Drittes Capitel

[287] Der Abmarsch der Truppen, die, erst zu einem Feldzuge gegen Rußland zusammengezogen und dann als Reserven für den Krieg in Frankreich bestimmt, den ganzen Winter und das halbe Frühjahr hindurch in der Stadt gewesen waren, verursachte an dem entscheidenden Tage viel Handel und Verkehr. Herr Flies hatte in seinem Comptoir mit Wechselgeschäften vollauf zu thun, die Mutter, welche sonst derlei Hülfe schon seit Jahren nicht mehr zu leisten brauchte, hatte heute wieder einmal den Verkauf im Laden übernehmen müssen, denn manch ein Ring und manch ein Andenken wurden noch erhandelt.

Die Hausthüre stand nicht still, die Thürklingel kam nicht viel zur Ruhe. Auch auf der Treppe war beständige Bewegung. Seba sah den Grafen mehrmals gehen und wiederkehren. Jetzt wird er kommen, jetzt ist er da, jetzt muß es sein! sagte sie sich, jedes Mal zusammenschreckend, wenn er sich ihrem Zimmer näherte, aber wieder ging er vorüber, und das angstvolle Hoffen und das Horchen und das Sinnen und das Grübeln begannen auf's Neue.

Draußen schien die Sonne strahlend hell, aber Seba vermochte sich nicht daran zu erfreuen. Es war ihr, als leuchte die Sonne heute so unerbittlich in ihr Herz, daß es sich ihr in der Brust krampfhaft zusammenzog. Sie hätte die Augen gern von sich selber abgewendet.

Den ganzen Morgen blieb sie mit sich allein, nicht Vater, nicht Mutter fragten heut' nach ihr. Erst um elf Uhr, als[287] die Kinder aus der Schule heimkehrten, kam Paul zu ihr und verlangte bei ihr zu bleiben, da die Kriegsräthin ausgegangen sei, den Abmarsch der Soldaten anzusehen.

Ja, entgegnete Seba, bleibe bei mir! Aber er verlor beinahe die Lust dazu, denn ihr Gesicht war traurig, und noch ehe sie ihm ein anderes Wort gesagt hatte, trat der Graf zu ihnen ein. Ohne des Knaben Anwesenheit zu beachten, fiel Seba dem Grafen um den Hals, indeß auch dieser sah nicht so heiter und so selbstzufrieden aus, als sonst.

Er umarmte Seba, er küßte sie, und küßte sie immer wieder. Er sprach leise mit ihr, daß Paul es nicht verstand, und endlich riß er sich aus Seba's Armen los, und Seba weinte bitterlich und laut.

Als der Graf schon auf der Schwelle stand, schrie Seba auf. Es schnitt dem Knaben durch das Herz. Gerhard, rief sie, Gerhard, so kannst Du von mir gehen?

Sie eilte ihm nach, sie klammerte sich an ihn, als wollte sie ihn ewig halten, und küßte ihn unter Thränen. Er war erschüttert, er bat sie, sich zu beruhigen, sich zu fassen, auf ihn zu bauen. Indeß sein Wort war eilig, sein Ton war kälter als sein Wort, und zum ersten Male glaubte sie ihm nicht.

Da, als er sich entfernen wollte, faßte sie seine Hand, und mit einer Kraft, die aus dem Tiefsten ihres Herzens kam, sagte sie: Gerhard, Du weißt es, ich liebe Dich sehr, sehr, und – fügte sie klanglos und bebend hinzu – es ist furchtbar, aber mir ist heute, als fühlten wir beide jetzt nicht dasselbe! Wenn Du mich vergessen, mich verlassen könntest! O, nur das nicht, nur das nicht! rief sie flehend aus, indem sie ihre Hände ängstlich wie zum Gebet faltete.

Der Graf blickte sie an, es zuckte durch sein Antlitz, er drückte sie noch einmal an sein Herz, und ohne ein Wort zu sprechen, eilte er von dannen.[288]

Seba blieb mitten in dem kleinen Gemache stehen. Sie hörte, wie er fortging, die Treppe hinunter, wie er die Hausthüre öffnete, sie hörte den Vater und die Mutter mit ihm sprechen, sie hörte den Hufschlag seines Pferdes, und hörte denselben weiter und weiter verhallen. Horchend, als hinge ihr Leben an dem Schalle, hatte sie die Augen geschlossen, die Arme hingen ihr schlaff herab.

Das mißfiel dem Knaben. Er ging zu ihr, ergriff und schüttelte ihren Arm und sagte: Seba, mach' doch die Augen auf! Der Graf ist ja fort!

