Gaste nicht, und rief ihn, wenn dergleichen vorkam, mit dem Hinweis auf unsere Anwesenheit zur Ordnung, was Holtei sich gutmüthig gefallen ließ und auch gefallen lassen mußte.

Mein Vater hatte, grade als Holtei nach Königsberg kam, das Haus gekauft, das wir damals schon fünfzehn Jahre als Miether bewohnten. Er war ein Mann danach, sein Gefallen am Besitz von Haus und Hof zu haben, baute daneben gern, und war nun schnell mit allerlei Planen bei der Hand, welche sich jetzt, da man sicher war, in dem Hause zu verbleiben, viel berechtigter als vorher ausführen ließen. Der Mutter, welche ihre Jahre der Mühe und Entbehrung so standhaft getragen, machte es Freude, als Frau Stadträthin in dem großen, eigenen Eckhause am Fenster zu sitzen, und ich fühlte mich auch sehr geborgen, seit ich mir sagen konnte, daß unser Stübchen im Entresol, welches die Schwester und ich allmählig wie ein Schmuckkästchen aufgeputzt, und das, auf meine Bitte, bald seine sanfte grüne Farbe wiederbekommen hatte, mir nicht genommen werden könne. Diesen Hauskauf zu feiern, dessen Alle sich erfreuten, sollte eine große Gesellschaft gegeben werden, und Herr von Holtei, welcher schon öfter unser Gast gewesen war,[224] erbot sich sehr freundlich, zu der Feier dadurch beizutragen, daß er an dem Gesellschaftsabende in aller Form eine Vorlesung bei uns hielt.

Unsere sämmtlichen Freunde und Bekannten, einige von den Universitätslehrern und Vorgesetzten meiner Brüder waren bei uns versammelt. Holtei las den ersten Akt des Hamlet und danach den gestiefelten Kater, und erndtete den größten Beifall, ja er erregte Erstaunen neben der verdienten Anerkennung, denn die Mehrzahl seines Auditoriums hatte überhaupt noch keinen Vorleser gehört. Man war überrascht und befremdet zu gleicher Zeit. Man hatte mehr und weniger empfangen als eine Theatervorstellung bietet, man konnte sich nicht gleich Rechenschaft über den erhaltenen Eindruck geben, und so wenig meine Landsleute es lieben, hingerissen zu werden ohne sich es klar machen zu können, wodurch es geschieht, erlagen sie doch dem Zauber von Holtei's unvergleichlichem Humor.

Ich hingegen, so herzlich ich auch gelacht hatte, als Holtei im gestiefelten Kater sein: »Herr Leitner, helfen Sie mir mal den Herrn Schlosser binden!« ausgerufen, ich konnte mich doch an seine Weise nicht gleich gewöhnen. Ich hatte Karl Schall in Breslau lesen hören, dessen Vortragsweise von der Holtei'schen abweichend war, und wie jeder unfertige Mensch hing ich an der Autorität der ersten Eindrücke.

Schall war in den Fünfzigern gewesen, als ich ihn gesehen, und er bot das völlige Bild eines in den Charakter unseres Jahrhunderts übertragenen John Fallstaff. Seine Größe verschwand in seiner Stärke, seine kleinen[225] dunkeln Augen versteckten sich hinter den feisten Wangen, und er konnte komisch aussehen, wenn er, in seiner Behaglichkeit dasitzend, die kleinen fetten Hände, auf deren Schönheit er stolz war, mit sichtlicher Koketterie über dem Magen zur Schau gefaltet hielt. Trotz seiner fünfzig Jahre war er sehr bemüht den Frauen zu gefallen, und da die jungen Männer unserer Zeit ihm in diesen Bestrebungen nicht wesentlich hinderlich waren, so liebten die Frauen seine Gesellschaft. Wenn er sanft lächelnd, mit allem Bewußtsein eines Stutzers sagte: »Ich habe heute eine Einladung von der guten Frau von N. ausgeschlagen, um die liebe kleine A. zu besuchen und ihr nicht wieder défaut zu machen!« so lag darin so viel Freude über befriedigte Eitelkeit, so viel stille Verliebtheit und Zärtlichkeit, daß man sich denken konnte, wie man noch Vergnügen daran fand, ihm diese Genugthuung zu bereiten, und seine Huldigungen anzunehmen. Als ich ihn bei meinen Verwandten in dem Garten vor dem Thore zum erstenmale sah, standen die Georginen schon in voller Blüthe und Pracht. Er pflückte deren zwei große, eine hochrothe und eine goldgelbe, und bat so lange, bis ich sie mir, wenn auch mit Unbehagen, von ihm in dem Haar befestigen ließ. »Sehen Sie diese reizende Pomona!« rief er darauf mit großer Selbstzufriedenheit, während die Gesellschaft in herzliches Lachen ausbrach, weil ich, so widerwillig geschmückt, und Schall, mit solchem Vergnügen mich schmückend, ein komisches Bild ausmachten, das noch lange ein Gegenstand des Scherzes und der Neckereien blieb.

