Sechszehntes Capitel

[343] In Paul's Arbeitszimmer brannten in der Frühe des folgenden Morgens noch die Lichter, denn es war nebelig draußen, und Paul war zeitig aufgestanden, um einige Entwürfe und Rechnungen durchzusehen, die ihm von Dritten zur Prüfung vorgelegt worden waren. Im Comptoir daneben war noch Alles still, auch von den Seinigen wachte noch Niemand. Das Fest hatte lange gedauert; Seba bedurfte jetzt bisweilen doch schon der Ruhe, Davide aber, die es sich sonst nicht nehmen ließ, ihrem Gatten das Frühstück zu bereiten und eine ruhige halbe Stunde mit ihm zu haben, ehe die Geschäfte ihn beanspruchten, war durch den Knaben, den sie selbst nährte, mehr als gewöhnlich wach erhalten worden und hatte sich von ihrem Manne bereden lassen, sich dafür durch ein paar Stunden Schlaf am Morgen zu entschädigen.

Als es acht Uhr schlug und Paul eben die Lichter auslöschte, weil die Sonne die Nebel zu durchdringen und durch die Aeste der prächtig bereiften Bäume freundlich in sein Zimmer zu scheinen begann, meldete der Diener ihm, daß die Dame, die schon gestern dagewesen und die er auf heute beschieden habe, wiedergekommen sei. Paul befahl, sie einzulassen, und sich mit übertriebener Demuth tief verneigend, trat eine große, noch rüstige Frau in Trauerkleidern in das Zimmer.

Mit einer Handbewegung wies der Herr des Hauses ihr einen Stuhl in der Nähe seines Schreibtisches an und fragte dann nach ihrem Begehren.[343]

Ich komme, sagte sie, Ihnen für all das Gute zu danken, das Sie, lieber Herr Tremann, meinem geliebten seligen Manne bis an sein Lebensende erwiesen haben. Daß er so sanft seine alten Tage beschließen konnte, das dankte er ja Ihnen ganz allein und noch auf seinem Todtenbette hat er ....

Lassen Sie das, ich bitte, lassen Sie das! unterbrach sie Paul. Es hat mich gefreut, den alten Mann ohne Sorgen zu wissen. Hat das Geld zu seiner Beerdigung ausgereicht, das ich Ihnen gegeben habe?

Beinahe, beinahe ganz, entgegnete die Trauernde; aber ich wollte nur sagen, noch auf seinem Todtenbette hat der gute Weißenbach den Tag und die Stunde gesegnet, in welcher der Herr Caplan Sie in unser Haus gebracht hat; und er hat auch mich dafür gesegnet und mir es tausend Mal gedankt, daß ich ihn damals überredete, Sie aufzunehmen, denn er hat es nicht gewollt – er hat es nicht gewollt!

Paul hatte sie dieses Mal zu Ende sprechen lassen; nun er schwieg, befand sie sich offenbar in einer Verlegenheit, und er beeilte sich nicht, sie aus derselben zu befreien. Die Kriegsräthin war ihm stets ein Gegenstand der Abneigung gewesen, und ihr jetziges Auftreten war nicht dazu geeignet, diese Abneigung zu vermindern. Der Graf hatte mit seinem Worte Recht gehabt: die schöne Laura verstand es nicht, mit Anstand alt zu werden. Die dicken, falschen Locken, die falschen Zähne, welche in herausfordernder Weiße aus dem stets lächelnden Munde hervorsahen, die geschminkten Wangen und der schäbige und doch auffallende Ausputz ihrer Trauerkleider machten sie lächerlich, während ihre schlecht erheuchelte Betrübniß sie Paul noch widerwärtiger erscheinen ließ.

Wünschen Sie noch etwas? fragte er; sonst bitte ich Sie, mir zu sagen, wie viel Sie für das Begräbniß aus Ihrer[344] Tasche hergegeben haben, damit ich es Ihnen wiedererstatte, denn ich bin beschäftigt.

Sie zog ein Taschenbuch aus dem großen, schwarzen Sammet-Pompadour, blätterte darin herum, nahm einen Bleistift zu Hülfe, rechnete eine Weile, versicherte danach, daß sie im entferntesten nicht darauf gehofft hätte, daß Herr Tremann ihr auch damit noch zu Hülfe kommen wolle, wie sie sich aber in einer Lage befinde, in welcher sie benutzen müsse, was die Großmuth ihrer gütigen Gönner für sie zu thun geneigt sei, und sie schloß endlich mit der Antwort, daß sie fünf Thaler und zwölf Groschen zu der Beerdigung zugeschossen habe.

Paul nahm einen Zehnthalerschein aus seiner Kasse. Als die Kriegsräthin ihre Börse hervorholte und Miene machte, nach dem Gelde zu suchen, welches sie herauszugeben hatte, sagte er ihr, sie möge sich nicht bemühen, sondern den Ueberschuß für etwaige noch nachträgliche Ausgaben behalten. Damit hoffte er, indem er ihr ein Lebewohl bot, ihrer nun auch ledig zu sein. Indeß sie erhob sich zwar von ihrem Sitze, aber sie blieb nahe bei dem Pulte stehen, sah sich im Zimmer mehrmals um, schien gehen und dann doch wieder nicht gehen zu wollen, so daß Paul, obschon er das Erkünstelte in ihrem Betragen klar durchschaute, sich doch veranlaßt fand, sie zu fragen, was sie suche oder was sie sonst noch etwa wolle und begehre.

Was hätte ich hier zu suchen, rief sie mit einem Seufzer, oder was könnte ich Anderes begehren, als Ihnen, mein verehrter Herr Tremann, meine Dankbarkeit für alle Ihre Wohlthaten an meinem lieben, seligen Weißenbach zu beweisen! Und ich glaube, ich kann das, ich kann das wirklich, so wie ja die Maus auch dem Löwen helfen konnte! – Sie sah sich nochmals in dem Zimmer um, trat dann an das Pult heran und sprach: Ich weiß nicht, Herr Tremann, in wie weit Sie von der Liebschaft unterrichtet sind, welche die Cousine und Pflegemutter[345] Ihrer Frau Gemahlin mit dem Grafen Gerhard von Berka seiner Zeit gehabt hat; aber ....

Sie hielt inne, da Paul's finstere Miene ihr Scheu einflößte. Er ließ sie schweigend stehen, denn er war peinlicher berührt, als er es ihr zu zeigen für nöthig fand, und er ging mit sich zu Rathe, ob er sie sprechen lassen oder sie von sich weisen solle. Aber obgleich jedes ihrer Worte ihm durch den Ton und die plötzliche Vertraulichkeit dieser Frau zu einer doppelten Kränkung wurde, entschloß er sich endlich doch, sie anzuhören.

Was bringt Sie dazu, mir die Frage vorzulegen, welche Sie an mich gerichtet haben? fragte er sie.

Meine Dankbarkeit, Herr Tremann, nur meine Dankbarkeit, und, setzte sie hinzu, auch die alte Freundschaft für das Flies'sche Haus. Freilich hat Seba es jetzt ganz vergessen, daß ich's gewesen bin, die sie zuerst unter die Menschen und in die Gesellschaft gebracht hat, und daß ich ihre Manieren und ihre Haltung formirte. Ich habe auch, was an mir gewesen ist ....

Ich bin sehr beschäftigt, unterbrach sie Paul, dem die Weise der Kriegsräthin immer unleidlicher werden mußte, und der zu merken anfing, worauf es abgesehen war. Ich bin sehr beschäftigt, haben Sie also die Güte, Sich an das Wesentliche zu halten, Frau Kriegsräthin!