Sie folgte dem Worte unwillkürlich, und wie sie um sich her blickte, wie sie sich mit dem Knaben allein fand, dessen dunkle Augen unverwandt in ihren Mienen zu lesen suchten, da faßte sie mit beiden Händen nach ihrem Herzen und entfloh aus dem Gemache. Sie konnte an dieser Stätte nicht mehr bleiben, sie konnte das Geräusch und das Pferdegetrappel und das Rollen der Wagen nicht aushalten, die sich von der Straße vernehmen ließen, sie konnte die Sonne und das Licht des Tages nicht ertragen.

Paul hingegen sah zum Fenster hinaus, und das bunte Leben und Treiben belustigte ihn; es war kaum durchzukommen vor dem Hause. Die Packpferde, welche die Zelte und die Betten und die sonstigen Bequemlichkeiten der jungen Officiere trugen, die schweren Feld-Equipagen, welche den älteren Officieren nachgefahren wurden, die Fourgons und alles, was zum Train gehörte, kam zum Vorschein und machte sich breit, aber von den Truppen war noch nichts zu sehen.

Seit dem frühen Morgen standen die Soldaten auf dem Paradeplatze, von unbarmherziger Disciplin zusammengehalten, daß kein Glied sich regte, keine Miene sich verzog, wie auch die Sonne ihnen senkrecht auf den Scheitel brannte und die[289] Zunge ihnen am Gaumen klebte. Aber nur die Gemeinen hatten es so übel, die Herren Officiere waren besser daran.

Schöne Frauen trippelten auf ihren Absatzschuhen unter den Bäumen umher, welche den Platz umgaben, und manches zärtliche Wort ward noch gewechselt, mancher heimlich geleistete Eidschwur heimlich wiederholt; denn sie hatten recht fröhlich und recht vertraut mit einander verkehrt, die fremden Herren Officiere und die Frauen und Mädchen der Stadt, und sie hatten deß kaum ein Hehl.

Die Officiere rechneten es sich zur Ehre an, eine so schöne Begleitung zu haben, die Frauen waren stolz auf ihre vornehmen und prächtigen Verehrer. Wie zu einem Spiele zogen die jungen Herren aus, wie zu einer Lustreise gingen sie in den Krieg gegen die elende Rotte von Empörern jenseits des deutschen Rheines. Sie erbaten und erhielten Aufträge für Paris, das auch diese Herresabtheilung früher oder später zu erreichen hoffte.

Die Kriegsräthin schärfte es ihrem Freunde, dem Hauptmanne, noch besonders ein, den Grafen Berka an den goldenen Chignonkamm zu erinnern, den er ihr aus Paris mitzubringen versprochen hatte, und sie that sicherlich wohl mit dieser Mahnung, denn der Graf, der auf der anderen Seite des Platzes eben vor seiner Schwadron hielt, sah nicht danach aus, als ob er an solchen Auftrag in diesem Augenblicke dächte.

Er hatte die Kriegsräthin gar nicht bemerkt, als sie dem Vorüberreitenden ihren Gruß zugewinkt, er bemerkte überhaupt nicht viel von dem, was um ihn vorging. Nur zwei Augen sah er – zwei große, dunkle Augen schwebten ihm vor der Seele, die sich thränenschwer zu ihm erhoben, und zwei Arme streckten sich flehend gegen ihn aus, und er hörte den bangen Aufschrei eines verzweifelnden Herzens.

Er hätte sie gern vergessen mögen, diese Augen und diesen[290] Ton! Er hätte lachen mögen über die Scherze seiner Cameraden, die ihn fragten, warum er keine Begleitung habe und wie es mit der Wette von neulich stehe. Aber so leicht sein Sinn auch war, das Lachen und Scherzen gelang ihm heute nicht, und seine Gedanken wollten ihm nicht gehorchen. Sie kehrten, wie er sich auch vorwärts wendete, in jenes stille Gemach zurück, zurück zu eines armen Weibes Schmerz!

Er athmete erst auf, als er die Stadt verlassen hatte, als das Thor schon lange hinter ihm lag und die Landstraße sich vor ihm in weiter Ferne aufthat. Seine Cameraden hatten ihn nie so finster und so still gesehen, und finster sah heute manche Stirne aus, still war es heut' in manchem Hause.