Wenn Schall jedoch las, war er gleich ein Anderer.[226] Seine dunkeln Augen sahen dann sehr klug und scharf aus, und er imponirte dann plötzlich. Ich hörte von ihm die Hauptscenen des Julius Cäsar und des Coriolan. Die Rede des Mark Anton, die wiederkehrenden Worte: »und Brutus ist ein ehrenwerther Mann«, das anklagende, mit schaudernder Rührung auf die Thatsache verweisende: »hier stieß der vielgeliebte Brutus durch!« habe ich nie wirksamer und siegreicher sprechen hören. Sein Lesen war sehr maß- und verständnißvoll; nur als er an einem andern Abende einen Schwank von sich, »den Knopf am Flausrock« zum Besten gab, übertrieb er nach allen Seiten, um die Wirkung des sehr unbedeutenden Scherzes zu erhöhen. Er steigerte Stimme und Ausdruck bis zur Karikatur, und machte das kleine ganz unbedeutende Stück damit erst recht zu nichte.

Im Allgemeinen hielt er sich bei klassischen Werken, mehr als Holtei es that, in den Grenzen des Vorlesens. Er streifte nur selten an die theatralische Deklamation und Mimik, welche an einem Sitzenden leicht komisch erscheinen, wenn sie lebhaft und leidenschaftlich werden. Er brauchte eben deshalb auch die starken Stimm-Modulationen nicht, und entging dadurch dem Uebelstande des Fistulirens in den Frauenrollen, deren Vortrag bei Holtei, wenn man an das Genre noch nicht gewöhnt war, hie und da zum Lachen reizte, wo er dasselbe zu erregen nicht beabsichtigt hatte. Dafür aber hatte Holtei sein, man möchte sagen, intuitives Erfassen der dichterischen Absicht in dem jedesmaligen Kunstwerk, und die Fähigkeit voraus, dem Hörer den Glauben zu geben, daß der Vorlesende selbst von dem Zauber beherrscht und hingerissen[227] sei, welchen er auf sein Publikum ausübte. Schall konnte, wie es mir erschien, durch sein Lesen sehr erfreuen, sehr viel verdeutlichen, aber der Hörer war im Stande, dabei immer seine eigene Ansicht fest zu halten. Holtei hingegen zwang, durch die ihm innewohnende dichterische Empfänglichkeit und plastische Kraft, sein Publikum, so lange es ihn hörte, zu seiner Ansicht, und ich meine nicht zu dessen Nachtheil; denn es ist mir, als ich später von ihm einen ganzen Cyklus Shakespeare'scher Stücke hörte, keine Rolle vorgekommen, die er vergriffen oder nicht zur klaren Anschauung gebracht hätte. Er selbst hielt den Sommernachtstraum und namentlich den Coriolan für dasjenige, was ihm am Besten gelinge, indeß, wenn bei einem Vorleser wie Holtei, von einem mehr oder weniger gut die Rede sein darf, so möchte ich behaupten, daß das Humoristische ihm noch zusagender war und seinem Talente noch vollkommener entsprach, als das Hochtragische und rein Heldenmäßige. Man mußte ihn bewundern, wenn er den Coriolan, den Hamlet las, aber als Falstaff, und in den Volksscenen mit lebhaftem Dialog leistete er das Unvergleichliche. Die große Beweglichkeit seines Geistes, die Flüssigkeit seines Organs, sein leichtes Mienenspiel kamen ihm dabei zu Statten, und es konnte nichts Ergötzlicheres geben, als ihn zum Beispiel den geschwätzigen Barbier von Holbein lesen zu hören. Während man sich von seiner sprudelnden Heiterkeit immer schneller und schneller fortgezogen fühlte, fragte man sich, ob es möglich sei, daß er sich in diesem schwindelerregenden Tempo halten könne, und hatte doch zugleich die Gewißheit, er werde als ein Virtuos der Sprache seine Aufgabe überwinden,[228] und Alles wohl zu Ende führen. Eine Sprachgeläufigkeit wie die seine, die in der größten Uebertreibung von Tempo und Rhythmus doch stets vollkommen deutlich und stets völlig Herr des geistigen Gehaltes und Ausdrucks blieb, habe ich an keinem andern Deutschen, sondern nur an Romanen, namentlich an Italienern in den Buffopartien wahrgenommen. Als ich mich erst an seine Vortragsmanier gewöhnt und ihre Vorzüge begriffen hatte, fand ich an seinem Vorlesen eines Shakespeare'schen Werkes fast immer weit mehr Genuß, als die Bühnendarstellung in der Regel zu gewähren im Stande ist. Denn die Vorlesung war das Produkt eines geistvollen, denkenden und poetischen Kopfes, Alles an ihr war Einheit und Zusammenklang, während auf der Bühne Unbildung und Mißverstand neben dem etwa vorhandenen Vollendeten hergehen, und seine Wirkung beeinträchtigen, ja, oftmals sie völlig zerstören.