Wie Sie wünschen, wie Sie wünschen! versicherte sie. Aber, Herr Tremann, erlauben Sie mir nur zu mei ner Rechtfertigung noch ein paar Worte. Sie sind ein erfahrener Mann, Herr Tremann, und Sie haben gewiß die Frauen kennen gelernt. Sie wissen, wie die Mädchen sind. Seba ließ sich nicht abhalten, an den Herrn Grafen zu schreiben, Brief auf Brief und Jahr und Tag. Das war sehr unrecht, und ich sagte ihr immer ....

Und diese Briefe? fragte Paul, der seine Ungeduld nur mühsam unterdrückte.[346]

Die Kriegsräthin schlug die Augen nieder. Diese Briefe besitze ich, sagte sie.

Sie besitzen diese Briefe – Sie? Wie kommen Sie dazu? fuhr Paul auf, dem das Blut in die Wangen stieg, obschon er seiner Empörung und seinem Zorne Gewalt anthat. Wie kommen Sie, Frau Kriegsräthin, zu diesen Briefen?

Sie machte eine Bewegung mit beiden Händen, als wolle sie andeuten, sie könne sich dessen kaum erinnern. Ich fand mich, Sie wissen es ja, Herr Tremann, als mein armer, guter Weißenbach seiner Versuchung unterlegen war, genöthigt, mir mein Brod zu suchen. Da nahm Graf Berka mich als Haushälterin, und ich kann sagen, als eine Freundin in sein Haus, und ....

Und er, Graf Berka, also ist's, der Ihnen diese Briefe übergeben hat? fragte Paul bestimmt.

Die Kriegsräthin schlug voll Demuth ihre Blicke nieder. Der Herr Graf hatte keine Geheimnisse vor mir, sagte sie. Er wußte, daß man mir vertrauen könne, und, fügte sie hinzu, dächte ich nicht, daß ich nicht mehr jung bin, daß der Herr mich abberufen und diese Briefe dann einmal in unbedachte Hände fallen könnten, so hätte ich gegen Sie, Herr Tremann, und gegen Niemanden dieser Angelegenheit erwähnt. Aber Mademoiselle Flies hat mich nicht vorgelassen; hat, als ich ihr geschrieben, meinen Brief zurückgeschickt – was sollte ich da machen?

Paul's Verachtung gegen die Kriegsräthin, seine Verachtung gegen den Grafen, der solche Briefe aufbewahren und sie, wenn man das wenigst Schlimme von ihm denken wollte, so schlecht aufbewahren konnte, daß sie einer Person wie dieser in die Hände fallen mochten, schwellten die Adern auf seiner Stirn.

Wo sind die Briefe? fragte er kurz und kalt.

Die Kriegsräthin brachte aus ihrem Pompadour ein ansehnliches[347] Packet Papiere hervor, das mit einer Schnur über Kreuz zusammengebunden war.

Hier, sagte sie; aber sie reichte sie Paul nicht hin, sondern hielt sie fest, als fürchte sie, daß sie ihr entrissen werden könnten.

Sind das die Briefe alle, welche Graf Berka von Mademoiselle Flies erhalten hat?

Alle, so viel ich weiß.

Paul ging mit sich zu Rathe; die Kriegsräthin verwandte kein Auge von ihm.

Was verlangen Sie für diese Briefe? fragte er darauf.

Die Kriegsräthin ließ einen Ausruf der Entrüstung hören. Sie betheuerte, daß es ihr nur darauf angekommen sei, dem Wohlthäter ihres Gatten ihre gute und anhängliche Gesinnung zu bezeigen, um wo möglich seine Geneigtheit und das Zutrauen, das er doch einst zu ihr gehabt habe, wieder zu erlangen. Sie brachte es endlich bis zu der unter Thränen gethanen Erklärung, daß sie, die Kinderlose, sich immer der Hoffnung hingegeben habe, sich in ihrem Pfleglinge einen Sohn zu erziehen; aber Seba habe sie durch ihr Dazwischentreten auch um dieses Glück gebracht, und sie würde in ihren Herzensergüssen kein Ende gefunden haben, hätte Paul sie nicht noch einmal mit der nackten Frage unterbrochen, was sie für die Briefe fordere.

Ihren Beistand – weiter nichts! rief die Kriegsräthin, sich die Augen trocknend.

Paul schüttelte verneinend das Haupt. Ich bin nicht gewohnt, solche Wechsel in Blanco auszustellen. Nennen Sie die Summe.

Sie haben für meinen Mann so viel gethan ....

Täuschen Sie Sich nicht, Frau Kriegsräthin, ich bin nicht im entferntesten gesonnen, auch nur irgendwie ein Aehnliches für Sie zu thun! bedeutete er ihr.

Aber, hob sie noch einmal an, wenn ich diese Briefe ....[348]

Da hielt sich Paul nicht länger. Wenn Sie die Unwürdigkeit begehen sollten, von diesen Briefen irgend einen Gebrauch zu machen, der Mademoiselle Flies verletzen könnte, so würde ich zunächst den Grafen Gerhard fragen, auf welche Weise Sie in den Besitz derselben gelangt sind! sagte er.

So wahr Gott lebt, ich habe sie von ihm selbst! rief die Kriegsräthin erschrocken aus.

Dann behalten Sie sie; aber ich mache von dieser Stunde ab den Grafen verantwortlich für jeden Mißbrauch, den Sie mit denselben treiben! Und nun, Adieu, Frau Kriegsräthin! – Er drehte ihr den Rücken und wollte das Zimmer verlassen.

Darauf jedoch hatte sie es nicht abgesehen. Sie trat rasch hinzu, legte die Briefe auf sein Pult und sagte: Sie mißtrauen mir, Herr Tremann; aber wie unrecht Sie mir auch thun, ich will es Ihnen nicht vergelten. Da sind die Briefe! Seba soll sehen, ob ich ihre Freundin war und bin. Da sind die Briefe – alle! Thun Sie nun, was Ihnen von Ihrem Herzen und von Ihrer Generosität geboten wird.

Sie blieb stehen. Paul nahm eine Feder in die Hand. Was denken Sie jetzt zu unternehmen, da Ihr Mann gestorben ist?

Der Herr Graf hat mir schon längst dazu verhelfen wollen, daß ich eine Concession erhielte, möblirte Zimmer zu vermiethen; aber um das anzufangen, um die Möbel anzuschaffen ....

Brauchen Sie Geld, natürlich! Wie groß ist die Summe, deren Sie zu bedürfen glauben?

Ich habe mir das oftmals ausgerechnet; dreihundertfünfzig Thaler wären doch das Wenigste – das Allerwenigste! meinte sie.

Paul fand diese Summe viel zu hoch. Nach einigen kurzen Erklärungen wurden sie jedoch des Handels einig. Er ließ sich von ihr einen Schein unterschreiben, daß sie ihm gegen die von ihm empfangene Summe sämmtliche in ihrem Besitze gewesenen Briefe Seba's an den Grafen Berka ausgehändigt habe, so daß,[349] falls noch jemals derartige Briefe zum Vorschein kommen sollten, sie als Fälschung anzusehen wären. Und nachdem die Kriegsräthin sich noch verpflichtet hatte, sich niemals mehr, weder schriftlich noch mündlich, an Seba zu wenden, zahlte er selbst ihr die bedungene Summe aus und entließ sie, froh, sich ihrer endlich entledigen zu können.

