Zehntes Capitel

[119] Einsam und verdüstert ging der Freiherr in seinen Gemächern umher. Er hatte die weiten Räume sonst immer gern gehabt, heute waren sie ihm zuwider. Sie kamen ihm leer vor. Er begab sich nach dem Flügel, den seine Frau bewohnte; dort war noch Alles zugeschlossen. Er kehrte also wieder um, er wußte auch selbst kaum, was er dort gewollt. Im Vorübergehen trat er bei Renatus ein. Der Knabe war ganz von dem Wiedersehen seines Hundes hingenommen, hatte seine Spielgeräthschaften ausgekramt und achtete wenig auf den Vater. Der Freiherr verweilte nur kurze Zeit bei ihm und fand sich bald wieder in seinen Zimmern allein.

Es überfiel ihn eine marternde Unruhe. Sein Schloß schien ihm wie ausgestorben. Er hatte geglaubt, allen Zusammenhang mit der Baronin verloren zu haben, jetzt fehlte ihm die unsichtbare Fürsorge, mit der sie ihn umgab, ohne daß er ihr Eingreifen und Thun gewahrte; ihm fehlte eben so die Nähe des Caplans, so selten er diesen in der letzten Zeit auch im Vertrauen gesehen; es fehlte ihm eben Alles, selbst der Pendelschlag der Uhren, den er zu hören gewohnt war. Sie waren alle abgelaufen. Er ging sie selber aufzuziehen. Es war eine Mühe, die er sich sonst nie zuvor gegeben, aber er mußte etwas thun, um das unheimliche Gefühl der Vereinsamung zu überwinden. Er kam sich wie ein irres, über den Ruinen seines eigenen Daseins wandelndes Gespenst vor, und plötzlich dachte er mit[119] Grauen der Tage, in denen einst Paulinens Gestalt ihn in diesen Zimmern spukhaft umschwebt hatte. Dann wieder sah er die bleiche, hinsinkende Angelika und den Knaben vor sich, der ihn mit so starrem, angstvoll flammenden Blicke angesehen.

Es war ihm, als presse die Luft in diesen Räumen, die ihm eben noch so leer gedäucht, ihm Kopf und Brust zusammen, er mußte die Fenster öffnen. Es regnete noch immer, auch das Gewitter war noch nicht vorüber. Die feuchte Kühlung, welche herein drang, erfrischte ihn, aber sie vermochte seine Ungeduld nicht zu besänftigen. Er verlangte nach einer Ableitung für dieselbe, und rasch seine Hand erhebend, schellte er dem Diener. Es soll sogleich ein Bote nach Neudorf reiten, befahl er, und den Pfarrer zu mir rufen!

Es ist sechs Uhr vorüber, gnädiger Herr! bemerkte der Diener.

Und? fragte der Freiherr, indem er ihn gebieterisch anblickte.

Der Diener verneigte und entfernte sich schweigend. Ehe der Reitknecht sattelte und nach Neudorf kam, ehe der Pfarrer anspannen ließ und in Richten sein konnte, mußte es halb neun Uhr werden und der Freiherr bei dem Abendbrode sein.

Er ist wie ausgetauscht! dachte der Diener, während er die Treppe hinunterstieg, und es widerstrebte ihm, den Befehl zu überbringen; denn es war sonst nie des Freiherrn Art gewesen, seine Untergebenen zur Unzeit zu bemühen oder sie in ihren Feierstunden zu stören, und eben seine rücksichtsvolle Menschlichkeit gegen den Geringsten seiner Leute hatte ihm deren Liebe und Verehrung erworben.

Er hatte den Diener auch kaum entlassen, als er sich selber die Berechnung machte, wie er sich ein lästiges Erwarten einer lästigen Besprechung auferlegt; indeß er liebte es nicht, seine Befehle zu widerrufen, und um die langsam schleichenden Stunden[120] zu bewältigen, setzte er sich endlich an seinen Schreibtisch nieder, die Postsendung zu mustern, welche für ihn nach der Abreise des Caplans in Richten angekommen war.