Die ganze Stadt kam ihren Bewohnern nach dem Abzuge der Truppen recht verödet vor. Mit den Festtagskleidern, die man zu Ehren der kriegerischen Gäste getragen, legte man bald auch die Leichtlebigkeit ab, in der man sich die Zeit her bewegt hatte. Die Rührigsten schienen müde zu sein und ruhten unwillkürlich aus, ohne Freude an der Ruhe zu haben. Die Einen hatten mehr Kräfte, die Anderen mehr Zeit und mehr Geld aufgewendet, als sie gemerkt und gewollt, und in gar vielen Häusern, in denen man noch vor wenigen Tagen fröhlich, als ob die Heiterkeit gar kein Ende haben könnte, beisammen gewesen war, weilten jetzt die Frauen einsam in ihren Stuben, ohne Lust, ihre Freundinnen aufzusuchen, und ohne Neigung, sich es vom Gesichte ablesen zu lassen, wie ihnen eigentlich an diesem Aschermittwoch nach dem militärischen Carneval zu Muthe war.

Die Zeit wurde den Frauen lang, nun sie nicht mehr so heiter unterhalten wurden, aber Seba wurde die Zeit nicht lang, wenn schon die Tage und die Stunden auf ihr lasteten, daß sie fast davon erdrückt ward. Finster und schweigend saß sie in ihrer Stube oder auf dem gewohnten Platze der Mutter[291] gegenüber, die Lippen zusammengepreßt, den Kopf brennend und schwer von einem Denken, das ohne Ausweg sich mit zermalmender Schärfe immerfort im Kreise drehte, von zagender Hoffnung, von zweifelndem Vertrauen und schwerem Bangen umhergetrieben.

Im Hause und in des Vaters Geschäften ging Alles den gewohnten Gang. Die Eltern sahen es wohl, daß Seba niedergeschlagen war, aber sie hofften, da nun des Grafen Besuche und Galanterien ein Ende hatten, werde sie ihn bald vergessen und sich mit ihrem guten Verstande den ganzen kleinen Liebeshandel aus dem Sinne schlagen. Man dachte darauf, sie einmal durch eine schon lange geplante Reise zu zerstreuen, und der Vater ergriff jetzt doppelt gern jede Gelegenheit, seine Tochter mit Fremden in Berührung zu bringen, von deren Unterhaltung er sich ein Vergnügen für sie versprechen konnte.

Eines Morgens, es war nur wenige Wochen nach dem Abmarsch der Truppen, kam gegen den Mittag hin der Architekt zu ihm, der nun schon seit Jahr und Tag im Orte wohnte. Denn seit Herbert den Kirchenbau in Richten übernommen hatte, waren ihm auch andere Bauten in der Provinz übertragen worden, und in jedem Betrachte noch frei und ledig, hatte er sich aus seiner rheinischen Heimath in diese entlegene Provinz übergesiedelt, um seine mannigfachen Arbeiten auf diese Weise sicher leiten und beaufsichtigen zu können.

Weil nun der Freiherr von Arten seine Geldgeschäfte alle dem Herrn Flies überantwortete, war Herbert mit demselben bereits hier und da im Auftrage des Freiherrn in Berührung gekommen, und einem Auftrage des Barons galt auch sein heutiger Besuch.

Es war nämlich neuerdings in Richten mehrmals von einem mittelaltrigen Waschgeräthe gesprochen worden, welches die Herzogin in Vaudricour hatte zurücklassen müssen und dessen[292] Verlust sie stets beklagte. Der Freiherr hatte es, da es ein Familien-Erb stück und ein hochgehaltenes Meisterwerk aus dem fünfzehnten Jahrhundert war, seiner Zeit in Vaudricour bewundert, und der Marquis bei der Unterhaltung eine ungefähre Zeichnung davon entworfen, die von dem Architekten vervollkommnet und unter dem Beirathe der Herzogin so lange umgemodelt worden war, bis sie zu ihrer Freude einen völlig richtigen Abriß des ihr werthen Gegenstandes vor sich zu haben erklärte. Aber eben das Betrachten der Zeichnung machte an jenem Abende das Bedauern der Herzogin über den Verlust und die wahrscheinliche Zerstörung des schönen Geräthes erst recht lebhaft. Auch die Baronin äußerte ihr Wohlgefallen an den edeln Formen und den sinnreichen Verzierungen, und so entstand in dem Freiherrn, der es liebte, den Personen seiner Umgebung Freude und eine Ueberraschung zu bereiten, der Gedanke, heimlich zwei solcher Waschgeräthschaften anfertigen zu lassen: das eine für die Herzogin, das andere, bei welchem an die Stelle des Duras'schen Wappens das Arten'sche angebracht werden sollte, für die Baronin. Aber das Arten'sche Wappen ließ sich seiner Gestalt nach nicht so leicht als das Duras'sche in die auf dasselbe berechneten Formen der Geräthschaften einfügen, und eben deßhalb hatte der Baron, der nicht leicht einen Einfall aufzugeben pflegte, von dem er sich eine Genugthuung versprach, sich schriftlich an Herbert gewendet, und ihn um eine genaue Besprechung der Arbeit mit dem Juwelier gebeten.