Als er allein war, sah er die von der Kriegsräthin nach ihrem Datum geordneten Briefe noch einmal flüchtig an. Die vergilbten Blätter rührten ihn. Er dachte all der trügerischen Hoffnungen, all der verzweifelnden Leidenschaft, mit denen sie geschrieben worden waren, aber er hätte ein Heiligthum zu entweihen geglaubt, hätte er gelesen, was nicht für ihn bestimmt gewesen war. Er nahm das ganze Päckchen, trat an das Feuer des Kamines, warf die Blätter hinein und blieb bei ihnen stehen, bis das letzte derselben in Asche zerfiel und zerstob.

Die Begegnung mit der Kriegsräthin, die ganze Angelegenheit hatte ihn verstimmt; indeß er war mit derselben noch nicht am Ende, denn er hatte seine Abrechnung noch mit dem Grafen selbst zu halten, um Seba wo möglich ein für alle Mal vor den Verletzungen, die ihr von dieser Seite kommen konnten, sicher zu stellen, und er beschloß nach kurzem Ueberlegen, dies sofort zu thun.

»Hochgeborener Herr!« schrieb er. »Ich habe so eben von Ihrer ehemaligen Haushälterin, der verwittweten Kriegsräthin Weißenbach, eine Reihe von Briefen erhalten, die eine edle und von mir hochverehrte Frau in dem Vertrauen jugendlicher Liebe und in dem Glauben an die Ehrenhaftigkeit des von ihr damals geliebten Mannes geschrieben hat. Beides, ihre Liebe wie ihr Vertrauen, waren ein Irrthum, und ich wünsche sie vor jeder unangenehmen Erinnerung an dieselben, wie sie ihr durch die Weißenbach leicht bereitet werden könnte, fortan zu bewahren. Indem ich es unerörtert lassen will, auf welche Weise jene[350] Briefe in die Hände und den Besitz der Kriegsräthin, die sie mir gegenüber als einen Handelsartikel zu betrachten für angemessen hielt, gelangt sind, erlaube ich mir, bei Ew. Hochgeboren anzufragen, ob sich vielleicht noch andere Briefe jener Dame in Ihrem Gewahrsam befinden. Sollte das der Fall sein, so bin ich nach der heute gemachten Erfahrung gezwungen, Ew. Hochgeboren an die Herausgabe dieser Briefe als an die Erfüllung einer sittlichen Pflicht zu erinnern, wogegen ich Ihnen auf mein Wort versichern kann, daß in dem Besitze der betreffenden Dame nichts, gar nichts mehr vorhanden ist, was an Sie erinnern könnte. Ich habe es wohl nicht nöthig, Ew. Hochgeboren noch besonders darauf aufmerksam zu machen, daß die Schreiberin jener Briefe von dem Mißbrauche, der mit denselben getrieben worden ist, nicht Kenntniß hat und nicht Kenntniß erhalten wird. Diese Beleidigung und Kränkung sind von ihr durch mich glücklicher Weise abgehalten worden. Die Angelegenheit ist also zwischen Ew. Hochgeboren und mir zu ordnen, und ich habe dabei nur noch zu bemerken, daß ich der Kriegsräthin gegenüber meine Maßregeln in der Art genommen habe, daß neue Ansprüche und Erpressungen auf Anlaß ähnlicher Papiere von ihrer Seite künftig nicht mehr zu befürchten sind. Ihrer baldigen Antwort entgegensehend

Paul Tremann


Er hatte diesen Brief eben erst einem Boten zur Besorgung gegeben und wollte sich in das Comptoir verfügen, in welchem inzwischen seine Gehülfen angekommen und an ihre Arbeit gegangen waren, als man ihm den Freiherrn von Arten-Richten meldete.

Es war seit lange von der Rückkehr desselben die Rede gewesen, aber sie kam Paul doch jetzt völlig unerwartet, und weil er voraussah, daß die Besprechung, welche er mit Renatus haben mußte, eine längere Zeit erheischen würde, begab er sich erst zu[351] seinen Leuten, um mit ihnen das Nöthige zu bereden und ihnen seine Befehle zu ertheilen, während er den Freiherrn ersuchen ließ, ihn in dem Privatzimmer, in welchem Paul sich bis dahin aufgehalten hatte, zu erwarten.

Renatus war der Gang zu diesem Besuche schwer geworden, und die Bemerkungen des Grafen Gerhard hatten nicht dazu beigetragen, ihm denselben zu erleichtern.

Er war beunruhigt durch den Gedanken, wie Paul im Grunde über ihn und über jene seine Maßnahme urtheilen möge, nach welcher er ihm vor Jahren seine Angelegenheiten anvertraute. Er für sein Theil war jetzt sehr geneigt, diesen Schritt für eine romantische und großmüthige Unbesonnenheit zu halten, um derentwillen er von sich nicht schlechter dachte, die er aber doch bereute. Der Graf hatte ihm mit seiner Schilderung der rastlosen Habgier, die jedem Kaufmanne inne wohnen sollte, ein widerwärtiges Bild in die Seele gedrückt; indeß weder das Haus, in das er getreten war, noch der Raum, in welchen man ihn jetzt gewiesen hatte, stimmten mit des Grafen Voraussetzung zusammen.

Der wohlanständige Hauswart, der ernsthafte Diener in schwarzer, bürgerlicher Kleidung, die mit Teppichen nach englischer Weise belegten Fluren und Korridors, auf denen der Tritt nicht hörbar war, konnten eben so wohl in dem Hause einer Herzogin ihren Platz finden, und dieses Zimmer, in welchem Renatus den Kaufmann zu erwarten hatte, trug vollends ein beruhigendes Gepräge. Die dunklen Tapeten, die zurückgezogenen dunklen Fenstervorhänge, der große Schreibtisch und die wenigen schweren Armstühle, die in dem Zimmer standen, sahen sehr würdig aus. Die großen Special-Landkarten an den Wänden, die nicht unbedeutende Bibliothek, welche die eine Seite des Gemaches einnahm, und eine Reihe von Modellen zu Maschinen, die auf einem der Tische aufgestellt waren, hätten auch in das[352] Zimmer eines Gelehrten gehören können. Renatus, der viel Freude an allem Zusammenstimmenden besaß und durch den Anblick desselben, wie durch eine angenehme Luft, sehr leicht besänftigt wurde, hätte sich wahrscheinlich auch jetzt diesem wohlthuenden Eindrucke bereitwillig hingegeben, hätte ihm nicht die ihm bevorstehende Unterredung mit ihren unerläßlichen Erörterungen gar zu schwer auf dem Herzen gelegen und hätte er es verschmerzen können, daß er hier als ein Fremder auf den Herrn eben dieses Hauses warten mußte, das einst seiner Familie angehört hatte.

Er hatte auf die Einladung des Dieners in einem der alterthümlichen Lehnstühle Platz genommen, die vor dem Kamine standen, und wie er von dem knisternden Feuer zu den Ausschmückungen des Simses hinaufblickte, leuchtete ihm das Arten'sche Wappen mit seinem fortis in adversis, hell von den Flammen angestrahlt, vertraut und doch schmerzlich entgegen. Er zweifelte nicht, daß auch diese hochlehnigen Eichensessel, daß der schwere, schön geschnitzte Tisch, der jetzt den Modellen und Maschinen zum Träger diente, daß diese große, altmodische Uhr einst Arten'scher Besitz gewesen waren, welcher bei der Versteigerung des Hausrathes an die neuen Eigenthümer direkt oder indirekt übergegangen war; und ungeduldig den großen, langsam fortrückenden Zeiger der Uhr verfolgend, wollte er sich eben erheben, als die Thüre, welche nach dem Comptoir ging, sich lautlos öffnete und, eben so lautlos hereintretend, der Herr dieses Hauses vor ihm stand.