Aber er hatte die Tasche kaum geöffnet, als er die Zeitung und alles Uebrige zur Seite legte, um ein Couvert zu betrachten, dessen Handschrift ihn in eine lebhafte Ueberraschung versetzte. Er hatte sie seit Jahren nicht gesehen und doch war sie ihm vertraut genug. Mit einer Hast, die gegen seine sonstige Gemessenheit sehr abstach, erbrach er das Siegel, auf dem mit festem Drucke das gräflich Berka'sche Wappen ausgeprägt war, um den Brief zu lesen, den ersten Brief, welchen sein Schwiegervater seit dem Familienzerwürfniß an ihn richtete.

»Ich bin lange mit mir zu Rathe gegangen,« schrieb der Graf, »ob ich Ihnen schreiben, oder mich auf den Weg machen sollte, Sie aufzusuchen; und nun ich mich zu dem ersteren entschlossen, da ich Sie nicht zu überraschen und durch die Gewalt des Augenblickes zu bestimmen wünschte, weiß ich kaum noch, mit welchem Namen ich Sie nennen soll. Wo sich nach einer langen, ungetrübten Lebensgemeinschaft, die man von beiden Seiten als einen Vorzug zu schätzen wußte, ein Bruch aufthut, der durch viele Jahre offen bleibt, verändert die Zeit, die uns in unserem eigensten Wesen umgestaltet, auch nothwendig die beiderseitigen Verhältnisse, und kein Erfahrener kann an die Möglichkeit glauben, das alte Band und die früheren Zustände wieder zu finden oder wieder herzustellen. Trotzdem mag es zwischen uns, wo die nächsten und heiligsten Bande des Blutes ihre Ansprüche geltend machen, vielleicht gelingen, sich in neuer Weise und auf neuem Boden zu vereinigen, und ich biete Ihnen die Hand, lieber Arten, um diesen Versuch zu machen.

Ich verhehle Ihnen nicht, daß ein bestimmtes Ereigniß mir den nächsten Anlaß zu diesem Briefe gegeben und den Entschluß, Ihnen eine Versöhnung vorzuschlagen, in mir zur[121] Reife gebracht hat. Ich habe meinen sechzigsten Geburtstag begangen, und vorwärts blickend auf die Jahre, die mir noch gegönnt sein können, zurückschauend auf den Weg, den ich gegangen bin, wird Alles einheitlicher, sieht Alles sich milder und weniger ungewöhnlich an.

Was ich meiner Tochter einst nicht verzeihen zu können glaubte, den Abfall von der Lehre, in der sie mit uns vereinigt war, und ihren Uebertritt zur römischen Kirche, das habe ich als eine Thatsache hinnehmen lernen, wofern sie ihr Glück und ihren Frieden in ihrem neuen Bekenntnisse findet. »In meines Vaters Hause sind viel Kämmerlein«, – mag sie weilen, wo ihr die Sonne am wärmsten scheint. Sie ist um ihret-, nicht um meinetwillen in der Welt; sie ist uns eine gute Tochter gewesen, sie ist Ihnen sicherlich eine würdige Gattin geworden. Glaubte sie dazu der kirchlichen Gemeinschaft mit Ihnen nöthig zu haben, so that sie vielleicht wohl, dieselbe zu suchen, und Gott wird ihr mit seinem Troste nahe geblieben sein, in welcher Form sie sich auch zu ihm gewendet hat, sofern nur ihr Streben ein Gott wohlgefälliges gewesen ist.

Ich habe unsere Angelika, ich habe meine Tochter schwer vermißt, als ich gestern ein Decennium meines Lebens abschloß, und auch Angelika's Gedanken werden bei mir gewesen sein. Ich und ihre Mutter haben die Härte bereut, mit der wir sie von uns gewiesen, unser täglicher Segenswunsch hat das Verdammungs-Urtheil längst entkräftet, das wir einst gegen sie gefällt, und ihr eigenes Mutterherz wird sie gelehrt haben, daß die Elternliebe zwar beleidigt, aber nicht zerstört werden, daß sie irren, aber auch bereuen kann.

Man sagt mir, Angelika sei krank, Sie hätten sie nach der Stadt gebracht, einen der dortigen Aerzte zu Rathe zu ziehen. Hat sie nicht verlangt, uns zu sehen? Hat sie nicht daran gedacht, uns Kunde von sich zu geben? Und wollen Sie uns[122] dieselbe zukommen lassen, wenn Sie dieses Schreiben empfangen haben werden? Ihre Mutter und ich sind in schwerer Sorge um sie.