Der Auftrag war in künstlerischer Hinsicht anziehend und in seinem Geldwerthe sehr bedeutend. Die beiden Sachverständigen ließen sich also Zeit bei ihrer Unterredung und Madame Flies kam, ihren Mann an die Mittagsstunde zu erinnern, ehe man noch zu einem völligen Abschlusse über die Arbeit gelangt war. Abbrechen mochte man die Unterhaltung nicht, und da man sie eben so gut bei Tische beenden konnte, thaten die gastfreien[293] Eltern, deren Haus in letzter Zeit sich noch häufiger als früher unerwarteten Gästen aus den verschiedensten Lebenskreisen geöffnet hatte, dem Architekten den Vorschlag, ihre Mahlzeit zu theilen.

Der Baumeister hatte Madame Flies und Seba noch nicht gesehen. Die Schönheit der Tochter zog ihn an, die etwas dringliche Gastlichkeit der Mutter fiel ihm komisch auf, ohne ihm jedoch unangenehm zu werden, und da sich ohnehin beim Essen und bei einem guten Glase Wein manches Ungefüge schneller fügt, so war man bald mit den Verabredungen über die Gefäße und Geräthschaften im Klaren. Herbert versuchte es also, Seba, welche an diesem Tage sich grade wieder doppelt unglücklich fühlte, weil die wöchentliche Post ihr noch immer keine Kunde von dem Geliebten gebracht hatte, in eine lebhaftere Unterhaltung zu ziehen, aber Herr Flies kam ihm mit einer Frage nach dem näheren Ergehen der freiherrlichen Familie und nach dem Leben der Herrschaften auf Schloß Richten unwillkürlich hindernd in den Weg.

Herbert wußte davon gar Mancherlei zu melden. Er schilderte die glänzende Geselligkeit, welche dort herrschte, und den heiteren Ton, der durch die Herzogin in Richten eingeführt sei. Weil sie selbst sich in der Gegend und unter dem dortigen Adel wohlbefand, hatten sich auf ihren Rath in den benachbarten Städtchen verschiedene ihrer ebenfalls flüchtigen Landsleute niedergelassen, und diese ganze ausländische Gesellschaft hatte, wie Herbert erzählte, allmählich Richten und den Salon der Herzogin zu ihrem Mittelpunkte gemacht.

Sie sprechen von dem Salon der Frau Herzogin, bemerkte Seba's Mutter, als ob sie die Herrin von Schloß Richten wäre!

Nun, meinte Herbert lächelnd, in gewissem Sinne ist sie das in der That. Sie bestimmt und befiehlt dort ziemlich unumschränkt, und wenn der heimische Adel jetzt viel mehr als[294] vor zwei, drei Jahren nach Richten eingeladen und in Richten gesehen wird, so geschieht dies, glaube ich, gleichfalls nur auf den Antrieb der Frau Herzogin, damit die französische Einwanderung dort nicht gar zu auffallend erscheine, und das Hofhalten der Herzogin ein wenig verdeckt werde.

Herr Flies schüttelte mißbilligend das Haupt. Wäre es nicht eine so gute Sache, daß die Franzosen den verrotteten Zuständen in Frankreich zu Leibe gehen, und solch ein Glück für die ganze Welt, wenn sie in ihrem Lande eine vernünftige Staatsform begründeten, deren Rückwirkung auch auf uns nicht ausbleiben würde, sagte er, so möchte man wirklich wünschen, die deutsche Coalition könnte diese ganze Emigranten-Gesellschaft wieder über den Rhein zurückführen, nur damit wir sie los würden, und zwar je eher, je lieber!

Herbert bemerkte, daß die Emigranten-Gesellschaft, welche sich im Schlosse zusammenfinde, den Freiherrn gewiß große Summen kosten müsse, denn man führe jetzt dort ein wahrhaft fürstliches Leben.

Ja, versetzte der Juwelier in seiner kurzen und stets bestimmten Weise, der Herr Baron von Arten braucht jetzt viel, sehr viel.

Und was sagt die Frau Baronin dazu? fragte Madame Flies, die sich nach Frauenweise augenblicklich in die Lage der Hausfrau versetzte, deren Rechte ihr bedroht erschienen.