Willkommen in Deutschland! sagte er; und ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie warten ließ! Ich war dazu genöthigt, um jetzt völlig zu Ihrer Verfügung zu sein. Seit wann sind Sie zurück?

Renatus antwortete, daß er schon gestern gekommen sei; aber er konnte sich in den geschäftsmäßigen, wennschon sehr[353] verbindlichen Ton des Andern nicht gleich finden, er konnte überhaupt sich noch nicht Rechenschaft von demjenigen geben, was in ihm vorging. Das Arten'sche Gesicht, Paul's mit jedem Lebensjahre wachsende Aehnlichkeit mit dem verstorbenen Freiherrn verfehlten ihre Wirkung auch jetzt wieder nicht auf dessen Sohn. Aber dieser Mann in der dunkeln, bürgerlichen Tracht, auf dessen hoher Stirn die Sorge ihre Spur in leichten Furchen zurückgelassen hatte und in dessen braunem Gelocke hier und da bereits ein weißer Silberfaden schimmerte, war das noch derselbe Offizier, der feurige Krieger, der einst wie ein Sanct Georg mit seinem flammenden Schwerte zwischen Renatus und den Tod getreten war? Auch jenem Jünglinge, mit dem der junge Freiherr einst in Seba's Zimmer so feindselig an einander gerathen war, glich Paul jetzt nicht mehr. Die frische Farbe seines Antlitzes war bleicher geworden, alle seine Züge hatten sich gefestet. Der Mund, der Blick der Augen waren ernster, die Stimme selbst dünkte Renatus tiefer geworden zu sein, und wie ihm damals der Schwung und das Feuer des jungen Fremden eine unruhige Eifersucht eingeflößt hatten, so setzte ihn jetzt etwas Mächtiges, etwas Gebieterisches in dem Wesen dieses Mannes in Verwunderung, obschon er selbst sich ihm gegenüber, in der glänzenden Uniform, in der straffen, regelrechten Haltung, mit dem Degen an der Seite, entschieden als der Vornehmere, als das Mitglied einer höheren Kaste bedünkte. Auch war es ein Ton nachlässiger Vornehmheit, mit welchem er Tremann aufforderte, sich gar nicht zu geniren, er könne warten, denn er habe Zeit.

So besitzen Sie, antwortete Tremann ihm in der früheren, freien Weise, was mir in der Regel fehlt, und ich denke, wir machen uns eben deßhalb gleich an unsere Geschäfte. Wollen Sie ablegen? Ich bitte!

Renatus, der bis dahin nicht ohne Absicht noch immer[354] seinen Säbel an der Seite und seinen Czako in der Hand behalten hatte, hakte den Säbel los, stellte ihn in die Fensterbrüstung, stülpte den Czako darüber, zog die Handschuhe aus, fuhr sich, in den Spiegel blickend, der über dem Kamine hing, einige Male mit der feinen Hand durch sein wohlgepflegtes, blondes Haar und setzte sich dann mit einem unterdrückten Seufzer, wie Einer, der an eine schwere Arbeit geht, an dem Tische nieder, an welchem Tremann bereits vor ihm Platz genommen und auf dem er verschiedene Aktenstücke und Papiere ausgebreitet hatte.

Sie waren eigenthümlich anzusehen, der schöne, kräftige Geschäftsmann, der mit selbstgewisser Sicherheit sich zu seiner Arbeit anschickte, und der jüngere, eben so schöne und kräftige Offizier, dem sich das Unbehagen an dem Ungewohnten, das er über sich zu nehmen hatte, in jedem Zuge ausprägte. Mit jener kurzen Uebersichtlichkeit, zu welcher es nur ein sehr klarer Kopf bei völliger Beherrschung seines Stoffes bringt, setzte Tremann dem Freiherrn den Zustand aus einander, in welchem dessen Vermögensverhältnisse sich befänden. Er wiederholte ihm und erklärte ihm ausführlicher, als es in seinen Briefen geschehen war, daß die allmählich aufgehäufte Schuldenlast und die daraus erfolgenden Zinszahlungen es jetzt völlig unmöglich machten, die Angelegenheiten in der gewohnten Weise fortzuführen, und er kam darauf zurück, daß es großer, durchgreifender Entschlüsse bedürfe, wenn man zufriedenstellende Erfolge erzielen wolle. Er trug die Summen zusammen, welche allmählich auf Rothenfeld und Neudorf aufgenommen worden waren, erinnerte Renatus daran, daß man sein mütterliches Capital, welches der verstorbene Freiherr zur ersten Stelle auf Richten eintragen lassen, noch vor dem Ausbruche des Krieges mit der Zustimmung von Renatus auf eine zweite Hypothek gestellt habe, weil es nothwendig gewesen sei, neue namhafte Capitalien herbeizuschaffen,[355] die man gegen dritte Hypotheken nicht habe erhalten können, und schließlich hielt er dann den gegenwärtigen Werth der Güter jener Schuldenlast gegenüber, welcher dieselbe freilich noch immer überstieg, aber doch nicht mehr in solcher Weise überstieg, daß es für Renatus möglich gewesen wäre, sich noch als einen reichen Mann zu betrachten.

Die unwiderlegliche Gewalt der Zahlen übte auf Renatus in diesem Falle eine erschreckende Wirkung. Indeß er war von Jugend auf gewohnt, mit sicheren Hoffnungen, mit dem Glauben an das Fortbestehen seiner ausgezeichneten Verhältnisse in die Zukunft zu sehen, und sich von dem unangenehmen Eindrucke rasch emporraffend, sagte er mit der vornehmen Leichtigkeit, die er ebensowohl als der verstorbene Freiherr, wenn es ihm paßte, anzunehmen wußte: Das klingt allerdings bedenklich und würde auch bedenklich sein, wenn man genöthigt wäre, in diesen immer noch ungünstigen Zeiten zu dem Verkaufe eines solchen Besitzes zu schreiten; glücklicher Weise ist das nicht der Fall!

Tremann, der mit großem Bedachte und reiflichem Ernste seine Auseinandersetzungen gemacht und sich dabei so schonend als möglich geäußert hatte, weil er gerecht genug war, den jungen Freiherrn nicht für die ungünstige Lage verantwortlich zu machen, in welche seine Güter durch die Schuld seines Vaters gebracht worden waren, fühlte sich durch das ganze Betragen und durch die Leichtfertigkeit des Freiherrn doch bewogen, diese Schonung nicht weiter zu üben, und trocken und ohne allen Umschweif sagte er: Wie die Weltlage und unsere industriellen und gewerblichen Verhältnisse sich mir darstellen, ist ein rasches Steigen der Güterpreise nicht vorauszusehen, und wenn Sie Sich jetzt nicht entschließen, Neudorf und Rothenfeld so bald als möglich zu verkaufen, werden Sie nach drei Jahren nicht mehr im Stande sein, auch nur Richten zu behaupten.