Unsere Glaubensstrenge hat den Bruch veranlaßt, der uns, mein theurer Arten, so lange von unserem Kinde und von Ihnen, mein alter, werther Freund, entfernt gehalten hat. An uns, die wir die Trennung verschuldeten, ist es daher, eben so offen und unumwunden die Versöhnung zu versuchen; und mich dünkt, diese Erklärung kann und muß allen Ihren Anforderungen und Bedenken Genüge thun. Es ist ein Freund, der von Ihnen die alte Freundschaft, es sind Eltern, die von Ihnen ihre Tochter wieder zu erhalten wünschen, Großeltern, die sich danach sehnen, Ihrem Renatus die segnende Hand auf das Haupt zu legen. wir haben Angelika's Sohn noch nicht gesehen.

Meinem ältesten Sohn ist nach zwei Töchtern vor wenig Wochen der Erbe geboren, der ihm und meinem Hause fehlte. Wir haben ihn an meinem Geburtstage taufen lassen, die ganze Familie ist bei mir versammelt. Wollen Sie kommen, den Kreis vollzählig zu machen, in dem wir Sie entbehren? Oder verlangen Sie es, fordert es Ihr Gefühl, erheischt es Angelika's Befinden, daß wir Sie in Ihrer Heimath suchen kommen? – Ich überlasse Ihnen die Entscheidung.

Für unsere Tochter füge ich von mir und ihrer Mutter nichts hinzu. Es gibt Dinge, die über das Wort erhaben, weil sie selbstverständlich sind. Unsere besten Wünsche, unsere Liebe, unser Segen sind mit ihr und mit Ihnen Allen! Und so lassen Sie uns denn in Zukunft wieder immerdar zusammenstehen, wie wir einst zusammenstanden, als Verwandte und Freunde in Neigung und in anerkennender Achtung.«

Der Freiherr las den Brief noch einmal, nachdem er ihn beendet hatte, und es wäre schwer gewesen, aus seinen Mienen die Wirkung zu erkennen, welche er auf ihn machte, denn er[123] konnte sich selber keine Rechenschaft darüber geben. Freude war es nicht, was er empfand.

Die Dinge müssen zur rechten Zeit kommen, um uns angenehm zu sein! rief er endlich im Selbstgespräche aus, während er sich von seinem Platze am Schreibtische erhob und den Brief aus den Händen legte.

Wäre dem Freiherrn ein solches Schreiben, ein solches Eingeständniß und eine solche Aufforderung zur Versöhnung bald nach dem Zerwürfniß dargeboten worden, so würde er sie ohne alle Frage bereitwillig und mit Freuden aufgenommen haben und damals sehr zufrieden gewesen sein, in dem alten, gewohnten Geleise mit so viel Zugeständnissen und Nachsichten, wie jedes Familienleben sie erheischt, weiter fortzugehen. Aber das Zusammenleben innerhalb der Familie hat, weil es kein sittlich frei gewähltes, sondern ein zufällig bestimmtes ist, als erstes Bedingniß die ununterbrochene Dauer, die duldsam machende und den Blick beschränkende Gewalt der langen Gewohnheit für sich nöthig. Werden diese vermittelnden Elemente einmal zerstört, ist der Zauber gebrochen, der uns über Charakterverschiedenheit, ungleiche Lebensansichten und Ueberzeugungen, der uns über Alles dasjenige leicht fortsehen machte, was uns an den uns angeborenen Menschen störte und von ihnen im Grunde trennte, so ist auch die Schranke aufgehoben, welche alle Theile innerhalb eines gewissen Gleichmaßes zusammen und einzelne derselben eben deßhalb in ihrer freien und völligen Entwicklung – im Guten wie im Schlimmen – zurückgehalten hatte. Jeder nimmt dann frei den Weg, den er bedarf, bildet sich persönlicher, eigenartiger aus; macht man später einmal wieder den Versuch, das Ungleichartige in die alten Bande und Verhältnisse zurückzuführen, so ist dies eigentlich in Wahrheit niemals möglich, und der alte Ausspruch, daß man über seinen Zorn die Sonne nicht untergehen lassen solle, beweist sich als[124] eine tiefe Weisheit, wofern man überhaupt eine Herstellung der früheren Verbindungen ersehnt.