Die Frau Baronin ist schwer zu beurtheilen, antwortete Herbert zurückhaltend, und sowohl der Juwelier als seine Frau bemerkten, daß er eine nähere Erklärung vermeiden wolle. Indeß Herr Flies mußte Gründe haben, das Gegentheil zu wünschen, und den Architekten bei dem Gegenstande festhaltend, rief er: Warum schwer zu beurtheilen? Die Berka's sind solide Leute, Leute, die, so viel ich von ihnen weiß, auf ihre Art still, man könnte sagen, bürgerlich in Berka leben. Einer Frau, die so[295] erzogen ist, kann, glaube ich, der Train nicht recht gefallen, der jetzt in Richten geführt wird. Das französische Wesen ist nebenher auch nicht der Berka's Sache. Wir haben das ja, bemerkte er, sich gegen Frau und Tochter wendend, an dem jungen Grafen hier gesehen. Und für Herbert fügte er erklärend hinzu: Wir hatten hier im Hause den zweiten Bruder der Frau Baronin, den jüngsten Grafen Berka, im Quartier. Einen schönen Menschen! Etwas obenaus, wie all die jungen Herren, aber sonst ein artiger junger Mann!

Seba hätte vergehen mögen. – Ihr Vater, ihr guter vertrauensvoller Vater, rühmte den Grafen!

Herbert jedoch legte, wie es schien, auf dieses Lob des jungen Edelmannes kein Gewicht. Ja, ich kenne ihn, sagte er flüchtig: er ist ein schöner Officier. Schön, sehr schön ist seine Schwester auch, aber sie besitzen beide den Adelstolz und Hochmuth, der ja, wie ich höre, hier zu Lande von den Berka's sprüchwörtlich sein soll.

Nun, doch mit Ausnahme, doch sehr mit Ausnahme, wendete die Mutter wohl- und selbstgefällig ein. Von dem Herrn Grafen Felix, dem Majoratsherrn, der manchmal bei uns im Laden gewesen ist, und von den alten Herrschaften mag das wahr sein, aber von dem jüngsten Herrn Grafen, der oben bei dem Kriegsrath im Quartier war, konnte man das nicht sagen. Er ist viel bei uns aus- und eingegangen; ein liebenswürdiger junger Mann und, wie mein Mann schon sagte, wirklich gar nicht stolz, im Gegentheil, man hätte sagen können ....

Laß es gut sein, fiel der Vater ihr in die Rede, und ein bitteres Lächeln spielte um seinen fein geschnittenen Mund. Man kennt diese Herablassung der Herren Edelleute, und vielleicht haben der Herr Architekt auch schon gelegentlich etwas davon erfahren oder bekommen noch einmal davon zu reden. Ich habe Dir und Seba Euer Vergnügen an der Gesellschaft des Herrn[296] Grafen und der anderen jungen Herren nicht stören mögen – warum sollte ich das auch? Aber es ist gut, daß Ihr nicht nöthig gehabt habt, ihn auf die Probe zu stellen und zu sehen, ob er je vergessen hat, wer er ist und wer wir sind.

Und dem Vater gegenüber saß seine Tochter, saß die arme Seba, die jedes dieser Worte wie ein Dolchstoß traf.

Sie haben Recht, Herr Flies, mein Mann ist der Graf Berka auch nicht! rief der Architekt. Ich habe ihn vor Wochen, als ich hier in einem Speisehause zufällig mit Bekannten in seiner Nähe saß, in einer Weise von den Frauen und von seinen Eroberungen reden, und in der Weinlaune Wetten über den von ihm zu erreichenden Besitz eines jungen Mädchens eingehen hören, wie nur ein ganz frecher Wüstling sie zu machen vermag! Ob er daneben – Herbert hielt inne, eine plötzliche Ideenverbindung machte ihn verstummen. Auch die Eltern wurden achtsam, denn Seba wechselte die Farbe und fuhr matt mit ihren Händen nach der Brust.

Sie ertrug es nicht länger. Der Tag, das Licht, das Leben ängstigte sie heute wieder so, wie an jenem Morgen. Das Dasein that ihr wehe. Es faßte nach ihrem Herzen, nach ihrem Hirn, von allen Seiten drang es auf sie ein – spottende Blicke, höhnisches Lachen und die ganze eigene Unseligkeit!

Sie wollte fliehen, das Zimmer verlassen, aber die Glieder versagten sich dem Dienste, der Kopf schwindelte ihr. Sie stand auf, und sich mühsam aufrecht erhaltend, eilte sie davon.[297]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 4, Berlin 1871, S. 287-298.
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