Renatus wurde plötzlich blaß. Er konnte die frühere leichte[356] Weise solchem Ausspruche gegenüber nicht mehr aufrecht erhalten, und Tremann schien es auch gar nicht auf eine Gegenäußerung von ihm abgesehen zu haben. – Ich mußte mich, fuhr er fort, als ich mich, Ihrem Wunsche gemäß, dem Amte unterzog, das mein verstorbener Compagnon nach Ihres Herrn Vaters Tode von Ihnen übernommen hatte, erst selber genauer über eine Menge von landwirthschaftlichen Fragen und namentlich über die Zustände in Ihren Provinzen unterrichten, da man ohne eine vollständige Einsicht in diese Dinge nur ein schlechter Berather sein würde, und der ehemalige Amtmann Ihres Herrn Vaters, der Gutsbesitzer Steinert, ist mir dabei mit seiner Einsicht und, ich darf sagen, mit seinem guten Willen, Ihnen behülflich zu sein, sehr nützlich gewesen. Nach seinen Mittheilungen ist seit fast dreißig Jahren, seit dem Tode Ihres Großvaters, wie Steinert es nannte, so gut wie gar nichts in die Güter hineingesteckt, wohl aber alles aus ihnen herausgezogen worden, was sie irgend herzugeben vermochten. Der Krieg und die untüchtige Verwaltung des jetzigen Amtmanns, mit dem man aus Vorschnelle und Bequemlichkeit, ohne ihn zu kennen, auf lange Jahre hinaus einen Vertrag gemacht hatte, der ihn halbwegs wie einen Pächter hinstellt, der aber keine Caution irgend einer Art geleistet hat, sind unheilvoll dazugekommen. Die Güter befinden sich in dem völligsten Verfalle. Sie haben allerdings in Richten ein großes Schloß, in Neudorf eine Kirche und ein Pfarrhaus, in Rothenfeld die neue katholische Kirche und daneben sogar noch jene Art von Seminar. Das sind Baulichkeiten genug, aber es sind unfruchtbare, geldkostende Gebäude, und es fehlt an allem Nöthigen – es fehlt an Scheunen und an Ställen, es fehlen Wohnungen für eine größere Anzahl Leute, die herbeigezogen werden müßten, wenn man die Verbesserung des Bodens ernstlich betreiben wollte. Man müßte vierzig, fünfzig Tausend Thaler in die Hand nehmen können,[357] um auf den drei Gütern nur die nothwendigsten Gebäude herzustellen. Man müßte eine eben so große Summe anwenden, um ein Vieh-Inventar herbeizuschaffen, wie es einem solchen ausgesogenen Güter-Complexe nothwendig wäre, und müßte die Mittel haben, durch die ersten Jahre nicht nur diesen Viehstand, sondern auch die Leute völlig durchzuhalten, bis die Güter selber den Aufwand wieder tragen könnten. Wo wollen Sie diese Capitalien, diese Mittel finden? Wie wollen Sie es machen, diese neuen Capitalien besten Falles aus dem gegenwärtigen Ertrage der Güter, neben den ohnehin laufenden alten Zinsen zu verzinsen?

Er nahm, da Renatus keine Antwort darauf zu geben vermochte, die Papiere zur Hand, welche den letzten Jahresabschluß des Amtmanns enthielten, und jene andern Berichte, die er sich vierteljährlich von ihm hatte senden lassen. Der gegenwärtige Reinertrag der Wirthschaft hatte, da Renatus sich allmählich in der französischen Hofgesellschaft auch an einen größeren Aufwand gewöhnt hatte, kaum die Höhe der Summe erreicht, welche er sich in den beiden letzten Jahren als Zuschuß nach Paris hatte nachsenden lassen, und um den Haushalt und die Bedürfnisse der Baronin und ihrer Gäste zu bestreiten, hatte man gelegentlich von den Kaufleuten in den kleinen, den Gütern nahe gelegenen Städten einzelne Beträge in verschiedener Höhe entnommen, die sie, weil alle diese kleinen Kaufleute die Vermögenslage des Freiherrn kannten, nur unter den ungünstigsten Bedingungen hergegeben hatten. Sie waren, da auch hier sich Zins zu Zins gefügt, zu einer Summe angewachsen, die Renatus in Erschrecken versetzte, und zum ersten Male seiner selber nicht mehr Meister, rief er, sich gegen die Stirn schlagend: Furchtbar, furchtbar! Da ist ja gar kein Ausweg möglich!

Er war aufgestanden und hatte mit hastiger Hand die Haken und Knöpfe seiner Uniform geöffnet, es wurde ihm angst[358] und bange. Wie verkörpert stiegen die Berechnungen gewaltig vor ihm in die Höhe und drängten auf ihn ein. Alle, alle, alle gegen den Einen, gegen ihn! Hier war für ihn kein Durchhauen möglich – und hier zu unterliegen war nicht, wie in einer guten Sache auf dem Schlachtfelde, eine Ehre – hier zu unterliegen war ein Schimpf!

Tremann, der ihn seit dem Beginne ihrer Unterredung genau beobachtet hatte, errieth und sah, was in dem jungen Freiherrn vorging, und, wie bei allen tüchtigen Menschen, waren seine Theilnahme und sein Mitleid leicht erregbar, wo er an die Möglichkeit einer nachhaltigen Hülfe glauben konnte.

Nur Muth, Herr von Arten! rief er; die Sache steht allerdings nicht sonderlich, doch ist sie keineswegs verloren, noch ist sie zu halten, Sie müssen nur den Muth nicht sinken lassen!

Aber der natürliche und wohlgemeinte Zuspruch brachte auf das jetzt doppelt verletzbare Gemüth des Freiherrn nicht die beabsichtigte Wirkung hervor; denn die feinen Augenbrauen zusammenziehend, sagte er: An Muth hat es noch keinem Arten je gefehlt, und wenigstens diese Eigenschaft unseres Hauses geht mir sicherlich nicht ab.

Tremann ließ diese unberechtigte Gereiztheit völlig unbeachtet. Mit einer beruhigenden Milde, die seinem ernsten Antlitze eine Schönheit verlieh, gegen welche Renatus selbst in diesem Momente sein Auge nicht verschließen konnte, sprach er: Es konnte mir nicht einfallen, Herr von Arten, an Ihrem Muthe, an dem sogenannten Heldenmuthe in Ihnen zu zweifeln, der im entscheidenden Augenblicke mit Selbstvergessenheit sein Leben daran zu geben weiß. Mich dünkt, in dieser Art von Muth haben wir beide Gelegenheit gehabt, unsere Proben abzulegen. Er hielt inne, als wolle er dem Andern die Zeit vergönnen, sich auszusprechen; da Renatus aber schwieg und sein Antlitz sich nicht erhellte, sagte Tremann nachdrücklich, wennschon mit[359] derselben unerschütterlichen Gelassenheit: Es gibt aber einen Muth, der weniger leicht zu behaupten ist, als jener von der fortreißenden Macht einer begeisterten Masse, oder von der Erregung eines gewaltigen Augenblickes erzeugte Heldenmuth; ich meine den moralischen Muth, jenen guten, stillen Muth des Mannes, der seine Ehre darein setzt, sich mit aller seiner Kraft in verschuldetem oder nicht verschuldetem Mißgeschicke zu behaupten, der entschlossen ist, mit jahrelang währender Arbeit, mit Sorgen und Mühen, die Niemand sieht und die in vielen Fällen Niemand sehen und kennen darf, seinen Verpflichtungen zu genügen, und der herstellen und schaffen will, was für ihn und für Andere das Geforderte und Gebotene ist. Fühlen Sie von diesem schweigenden, beharrlichen, recht eigentlich bürgerlichen Muthe etwas in Sich, Herr von Arten – nun, so brauchen Sie über Ihre Lage noch keineswegs zu erschrecken, denn ich wiederhole es Ihnen: noch ist Hülfe möglich!