Alle Eingeständnisse und Zugeständnisse, welche Graf Berka seinem Schwiegersohne und alten Freunde in diesem Versöhnungsbriefe machte, hatten für den Freiherrn nur etwas Peinigendes. Er war der Berka'schen Familie nun einmal entwöhnt. Es hatte in derselben bei großen Vorzügen, die er auch jetzt noch anerkannte, immer eine gewisse Familienbeschränktheit geherrscht; man hatte dem Ergehen und Thun des Einzelnen eine viel zu große Bedeutung beigelegt und damit geringfügige Ereignisse zum Gegenstande weitläufiger Besprechungen und unverdienter Theilnahme gemacht. Das war ihm auffällig erschienen, so lange er außerhalb der Familie gestanden hatte, war ihm als Angelika's Verlobter ein wenig lästig gewesen, und er hatte sich aus dieser übertriebenen Familienliebe später die Züge in Angelika's Charakter erklärt, die er als Empfindsamkeit und als zu große Ansprüche an die Leistungen und Empfindungen der Anderen zu bekämpfen für nöthig gehalten.

Jetzt – er fuhr sich unmuthig mit der Hand über die Stirn – jetzt kam diese Versöhnung ihm sehr ungelegen, und zurückweisen konnte, durfte er sie nicht, wollte er nicht gegen Angelika, die in ihres Herzens Tiefen nie aufgehört hatte, sie zu wünschen, ein Unrecht begehen, wollte er der Kranken nicht einen ihr erwünschten Trost entziehen. Und selbst um der Meinung seiner Umgangsgenossen willen mußte er die dargebotene Hand seines Schwiegervaters freundlich zu ergreifen scheinen! Aber je länger er darüber nachsann, um so schwerer und unwillkommener dünkte ihm diese erneute Annäherung.

Er wußte, wie wenig die Geistesrichtung der Herzogin und ihre Ansprüche und Gewohnheiten mit denen der Berka'schen Familie zusammenstimmten. Es kam ihm daneben nicht willkommen, die Berka's so nahe in seine Verhältnisse blicken zu[125] lassen. Er konnte sich denken, mit welchen Augen sie den Kirchenbau betrachteten, welche Fragen der Graf, der in der eigenen Bewirthschaftung seiner Güter große Befriedigung fand und glänzende Erfolge erzielte, wegen der Ausschlagung der Wälder und wegen der Entlassung der Steinerts an ihn richten würde. Es beunruhigte ihn, daß seine Schwiegereltern gerüchtweise von seinen augenblicklichen Geldverlegenheiten, von dem Verkaufe des Hauses erfahren haben könnten, und vor Allem dachte er mit Schrecken daran, wie sie die Tochter, die er einst so blühend und so hoffnungsreich aus ihrer Hand erhalten, jetzt wiederfinden mußten.

Er nahm den Brief noch einmal auf, aber er konnte sich nicht überwinden, ihn noch einmal zu lesen, und ihn auf den Tisch schleudernd, rief er ärgerlich: Ich wollte, sie hätten mich mit ihrer späten Versöhnlichkeit verschont!

Trotzdem mußte er zu einem Entschlusse kommen, und rasch, wie man etwas Lästiges abzuthun sucht, warf er mit fester Hand die folgenden Zeilen auf das Papier:

»Empfangen Sie, theurer Freund, meinen nachträglichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstage, den wir doppelt zu segnen haben, da er Sie zu einer für uns so erwünschten Einsicht und Entschließung geführt hat. Ich nehme die Versöhnung, welche Sie mir bieten, ohne alles weitere Erörtern an, und meine Frau wird glücklich sein, ihren verehrten Eltern die Hand küssen und ihren Segen wieder empfangen zu können. – Leider war ich genöthigt, da Geschäfte mich hieher riefen, sie unter der Obhut des Caplans noch in der Stadt zurückzulassen. Ein Brustübel, dessen Symptome sich schon vor der Geburt unseres Sohnes zeigten und in Zwischenräumen immer wieder bemerkbar machten, hat sich plötzlich entschieden ausgebildet und sie vor wenig Wochen mir zu rauben gedroht. Auf dem Wege der Genesung, ist sie der größten Schonung bedürftig, und ich bin[126] eben deßhalb noch nicht im Stande, Ihnen, theurer Graf, und der Gräfin, die ich meiner aufrichtigen Ergebenheit zu versichern bitte, anzugeben, wie und wann ich meiner Frau die Mittheilung Ihres Briefes werde machen können und in welcher Weise wir unser Wiedersehen mit Ihnen einzurichten haben, damit es auf die Kranke nicht zu erschütternd wirke. Ich hoffe, daß ich Angelika in acht Tagen ihre Reise nach Richten antreten lassen darf, und ich will noch heute den Caplan von Ihrem Briefe in Kenntniß setzen, oder besser ihm Ihr Schreiben übermachen, damit dieser erfahrene und bewährte Freund, der mein und Angelika's Vertrauen ganz und gar besitzt, vorsichtig den Augenblick wähle, in welchem wir meiner Frau die von ihr sicherlich ersehnte, sie aber eben so gewiß sehr erschütternde Kunde zugänglich machen dürfen.