Später, als ich Herrn von Holtei in den Jahren achtzehnhundertacht- und neunundvierzig in Hamburg wieder begegnete, fand ich ihn sehr verändert. Er hatte äußerlich mehr gealtert, als die Zahl der verflossenen Jahre es rechtfertigte, und war grau geworden. Dazu hatte die Revolution den streng monarchisch Gesinnten schwer betroffen und ihn sehr gebeugt, so daß ein Widerwille gegen Welt und Menschen sich seiner bemächtigt hatte, der sich bald in wehmüthigen Klagen, bald in schmerzlichem Lebensüberdrusse äußerte, und ihn ungerecht gegen die Zeit, ungerecht auch gegen sich selbst, gegen sein dichterisches Talent und gegen diejenigen seiner Arbeiten machte, die, wie die Leonore und seine Memoiren, ihn[229] und die Epoche, in welcher sie entstanden, überdauern werden. Nur auf Andringen seiner Bekannten ließ er sich überreden, in vertrauten Kreisen zu lesen; er sang auch noch seine kleinen Vaudevilles, aber er sang sie traurig, wie Einer, der sich selbst entfremdet ist, und sie rührten uns, während er uns erheitern wollte. Er kam mir wie eine Ruine vor, in deren altes Epheugerank sich Vögel vor dem Sturm geborgen, und trotz desselben erhalten hatten. Er hatte Nichts mehr gemein mit den heitern Tönen, welche aus seiner Brust erklangen. Freunde aber, die ihn neuerdings gesehen, haben ihn glücklicher Weise wieder erfrischt, beruhigt und als den Alten gefunden, und seine neuern Arbeiten sprechen dafür, daß ihm ein kräftiges Greisenalter beschieden, und seine Gebeugtheit nur eine vorübergehende gewesen ist. Es lebt eben jedes Geschöpf nur in seinem Elemente gesund und froh, und nicht Jeder ist dazu geschaffen, sich in stürmischer Bewegung zu behaupten und von ihr gehoben zu fühlen. Ausdauer ist die Sache des Blutes. Zum Manne der Revolution, wie zum Dichter, wird man geboren.[230]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 2, Berlin 1871, S. 216-231.
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