Renatus konnte sich gegen die Würdigkeit dieses Mannes nicht verschließen, zugleich aber fühlte er jenen hochmüthigen Arten'schen Aberglauben noch einmal in sich rege werden, der erst gestern dem Grafen Gerhard Anlaß gegeben hatte, ihn zu verspotten. Zum zweiten Male stellte dieser Tremann sich zwischen ihn und eine ihm drohende Gefahr. Er hatte ihm im Kampfe der offenen Feldschlacht einst durch seinen Muth das Leben erhalten; weßhalb sollte er von dem Schicksal nicht auch bestimmt sein, ihn eben so vor dem andern Untergange zu bewahren, der ihm jetzt zu drohen schien? Und von der Bewegung, in welche dieser Gedanke ihn versetzte, über seine sonstige enge Schranke des Empfindens fortgerissen, rief er plötzlich: Soll ich Ihnen – er wollte hinzusetzen: eben Ihnen denn Alles zu verdanken haben? – Aber er unterdrückte diesen Zusatz, und obschon Paul das wohl bemerkte, focht es ihn nicht an. Im Gegentheil, dasjenige, was Renatus aufregte, dünkte ihn nur ein ganz Natürliches[360] zu sein. Er hatte dem jungen Manne, der an sich völlig schuldlos an allem demjenigen war, was in Paul's Schicksal mit den Schicksalen der Herren von Arten zusammenhing, mit Gefahr des eigenen Lebens das Leben gerettet; es erschien ihm also, da er sich einmal bereitwillig hatte finden lassen, die Arten'schen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, eben deßhalb jetzt nur folgerecht, daß er, so viel an ihm war, auch dazu that, den Freiherrn auf den Weg zu weisen, auf welchem er sein Leben ehrenhaft und würdig weiter fortzuführen vermochte.

Ich war, hob Paul nach kurzer Unterbrechung also wieder an, da ich nach fast vierjähriger Abwesenheit aus dem Felde kam, Ihnen will ich es zu Ihrer Ermuthigung bekennen, ziemlich in der gleichen Lage, in der Sie gegenwärtig sind. Mein Vorgänger hatte mit den Anforderungen der Zeit nicht Schritt zu halten vermocht, wir waren durch seine Schuld in die bedenklichsten Geschäfte und Unternehmungen verwickelt, es waren bereits große Verluste vorgekommen, und da ich ohnehin nach dem Willen des verstorbenen Herrn Flies die Capitalien seiner Tochter gänzlich aus dem Geschäfte herauszuziehen hatte, fand ich mich nach meiner Heimkehr eines Tages auf dem Punkte, an dem ich, um den augenblicklich auf mich eindringenden Forderungen gerecht zu werden und mit meinem guten Namen auch meine bürgerliche Ehre und meinen kaufmännischen Credit zu erhalten, wie ich es Ihnen eben jetzt gerathen habe, Alles an Alles setzen mußte.

Was heißt das in Ihrem Falle? fragte Renatus mit wachsender Spannung.

Das heißt, daß ich alles, was ich an Fonds, an Papieren, selbst an Immobilien besaß, unter den ungünstigsten Verhältnissen verkaufen mußte, um die auf unsere Firma laufenden Wechsel einlösen und dem Mißtrauen begegnen zu können, das sich durch die in meiner Abwesenheit gemachten unglücklichen Geschäfte und Unternehmungen gegen unser Haus erhoben hatte.[361]

Es kam ein Abend, sprach er langsam und nachdrücklich, es kam ein Abend, an welchem ich, nach Wochen und Monaten voll der schwersten Sorgen, voll schlafloser Nächte, mir sagen mußte, daß ich jetzt fast so pfenniglos da stände, als an dem Tage, an welchem ich in die Welt hinausgegangen war, und mir fehlten jetzt die feurige Hoffnung der ersten Jugend und die zwanzig Jahre voll rüstiger Kraft, in denen ich mir meinen Weg geschaffen und mein Vermögen erworben hatte. Ich besaß an jenem Abende, setzte er nach einem tiefen Athemzuge mit schwerem, gewichtigem Tone hinzu, nicht viel mehr, als das Bewußtsein, das Rechte gethan zu haben, nicht viel mehr, als das unbedingte Vertrauen derjenigen, mit denen ich meine Geschäfte gemacht hatte, und die Ueberzeugung, daß ich mich auf mich selbst und auf meine Arbeitskraft verlassen könne. Das aber ist ein Großes! – Und wieder entstand eine neue Pause.

Trotz seines starken Herzens hatten die Erinnerungen, welche er eben nicht häufig in sich zu erwecken gewohnt war, den ernsten Mann erschüttert, während in Renatus die widersprechendsten Vorstellungen, Gedanken und Empfindungen auf und nieder wogten. Bald fühlte er sich geneigt, sich Tremann mit Bewunderung in brüderlicher Verehrung in die Arme zu werfen; dann wieder bedünkte es ihn, als dürfe er demselben, ohne sich etwas zu vergeben, nicht eine Genugthuung bereiten, deren er jetzt ohnehin schon vollauf genießen mußte; denn daß ein Mann das Rechte um des Rechten willen thun, daß er fördern und Hülfe leisten könne, ohne dabei an sich selbst und an die Wirkung zu gedenken, welche diese Hülfsleistung auf das Gefühl des Geförderten hervorbringt, das einzusehen, dazu war die Seele des jungen Freiherrn nicht gemacht. Und doch fühlte er, daß er nicht schweigen dürfe, daß er Tremann mindestens ein Zeichen seiner dankenden Anerkenntniß schuldig sei.

Ich bewundere Ihre Entschlossenheit, sagte er endlich, und[362] ich wünschte, ich befände mich in so einfachen Verhältnissen, wie Sie, daß ich das Gleiche möglich machen und mich doch behaupten könnte. Unser Standpunkt ist nur wieder sehr verschieden.

Tremann sah ihn prüfend an. Er hörte aus den Worten des Freiherrn, was in dessen Seele vorging, aber er gab nichts auf die hochmüthige und vorurtheilsvolle Ueberhebung, mit welcher jener seine Zustände als ganz besondere von denen des bürgerlichen Kaufmanns abzutrennen suchte; und wie der Arzt die Ungebühr des Kranken nur als ein Krankheitszeichen ansieht, das ihn nicht beirren darf, sagte Tremann: Das ist vielleicht nicht so schwer, als es Sie dünkt, und ich bin bereit, Ihnen meine Ansicht und meine Plane für Sie mitzutheilen, wenn Sie mir vorher ein paar Fragen beantworten wollen. Haben Sie Liebe für das Landleben? Denken Sie, Sich auf Ihren Gütern aufzuhalten?

Ich bin auf dem Lande geboren, und die Herren von Arten haben stets auf ihren Besitzungen gelebt, es ist ein Herkommen unter uns, gab er abermals ausweichend zur Antwort.

Das fing Paul endlich doch zu verdrießen an. Wir haben es hier nicht mit Ihren Familien-Traditionen, Herr von Arten, sondern mit Ihren Möglichkeiten zu thun, sagte er schärfer, als er bis dahin zu dem Freiherrn gesprochen hatte, und zu der Uhr emporsehend, fügte er hinzu, daß ihm in einer halben Stunde eine Geschäftsbesprechung bevorstehe, daß er also genöthigt sei, dem Freiherrn in großen Umrissen die Möglichkeiten und Maßnahmen vorzuzeichnen, mittels deren er es für thunlich halte, die Arten'schen Verhältnisse zu ordnen und durch Rettung eines Theiles des Vermögens die Mittel zu einer allmählichen Wiederherstellung desselben zu gewinnen.