Meinen Sohn habe ich aus der Stadt mit mir hieher genommen. Er sieht seiner Mutter völlig gleich und wird, wie ich hoffe, Ihre Liebe gewinnen, da er ja das älteste Ihrer Enkelkinder ist. In der Erwartung, Sie, bester Graf, und die Gräfin bald persönlich zu begrüßen,

der Ihrige.«


Er las das Geschriebene zu wiederholten Malen, ohne recht damit zufrieden zu sein. Er wollte nicht entgegenkommen, er wollte sich nicht ablehnend zeigen, und er ersah an der Art und Weise seines Erwägens, wie fremd die Familie seiner Frau ihm geworden war und wie fest die Abneigung gegen sie in seinem Innern gewurzelt hatte. Jetzt, da sie ihm, wie er es nannte, grundlos eine Versöhnung aufnöthigten, nachdem sie sich einst eben so grundlos von ihm und von ihrer Tochter losgesagt, weil diese sich freiwillig dem Bekenntnisse ihres Gatten angeschlossen, fühlte er sich fast erbitterter gegen sie, als zuvor, und daß er dieser Erbitterung nicht Worte geben durfte, daß er gezwungen war, sich aus Rücksicht auf Angelika und auf die[127] Welt einer fremden Willkür hinzugeben, verdüsterte seine Seele nur noch mehr. Hätte er mit einem Federstriche Alles, was ihn umgab, vernichten können, er würde ihn gethan haben, auf die Gefahr, selbst dabei zu Grunde zu gehen; und mitten in seinem zornigen Grimme dünkte ihm eben dieser doch wieder seiner und seiner Natur so unangemessen, daß er grade davon am allermeisten litt. Er konnte das ideale Bild, welches er von sich selber stets vor Augen gehabt und im Herzen getragen hatte, nie mehr in seiner Reinheit wiederfinden: das heißt, er wußte, daß er ein für alle Mal sich selbst verloren hatte.

Grade, als der Freiherr den Brief an den Caplan beendete, meldete man ihm den Pfarrer.

Er soll kommen! befahl er kurz, und übergab dem Diener die Briefe an den Grafen und an den Caplan mit der Anweisung, sie sofort nach der Stadt zu senden, damit die am nächsten Morgen durchpassirende Post sie noch mitnehmen könne.

Mit raschem Schritte ging er dem eintretenden Geistlichen entgegen. Der Pfarrer hatte sich auf eine harte Stunde vorbereitet. Er war nicht unterrichtet gewesen von dem Vorhaben seines Sohnes; er beklagte und verdammte von Grund der Seele die in Rothenfeld geschehenen Frevelthaten und Verbrechen, denn er besaß nicht des Candidaten wilden Glaubenseifer; er war duldsam und gelassen, und er hatte sich, als er zu so ungewohnter Stunde vor den Freiherrn beschieden worden war, fest gelobt, daß er, seine Würde und seine Ueberzeugung wahrend, dennoch versuchen wolle, den gerechten Zorn des Gutsherrn zu besänftigen. Aber der Empfang, welcher ihm zu Theil ward, ließ ihn das Aeußerste befürchten.