Er rieth, Neudorf und Rothenfeld sofort zu verkaufen. Für Neudorf finde sich in dem Baurath Herbert, der einst die[363] Rothenfelder Kirche aufgeführt und bei der Gelegenheit den Werth der Neudorfer Steinbrüche habe kennen lernen, ein Käufer, da der Baurath mit Andern in Gemeinschaft eine regelmäßige Ausbeutung der Brüche unternehmen möchte. Auch auf Rothenfeld sei ein den Zeitumständen nach recht günstiges Gebot gethan. Nach dem Verkaufe dieser Güter werde Renatus die Möglichkeit besitzen, seine Wechselschulden zu tilgen, die hoch verzinsten Hypotheken von Richten theilweise abzulösen und dann Geld von der Landschaft zu geringern Zinsen auf Richten zu erhalten. Sei dies geschehen, so frage er sich, ob der Freiherr es nicht vorziehe, im militärischen Dienste zu verbleiben, in welchem er sich eine ehrenvolle Laufbahn eröffnet und den Weg zu weiterem Vorwärtskommen gebahnt habe. Man mache an einen Privatmann, welchem Stande er auch angehöre, in einer großen Stadt nicht die Ansprüche, die man gewohnt sei, an die Herren von Arten auf ihrem Schlosse zu erheben. Der Hauptmann von Arten könne in der Stadt sehr standesgemäß mit dem achten Theile der Summe leben, welche der Freiherr von Arten einst in Richten alljährlich ausgegeben habe. Ueberantworte man Richten einem rechtschaffenen und vermöglichen Pächter, nachdem man die Bauten hergestellt, das Inventarium vervollständigt und somit die Mittel vorbereitet habe, welche zur Verbesserung des Gutes unerläßlich wären, so werde man sich in der Lage befinden, jährlich einen Theil der auf Richten dann noch haftenden Schulden zu tilgen. Noch im rüstigsten Mannesalter aber könne Renatus dann wieder Herr eines Besitzes sein, der bei den Fortschritten, welche die Bodenkultur nach den neuen Forschungen und Erfahrungen der Engländer und Franzosen nothwendig auch in Deutschland machen müsse, immer noch ausreichend groß genug sein werde, ihm, wenn er dann den Abschied nehmen und, nach seinem Familien-Herkommen, sich auf seinem Gute niederlassen wolle, auch auf dem Lande ein reichliches Leben möglich zu[364] machen und den Seinen ein schönes Erbe zu werden. Wolle Renatus aber jetzt gleich den Dienst aufgeben, um sich auf sein Stammgut zurückzuziehen, nun, so bleibe ihm nichts übrig, als den Degen ehrlich mit dem Pfluge zu vertauschen, die Landwirthschaft gründlich als einen Beruf zu erlernen, die Bewirthschaftung seines Gutes selbst zu übernehmen und zu sehen, in wie weit es ihm gelinge, mit tüchtigen Gehülfen das Gut zu heben und seine Bedürfnisse mit seinen Einnahmen in das Gleiche zu setzen, wobei denn freilich auch auf die unüberlegten Ausgaben der Baronin Vittoria Rücksicht genommen, und die Erziehung des jungen Freiherrn Valerio in eine andere Richtung als bisher geleitet werden müßte.

Renatus hatte ihm schweigend zugehört. Als Tremann dann geendet hatte, dankte Jener ihm für diese gewiß sehr richtigen und höchst wohlgemeinten Auseinandersetzungen und für seine Rathschläge; aber, sagte er, ich sehe und fühle, wo der Punkt liegt, den Sie bei Ihren Planen für meine Unternehmungen nicht in's Auge fassen und den ich unberücksichtigt zu lassen nicht im Stande bin, ja, den ich, selbst wenn ich es über mein Gefühl vermöchte, nicht unberücksichtigt lassen darf. Mein Onkel, Graf Berka, bemerkte mir gestern mit Recht: dem Kaufmanne, dem bürgerlichen Gewerbetreibenden, Ihnen zum Beispiel, habe alles, was Sie erwerben, nur seinen wirklichen Werth. Alles, was Sie besitzen, ist Ihnen Geld, ist Ihnen Mittel zum Zwecke. Sie geben selbst den erworbenen, liegenden Besitz mit voller Freiheit und ohne jegliches Bedenken auf, sobald es Ihnen paßt, und es ändert sich in Ihrem Sein damit nicht das Geringste, wenn Sie ein Haus, ein Gut kaufen oder es verkaufen und wieder zurückkaufen, wie der Anlaß sich eben dazu bietet. Wir aber, wir befinden uns in einer solchen Lage nicht. Unsere Verhältnisse sind völlig anders. Wir, sagte er mit besonderer Betonung, wir sind durch langjährigen Besitz Eins geworden[365] mit unserem Grunde und Boden, mit unserem Lande und unseren Schlössern. Wir tragen ihren Namen, sie sind unser Unterscheidungszeichen. Ein junger Baum – setzen Sie ihn von seinem heimathlichen Boden fern, wohin Sie wollen – er kann auch in der fremden Erde wachsen und gedeihen. Ein Stamm, der, weithin schattend, durch Jahrhunderte seine mächtigen Wurzeln durch dasselbe Erdreich forterstreckte ...

Geht aus, fiel Paul ihm in die Rede, wenn er den Boden ausgesogen hat, aus dem er seine Nahrung schöpfte.

Das ist wohl möglich, entgegnete Renatus mit einem Ausdrucke von Schwermuth in seiner Stimme, die der Andere an ihm noch nicht wahrgenommen hatte, das ist möglich; aber es ist sicher, wenn Sie es unternehmen, ihn zu entwurzeln und ihn zu verpflanzen. Und tief aufathmend, setzte er hinzu: Sie sprechen zu mir mit einem Antheile, den ich dankbar anerkennen muß. Indeß Sie haben nur die eine Seite meiner Verhältnisse im Auge, und Sie vermögen die andern in ihrer ganzen Bedeutung wohl nicht zu ermessen. Sie sagen mir: verkaufen Sie Neudorf. Aber Neudorf war der erste Besitz unseres Hauses. Der Hochmeister Winrich von Knipprode belehnte im vierzehnten Jahrhundert meinen Ahnherrn, nach der Schlacht von Rudau, mit der Feldmark Neudorf. Neudorf ist seit nahezu vierhundert Jahren unser Eigenthum. Es wäre mir, wenn ich Neudorf fortgäbe, als zöge ich mir den Boden unter den eigenen Füßen fort, um mich darauf zu verlassen, daß ich im Nothfalle fliegen lernen werde. Das vermag ich nicht. Sie sagen mir: verkaufen Sie Rothenfeld, und Sie bedenken nicht, daß in der Rothenfelder Kirche, die meine Eltern aufgerichtet haben, jetzt die Gebeine meiner Eltern, meiner Ahnen ruhen, daß ich von ihnen die fromme Pflicht ererbte, in Rothenfeld eben jenes Stift für katholische Knaben zu erhalten.

Es wird Ihnen das in keinem Falle lange mehr möglich[366] sein, warf Paul abermals dazwischen, auch wenn Sie Sich nicht zu der gedachten durchgreifenden Aenderung vermögen.

Und nun vollends Richten verpachten, das Haus veröden lassen, sagte Renatus wie zu sich selber, das seit mehr als hundertfünfzig Jahren uns von Geschlecht zu Geschlecht geboren werden und sterben sah? Unmöglich, ganz unmöglich – es muß einen anderen Ausweg geben!

Tremann erhob sich; seine Geduld war erschöpft, seine freie Zeit zu Ende. Ich begreife Ihre schmerzlichen Empfindungen, sagte er, und ich hatte nicht erwartet, daß Sie Sich leichten Herzens zu den schweren Schritten entschließen würden. Aber täuschen Sie Sich darüber nicht, Herr von Arten, Sie haben keine Zeit, Sich Ihren Empfindungen zu überlassen. Ich sehe, und es gibt sicherlich für Sie keinen anderen Ausweg, als den, welchen ich Ihnen angedeutet habe. Sie müssen Neudorf und Rothenfeld verkaufen, Sie müssen Richten verpachten, wenn Sie Sich nicht zu persönlicher Arbeit bequemen mögen, die, wie ich fürchte, auch gegen Ihre bisherigen Gewohnheiten und wahrscheinlich ebenfalls gegen die Ueberlieferungen Ihres Hauses verstößt. Ich habe das Amt, mit dem Sie mich betrauten, nur bis zu Ihrer Rückkunft übernommen. Wollen Sie Sorge dafür tragen, daß Ihrer Frau Stiefmutter jetzt ein anderer Curator, Ihrem Bruder baldigst ein anderer Vormund gegeben werde, und wollen Sie es mir ermöglichen, daß ich in Bälde die Papiere, die ich in meiner Obhut habe, einem Anderen, vielleicht weniger Beschäftigten überliefern kann, so wird das meinen eigenen Arbeiten zu Gute kommen und ich werde es Ihnen danken.

Renatus hatte sich jetzt auch erhoben. Er schnallte den Säbel wieder um, nahm den Czako zur Hand, und so auf's Neue in voller Uniform, entschuldigte er sich gegen Tremann, daß er ihn also lange aufgehalten, ohne von seinen guten Absichten[367] und Meinungen den von Jenem erwarteten Nutzen gezogen zu haben. Er versprach, sobald es ihm irgend thunlich werde, Paul's gänzliche Entlastung zu bewirken, verhieß, die Arten'schen Akten und die Vormundschafts-Papiere seines Bruders in kürzester Zeit an sich zu nehmen, und sie trennten sich darauf höflich, aber kalt.

Der Freiherr sprach allerdings dem Kaufmanne seinen Dank und seine Anerkennung zu wiederholten Malen aus; Paul nahm dieselben auch mit seiner gewohnten guten Weise hin, indeß sie waren sich durch diese Begegnung um keinen Schritt näher getreten, sie hatten sich nur weiter und entschiedener als je von einander getrennt empfunden.

Als Paul dann auf der Wendeltreppe, die er sich aus seinem Arbeitszimmer nach Daviden's Wohnstube hatte legen lassen, hinaufstieg, fand er die beiden Frauen seiner bereits wartend. Er umarmte die junge Mutter, reichte Seba die Hand, und als sie ihn mit ihren immer noch schönen Augen ruhig und heiter anblickte, umarmte er auch sie. Er fühlte eine große Zärtlichkeit für sie, weil es ihm gelungen war, von ihrem Herzen eben heute eine Kränkung abzuwenden.

Trotz seiner Freundlichkeit merkte Davide, deren Liebe sie hellsehend machte, dennoch, daß ihm etwas nicht ganz recht sein oder daß er eine Unannehmlichkeit zu überwinden gehabt haben müsse, und sie fragte, um ihm Anlaß zur Mittheilung zu geben, weßhalb er sie also lange habe auf sich warten lassen.

Ich habe verschiedene Besprechungen gehabt, und zuletzt war Herr von Arten, der gestern von Paris gekommen ist, sehr lange bei mir, gab er ihr zur Antwort.

Und wie hast Du ihn gefunden? rief Seba, in welcher die Theilnahme für den Sohn ihrer Angelika sich augenblicklich wieder regte.

Er ist ein schöner Mann geworden, breitschulterig und[368] kräftig, ein sehr schöner Mann, gab er zur Antwort, während er sich zum Imbiß niedersetzte.

Und wie ist er sonst geworden? fragte Jene noch einmal.

Nicht anders, als er gewesen ist. Es geht ihm wie dem Herrscherstamme der Bourbonen, von deren Hofe er nach Hause kommt. Er hat nichts gelernt und hat nichts vergessen.

Was will das in seinem Falle besagen? erkundigte Davide sich, der die Mißstimmung ihres Gatten jetzt erklärlich wurde.

Was das sagen will, mein Kind? Nun, er möchte sein Leben genießen, wie sein Vater und seine Ahnen es genossen haben; möchte wie sie die Herrschaften besitzen und geachtet leben und sterben wie sie. Er hat auch recht viel schöne Empfindungen – nur zur Arbeit hat er keine Lust.

Die Frauen schwiegen. Sie mochten sich erinnern, daß sie es gewesen waren, die Paul gegen seine Absicht überredet hatten, sich mit den Arten'schen Angelegenheiten zu befassen, und da er dieses wohl errieth, sagte er, gleich darauf bedacht, ihnen jede Reue zu ersparen: Macht Euch um meinetwillen darüber keine Sorge, meine Lieben! Ich erleide durch Renatus keine Enttäuschung, habe obenein in dieser Verwaltung mancherlei erfahren und gelernt, das mir gelegentlich von Nutzen sein wird; und auf eine Handvoll Arbeit mehr kommt es mir glücklicher Weise nicht an.

Und Du glaubst, daß er sich nicht rathen lassen, sich nicht ändern werde? erkundigte sich Seba noch einmal.

Nein; denn wie sollten Menschen, die sich für eine besondere Abart halten, sich verständig in die der großen Gesammtheit gemeinsamen Bedingungen der Gegenwart zu schicken wissen? – Er schüttelte das Haupt und sprach danach sehr ernsthaft: Täuscht Euch nicht darin: Alles und Jedes hat nur einen zeitweisen Bestand, eine zeitweise Möglichkeit des Bestehens. So gewiß als die fortschreitende Cultur die gemeinschädlichen Thiere in die[369] Einöden zurückdrängen und endlich völlig ausrotten muß und wird, so gewiß muß und wird die fortschreitende Bildung, die in dem Leisten und Schaffen den höchsten Beruf des Menschen, und in der Freiheit und Genuß bereitenden Arbeit ihre höchste Ehre erkennt, über alle die Geschlechter hinweggehen, die ohne Nutzen für die Gesammtheit leben und, sich von ihr ausschließend, sich hinter Vorrechten und Vorurtheilen verschanzen und halten zu können glauben. Was werthlos für das Allgemeine ist, muß untergehen; und kein Adelsbrief und keine Großthat irgend eines Ahnen kann dagegen schützen, kann die Allgemeinheit schadlos halten für unberechtigte Ansprüche und für hochmüthige Arbeitsscheu. Mögen sie zu Grunde gehen!

Er hatte dieses Verdammungsurtheil, dessen letzte Worte in seinem Munde und in seinem ernsten Tone etwas Gewichtiges und Furchtbares gewannen, noch nicht beendet, als die Wärterin ihm seinen Knaben in das Zimmer brachte. Der derbe Bursche streckte dem Vater die kleinen Arme entgegen, und kaum hatte dieser ihn auf seinen Knieen, als der Knabe sich mit allen seinen Kräften aufzurichten strebte, um das Stück Brod zu erlangen, das in einiger Entfernung vor dem Vater auf dem Tische lag. Die Frauen lachten über die lebhaften, wenn auch noch ungeschickten Bewegungen des kleinen Menschen, und ihm emporhelfend, rief der Vater mit sichtlichem Vergnügen: So recht, so recht, mein Sohn, hilf Du Dir selber zu Deinem Brode – ich hab's eben so gemacht – und ich denke, das soll uns wohl bekommen! Geh' nur gerade darauf los!

Und in bester Laune kehrte er nach kurzer Unterbrechung in sein Comptoir und zu seiner täglichen Arbeit zurück.[370]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 6, Berlin 1871, S. 343-371.
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