Ohne ihm, wie er es sonst stets gethan, die Hand zum Gruße zu bieten, ohne ihm einen Sessel anzuweisen, sagte der Freiherr, während er den Greis inmitten des Zimmers stehen bleiben ließ: Ich habe Sie gleich kommen lassen, weil ich zuvor[128] mit Ihnen im Klaren sein wollte, ehe ich weiter gehe, und weil Sie, Pastor, Sie ganz allein, mir für all den Schaden und für all das Unheil verantwortlich sind, die hier angerichtet worden! Wer hieß Sie, den frechen Burschen meine Kanzel besteigen zu lassen? Wer hieß Sie ....

Gnädiger Herr! fuhr der Pastor auf, den sein Vaterherz wie seine gekränkte Amtsehre alle seine Vorsätze vergessen machten, – gnädiger Herr, Sie sprechen zu einem Vater von seinem Sohne! Sie sprechen zu einem Geistlichen, zu dem bestallten Pfarrer dieser christlichen Gemeinde, der ohne Frage die Befugniß hat, sich von seinem Sohne, von einem unbescholtenen jungen Manne, einem geprüften Candidatus theologiae in seinem Amte vertreten zu lassen, wenn er dieses nöthig findet!

Ja, allerdings, das ist es grade! Ich spreche zu dem Vater! betonte der Freiherr scharf, eben weil er mir als Vater einzustehen hat für die Frechheit seines Sohnes! Ich spreche zu dem von mir erwählten und eingesetzten Pfarrer, weil er sich unterfangen hat, gegen meinen Glauben, gegen die Religion, zu der ich und mein Haus uns bekennen, in meiner Kirche und von meiner Kanzel herab freveln zu lassen!

Der Pfarrer machte eine abweisende Handbewegung. Die Kirche ist des Herrn, die Kanzel ist ihm heilig und der Wahrheit, Herr Baron, auf die wir getauft sind, auf die wir unser Bekenntniß abgelegt und die rein und lauter zu verkünden wir mit unserem Amtseide beschworen haben! rief der Pfarrer, und seine Stimme und seine Haltung hoben sich, je länger er vor dem Freiherrn stand. Freilich steht es geschrieben: Es soll Friede sein auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Und so weit es an mir gewesen, habe ich Frieden zu halten gestrebt, obschon es meinen Augen kein Wohlgefallen gewesen ist, hier, mitten in unserer lutherischen Gemeinde, die katholische Kirche sich erheben und ihre Heiligenbilder aufrichten zu sehen![129] Aber, Herr Baron, es steht eben so geschrieben: Ich bringe euch nicht den Frieden, sondern den Krieg! Und wie ich für mein Theil danach getrachtet habe, den Frieden hier zu Lande nicht zu stören, so vermag ich vor meinem Gewissen den jüngeren Streiter nicht darob zu tadeln, daß er von heiliger Stätte die Gemeinde warnte, daß er ihr die Gefahren zeigte, welche ihr drohen, daß er verkündet hat, was ihm sein Herz geboten! Es kommt für Jeden einmal der Tag, an dem er mit unserem Martin Luther rufen muß: Hier stehe ich! Ich kann nicht anders! Gott helfe mir! Amen!

Der Pfarrer hatte die Hände gefaltet, er war sehr gerührt. Seit Jahren hatte er sich mit dem Gedanken getragen, daß es ihm einmal beschieden sein könne, nach dem Vorbilde des herrlichen Paul Gerhard von Heimath und Amt vertrieben zu werden; jetzt fühlte er sich dem Augenblicke nahe, und seine Erschütterung würde zu jeder anderen Stunde auf seinen Patron ihre Wirkung nicht verfehlt haben, denn des Freiherrn Herz war leicht bewegt und die kirchlichen Streitigkeiten waren ihm bei seiner religiösen Gleichgültigkeit im Grunde sehr verhaßt. Aber er sah auch in dieser ganzen Angelegenheit nur eine Auflehnung gegen seine gutsherrliche Macht, und bitter, wie sein Ton es gegen den Pfarrer heute von Anfang an gewesen war, sagte er: Lassen Sie die Beispiele und die Bibel-Citate! Was ich mit Ihnen abzumachen habe, dazu finde ich den Ausdruck in mir selbst, und wenn denn einmal durchaus die Bibel die Belege liefern soll, so mag das Wort Ihnen und der Gemeinde zur Richtschnur dienen, daß Jedermann der Obrigkeit unterthan sein soll, die Gewalt über ihn hat! –

Er machte eine kurze Pause und sprach danach: Ich bin Herr auf Richten, in Rothenfeld und in Neudorf! Die Kirche in Neudorf ist mein! Sie haben Ihr Amt von mir, Sie wohnen in meinem Hause, auf meinem Grund und Boden,[130] unter meiner Jurisdiction; die Leute, welche Ihre Gemeinde bilden, sind von mir abhängig, zum großen Theile mir hörig – bedenken Sie das wohl! – Ich hindere Sie in Ihrem lutherischen Bekenntnisse nicht; beten Sie, singen Sie, predigen Sie, wie Sie wollen – das ist Ihnen und meinen Leuten von den Staatsgesetzen gewährleistet! Aber merken Sie es sich: wo Sie es sich beikommen lassen, etwa auch einmal als Glaubensstreiter, von Ihrem Gewissen getrieben, meine religiöse Freiheit auf meinem Grund und Boden anzutasten, da hört Ihre religiöse Freiheit auf, da beginnt meine gutsherrliche Machtvollkommenheit, und – der Freiherr wurde roth vor Zorn – daß der Gotthard sich nicht unterfängt, sich jemals wieder innerhalb meiner Grenzen blicken zu lassen ....

Herr Baron! fiel der Pastor ihm in die Rede, Herr Baron! – Die Stimme versagte ihm, und wie der Zorn des Freiherrn Wange geröthet, hatte der Schrecken das Antlitz des Greises entfärbt. Aber er nahm sich zusammen, und mit ruhiger Würde an den Freiherrn herantretend, sagte er: Es ist ein Amt des Friedens, das der Herr in meine Hand gelegt hat. Ich habe es bis hieher verwaltet nach bestem Wissen und Gewissen, und ich hatte fest gehofft, in demselben fortarbeiten zu können bis an meinen Tod. Indeß Gott hat es anders beschlossen. – Er hielt aufs Neue inne, und mit bebender Stimme, aber dem Freiherrn ruhig in das Auge sehend, sprach er: Menschenfurcht soll die letzten Tage meines Lebens nicht entehren. Ich werde meinen Sohn nicht abweisen von der Thür seines Vaterhauses, auch wenn er irrte und sein heiliger Eifer ihn zu weit geführt hat; ich werde ihm und mir nicht Schweigen auferlegen, wo der mir anvertrauten Heerde Gefahr zu drohen scheint, und – bin ich doch der Einzige nicht, dessen Bleiben hier fürder nicht mehr ist![131]

Er verneigte sich tief und wollte sich zum Gehen wenden. Der Freiherr hielt ihn nicht zurück.

Thun Sie ganz nach Ihrer Ueberzeugung, sprach er, aber verlassen Sie sich darauf, daß ich mir hier Ordnung und Gehorsam schaffen werde!

Der Pfarrer ging still hinweg. Der Freiherr sah ihm mit kaltem Auge nach. Meine Läßlichkeit hat es verschuldet; sie fühlen sich alle hier als Herren! Es war Zeit, ein Ende damit zu machen und die Zügel in die eigene Hand zu nehmen, sagte er zu sich selber, während er nach der Uhr sah. Dann klingelte er und befahl, das Abendbrod herzurichten und die Frau Herzogin zu benachrichtigen, wenn es geschehen sein würde.

Der Pfarrer aber fuhr, als er vom Schlosse kam, im Amthofe vor. Er wollte Fassung gewinnen, ehe er seine greise Lebensgefährtin wiedersah; er mußte auch einen Menschen haben, zu dem er sprechen konnte, denn in sich zu verschließen, was ihn bestürmte und bedrängte, bis er nach Neudorf kam, das, fürchtete er, würde über seine Kräfte gehen. Und der Adam hatte es ja auch erlebt.

Und offene Arme, offene Herzen, und ein volles Mitgefühl empfingen den schwer gekränkten Mann. Man hatte die Heimkehr des Freiherrn gescheut, man hatte es mit Besorgniß angesehen, daß er so plötzlich und unangemeldet eingetroffen, und doch kam Allen unerwartet, was geschehen war. Sie waren im Amte dem Gotthard eben nicht freund; sie gönnten es ihm, daß sein Hochmuth eine gründliche Lection erhielt; aber den Pfarrer, den Greis, den sie zu verehren gelernt von Kindesbeinen an, so herzzerrissen zu sehen, das betraf sie selber tief. Sie mochten ihn nicht allein in die Pfarre zurückkehren lassen, denn allerdings, der Amtmann wußte, was es heißt, die Schwelle eines heimathlichen Hauses zu betreten, das man bald für immer meiden soll. Man ließ den Knecht, welcher den Pastor gefahren,[132] zu Fuße gehen, man rückte zusammen, und Alle fuhren sie, so spät es war, mit dem Pastor: der Amtmann, die Eva und der Architekt.

Die Pfarrerin hatte, die Minuten zählend, am Fenster gestanden, seit ihr Mann durch die Botschaft des Freiherrn abgerufen worden war. Sie wußte nicht, was sie denken sollte, als der Wagen voll Gäste vor ihrer Thüre hielt; sie konnte nicht fassen, was geschehen war, als man es ihr meldete. Sie weinte, sie klagte, sie schalt den Sohn, sie tadelte ihren Gatten, daß sie sich nicht fügsamer gezeigt, und nannte doch gleich darauf den abwesenden Sohn ihres Lebens Stolz und Freude, und dankte Gott, daß er ihrem Manne Kraft verliehen, als sein Streiter auszuharren bis zum Ende.

Der Pfarrer setzte sich nieder, seine Gedanken zu sammeln. Er wollte dem Sohne schreiben, seine Meldung an das Consistorium machen, aber ihm fehlte noch die Ruhe für solch ein Thun, und Adam hielt ihn auch davon zurück.

Warten Sie, Herr Pfarrer, warten Sie bis morgen, bat er. Es war ein Anderes zwischen dem Freiherrn und zwischen mir; ich stand für mich allein, Sie stehen für Ihr Amt; ich konnte gehen, Sie müssen zu bleiben trachten, oder wollen Sie sich freiwillig einen Nachfolger hieher setzen lassen, der sich dem Willen der Herrschaft besser fügt, der Herrendienst dem Gottesdienst voranstellt?

Die Pfarrerin trat schnell auf Adam's Seite. Sie hoffte, der Freiherr werde in sich gehen, die gütige Baronin werde wiederkehren und vermitteln; sie meinte, Gotthard könne, auch ohne seinem Gewissen etwas zu vergeben, sich einlenkend an den Freiherrn wenden. Sie wollte von dem Amtmanne, von Herbert, von Eva und von ihrem Manne Zuspruch haben; aber sie hatten sich alle über den Freiherrn zu beschweren, und[133] wie vermochte man ihm beizukommen, was hatte man noch weiter mit ihm zu befahren?

Man konnte zu keinem befriedigenden Abschlusse gelangen, und es war schon spät, als man sich trennte.

Das Gewitter war vorüber, die Wolken hatten sich zertheilt, der Mond stand hell am Himmel und goß sein volles Licht über die blühenden und duftenden Lindenbäume vor des Pfarrers Thüre, von denen unter dem leisen Windhauche die Regentropfen niederfielen. Die Nachtigall, welche in den Büschen rechts vom Hause nistete, lockte und flötete in langen Tönen durch die stille Nacht, man sah die Falter langsam schweben, die Mondesstrahlen glänzten und zitterten in dem leicht bewegten Teiche, von dem der Nebel silbern in die Höhe stieg.

Der Pfarrer und seine Frau begleiteten ihre Gäste vor das Haus hinaus. Nach dem Unwetter und neben ihrer Aufregung wirkte die friedensvolle Schönheit der Natur doppelt stark auf sie. Der Greis sah mit stillem Blicke um sich her. Dann nahm er sein Käppchen von dem weißen Haar, und seiner Frau Hand in seine gefalteten Hände schließend, sprach er, an die Dichtung seines Vorbildes Paul Gerhard denkend, fromm und gläubig, während es feucht in seinen Augen schimmerte:


Der Sonne, Mond und Winden

Weist ihre eig'ne Bahn,

Der wird auch Wege finden,

Da mein Fuß wandeln kann!
[134]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 5, Berlin 1871, S. 119-135.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Feldblumen

Feldblumen

Der junge Wiener Maler Albrecht schreibt im Sommer 1834 neunzehn Briefe an seinen Freund Titus, die er mit den Namen von Feldblumen überschreibt und darin überschwänglich von seiner Liebe zu Angela schwärmt. Bis er diese in den Armen eines anderen findet.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon