Zweites Capitel

[166] Es war spät am Abende, als Paul das Siegel auf den letzten seiner Briefe drückte. Ein Courier, welchen der Feldmarschall in der Frühe des nächsten Morgens in die Heimath entsenden wollte, hatte die Beförderung dieser Briefe zugesagt, und Paul hatte eben seine Feldmütze aufgesetzt, um das Packet, der Sicherheit wegen, selbst in die Kanzlei des Feldmarschalls zu tragen, als ihm unten vor der Thüre seiner Behausung der Postbote ein Schreiben aushändigte, das durch eine Estafette für ihn aus Berlin angekommen war.

Er trat in das Haus zurück, um den Brief zu lesen. Er war von Seba geschrieben und enthielt nichts als die Worte: »Unser theurer Vater ist von einem Schlaganfalle getroffen, man gibt wenig Hoffnung für seine Erhaltung. Er äußert, so weit er sich verständlich machen kann, das Verlangen, Dich zu sehen. Ist es möglich, so kehre heim, wenn auch nur, um wieder fortzugehen. Davide und ich sind wohl.«

Paul las den Brief noch einmal durch, dann steckte er ihn ein, warf sich in den ersten Wagen, dessen er habhaft werden konnte, und befahl, ihn zu dem Commandirenden seines Regiments zu fahren. Aber weder sein General noch sein Adjutant waren in ihrer Behausung anzutreffen, und Paul wollte abreisen, gleich abreisen, und doch nicht ohne Urlaub seine Fahne verlassen. Einen Augenblick stand er unentschlossen da; dann hieß er den[166] Kutscher, ihn nach dem Schlosse hinzufahren, in welchem der König von Preußen Quartier genommen hatte.

Es war, wie er wußte, ein großer Empfang bei dem Könige angesagt, alle anwesenden Fürsten waren eingeladen, der Feldmarschall konnte dort nicht fehlen. Seine Uniform und sein Rang bahnten Paul den Weg. Er wendete sich an einen der dienstthuenden Offiziere und verlangte in dringenden Geschäften mit dem Fürsten Feldmarschall persönlich zu sprechen. Man führte ihn durch verschiedene Galerieen und Säle und hieß ihn warten.

Der ganze vordere Flügel des Schlosses schimmerte in dem Lichtglanze des Festes. Er sah durch die geöffneten Thüren in der Ferne eine große Gesellschaft sich bewegen, reiche Uniformen, prächtig geschmückte Frauen gingen hin und wieder, fröhliche Musik schlug in grellem Gegensatze zu seiner Stimmung an sein Ohr. Die Secunden, die Minuten dehnten sich ihm furchtbar aus, und doch war es nichts Unerwartetes, was er erfahren hatte, nichts, was ihn unvorbereitet fand.

Er hatte sich es oft gesagt, daß sein alter Freund dem Ziele des Daseins nahe sei, ja, er hatte bei den neuen Unternehmungen, in welche er sich eingelassen, stets darauf gerechnet, daß er allein sie durchzuführen haben werde. In mancher einsamen Stunde, an manchem Bivouakfeuer hatte die Sorge ihn beunruhigt, wie die Geschäftsführung möglich sein würde, sollte Herr Flies vom Tode fortgerafft werden, ehe der Krieg beendet und er selber seiner eigentlichen Thätigkeit zurückgegeben sein werde. Und doch war es nicht das, was ihn so ängstlich den Zeiger der Uhr verfolgen ließ. Nicht um Geld und Gut, nicht um Handel und Erwerb war es ihm zu thun in diesem Augenblicke: er wollte sein Theil haben an Seba's Schmerz, an Daviden's Kummer, er wollte sie mit ihnen gemein haben, den letzten Blick und das letzte Wort des Mannes, den auch er wie einen Vater liebte.[167]

Mitternacht war vorüber, als der Feldmarschall rasch und mit festem Schritte, gefolgt von einem Adjutanten, in den Saal trat. Er hatte beim Spiele gesessen, als man gekommen war, ihn abzurufen, und seine zusammengezogenen buschigen Brauen zeigten den Unmuth über die unwillkommene Störung. Wer sind Sie, was wollen Sie? fuhr er den Wartenden an, während er ihn mit dem scharfen Blicke seiner grauen Augen musterte.

Mein Name ist Tremann, ich bin Theilnehmer des Eurer Durchlaucht wahrscheinlich bekannten Handlungshauses Flies und habe seit dem Frühjahre achtzehnhundertdreizehn als Freiwilliger unsere Feldzüge mitgemacht.

Ich weiß, ich weiß! unterbrach ihn, sich erinnernd, der Fürst, und durch den Anblick des Eisernen Kreuzes günstiger für den Sprechenden gestimmt, fügte er hinzu: Sie haben Ihr Kreuz bei Bar sur Aube erhalten, Sie waren verwundet! Was haben Sie zu melden?

Nichts, als daß ich mir den Zutritt zu Eurer Durchlaucht mit einer Unwahrheit verschaffte, weil ich eine Vergünstigung zu fordern habe.

Herr! Reitet Sie denn der Teufel, daß Sie mich dazu um Mitternacht aus des Königs Sälen rufen lassen? fuhr der Alte auf und wollte sich mit einem neuen und noch derberen Fluche entfernen, aber Paul's Anruf hielt ihn zurück.

Ich muß Eure Durchlaucht bitten, mich zu hören, sagte er mit solcher Festigkeit, daß der Feldmarschall sich auf's Neue zu ihm wendete. Nothwendige Geschäfte in der Heimath hatten mich schon vor einigen Tagen bestimmt, um einen dreimonatlichen Urlaub nachzusuchen! Er ist mir noch nicht ertheilt worden, und ich erhalte in diesem Augenblicke die Nachricht von der tödtlichen Erkrankung meines Compagnons! Meinen Regiments-Chef habe ich nicht finden können, und ich muß fort, noch in dieser Nacht fort, denn man verlangt meine Rückkehr und ich[168] erkenne sie als dringend nöthig! Geben Sie mir den Urlaub, dessen ich bedarf!

Ist nicht meine Sache! rief der Fürst. Sehen Sie zu, wie Sie Sich selber helfen! – und abermals wollte er sich entfernen.

Das wird schnell gethan sein, entgegnete Paul, sich leicht verneigend; nur werden Eure Durchlaucht morgen den Namen des preußischen Majors, der aus Ihrer eigenen Hand sein Eisernes Kreuz als Ehrenzeichen empfangen hat, als den Namen eines Deserteurs am Schandpfahle lesen können, denn ich gehe noch vor Tagesanbruch fort!

Der Feldmarschall wendete sich zu ihm zurück. Er war der Mann, jede Art von Entschlossenheit zu schätzen. Und wenn ich Sie verhaften lasse? fragte er, indem er Paul, wie es seine Weise war, mit seiner starkknochigen Hand am Rockknopfe faßte und nahe an ihn herantrat.

So werden Durchlaucht schuld daran sein, wenn ich meinen persönlichen Verpflichtungen nicht eben so wie meinen Pflichten gegen den König und das Vaterland genügen kann! entgegnete er, und ohne dem Feldmarschall Zeit zu einer Antwort zu lassen, fügte er hinzu: Der Lieutenant von der Marwell geht in drei Stunden als Eurer Durchlaucht Courier von hier ab! Geben Sie mir den Urlaub, den ich brauche, und dem Lieutenant die Weisung, mich mit sich zu nehmen. Ich bin des Courier-Reisens aus früheren Zeiten wohl gewohnt!

Der Feldmarschall schien in seinen Erinnerungen nachzuspähen. Tremann, Tremann? wiederholte er, ich habe den Namen schon vorher gehört! Sind Sie der Tremann, durch dessen Hände vor dem Kriege ein Theil unserer Briefe nach Rußland gegangen ist?

Derselbe, Eure Durchlaucht.

Da muß man ihm das Desertiren doch unmöglich machen,[169] sagte der Fürst, sich lächelnd zu seinem Adjutanten wendend, denn der wäre capabel und beginge solchen Streich! Ist ein Stück Papier zur Hand?

Der Adjutant zog seine Brieftasche hervor und riß ein Blatt aus derselben. Der Fürst setzte in die unterste Ecke desselben mit Bleistift seinen Namen und reichte es dem Adjutanten. Schreiben Sie ihm darüber, was er haben will, und der Marwell soll ihn mir vom Halse schaffen, damit er mir nicht wieder die Partie verdirbt!

Er ging mit freundlichem Gruße an Paul vorüber. Drei Stunden später hatte dieser das glänzende Paris verlassen und fuhr an der Seite des preußischen Couriers durch die warme Sommernacht der deutschen Grenze zu.

Er hatte Berlin nicht wiedergesehen, seit er heimlich mit Herrn von Werben aus der Stadt geflohen war. Der Truppentheil, welchem er angehörte, hatte im ersten Feldzuge die Hauptstadt nicht berührt und war achtzehnhundertvierzehn noch am Rheine gewesen, als man die Landwehren auf das Neue zu den Fahnen gerufen hatte, weil Napoleon von Elba zurückgekehrt war und noch einmal die Brandfackel des Krieges über dem kaum beruhigten Welttheile angezündet hatte.

Je näher Paul der Heimath kam, um so banger bewegten Furcht und Hoffnung ihm das Herz. Werde ich ihn noch finden? fragte er sich immer wieder, wenn seine Gedanken eine Weile eine andere Richtung genommen hatten, und es kamen Augenblicke, in denen er dem Schicksal grollte, daß es ihn so, eben so, zu den Seinigen wiederkehren lasse. Er war noch jung genug, um ungern und schwer von seinen Hoffnungen zu scheiden, und er hatte an den Tag, an welchem er inmitten der Landwehr, an der Spitze des Zuges, den er in mancher Schlacht geführt, in die Hauptstadt einziehen würde, oft mit freudigem Vorgefühle gedacht. Dann hatte er sich beschieden, darauf Verzicht[170] zu leisten; aber daß er in solcher Sorge, unter der Pein einer solchen Ungewißheit aus dem Felde wiederkehren solle, dünkte ihn doch hart.

Es war früh am Morgen, als der Feldjäger den leichten Reisewagen vor der Thüre des Flies'schen Hauses halten ließ. Das Schlafzimmer des Hausherrn lag nach der Straße hinaus – die Vorhänge waren heruntergelassen, die Fenster offen. Was bedeutete das? War Alles vorüber, oder war der Kranke so weit genesen, daß man ihm wieder die Wohlthat der sommerlichen Luft und Wärme zukommen lassen durfte, während man ihn vor dem grellen Lichte noch zu hüten hatte? – Das Herz klopfte ihm, als stände er wieder vor dem Feinde, und er stand ja auch vor ihm, vor dem Feinde alles Lebens, vor dem Tode!

Mit raschem Griffe nahm er das wenige Gepäck, welches er mit sich führte, von dem Wagen herunter und eilte in das Haus. Die schwarze Kleidung des Dieners sagte ihm Alles. Er fragte nach den Frauen. Man wies ihn nach dem Gartensaale.

Seba und Davide saßen bei dem Frühstücke. Als Paul in die Thüre trat, fuhren sie beide erschreckend auf. Man hatte ihn so früh nicht zurückerwarten können. Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit sie einander nicht gesehen hatten. Mitten in der Lust eines Festes war er von ihnen gegangen, nun fand er sie im Hause des Todes in tiefer Trauerkleidung wieder.

Ich komme zu spät! – das war alles, was er sagte. Seba gab ihm nur mit leiser Neigung des Hauptes Antwort. Ihr fehlte die Kraft zum ruhigen Worte, und sie wollte ihren Schmerz durch lauten Aufschrei nicht entweihen. Er nahm sie an sein Herz, er küßte ihre Stirn, ihren Mund, er ließ sie weinen, und sie weinte so sanft, so still, als wisse sie sich nun sicher und geborgen vor allem Unheil. Als sie sich, seine beiden Hände zuversichtlich drückend, emporrichtete, trat er an Davide heran, und jetzt erst, da er aus Daviden's hellen Augen die Thränen[171] auf die Wangen niederrollen sah, fingen auch die seinigen zu fließen an.

Liebe Davide! rief er leise, aber es bebte eine unaussprechliche Bewegung durch sein Herz und ein beseligendes Feuer durchströmte sein ganzes Wesen. Er hatte ihre Hände ergriffen und blieb schweigend, in ihren Anblick versunken, vor ihr stehen. Wie oft, wie oft hatte er an sie gedacht, wie oft hatte er sie vor sich gesehen wie an dem Abende, an dem er sich auf dem Balle von ihr getrennt hatte! Nun war er wieder da, und sie stand vor ihm – dieselbe wie sonst, und doch so anders und so viel schöner, als er sie je gedacht!

Liebe Davide! wiederholte er noch einmal, und sie lehnte sich freiwillig an seine Brust, und er fühlte, wie ihre Lippen leise das Eiserne Kreuz berührten, das er auf derselben trug. Mit einer Glücksempfindung, deren er das Menschenherz nicht für fähig gehalten hatte, schaute er in ihr Antlitz, in die Augen, die sich voll sehnsüchtiger Liebe zu ihm erhoben; aber war es die Achtung vor dem Schmerze Seba's, war es ein Zartgefühl, welches ihn hinderte, sich in dem Hause der Trauer einer Freude hinzugeben, oder war es das Bewußtsein, daß dieses schöne Wesen aufhören werde, für sich selber zu bestehen, sobald er es sich angeeignet habe, er vermochte nicht, es in seine Arme zu schließen. Er war befriedigt durch Daviden's bloßen Anblick, beruhigt durch ihre lang entbehrte Nähe und voll großer Freude durch die feste Ueberzeugung, daß zwischen ihr und ihm gar nichts zu sagen sei, daß lautere Klarheit zwischen ihnen herrsche und Einer sich der Liebe des Andern, obschon nie ein Wort davon gesprochen worden, so völlig sicher fühle, wie der unzerstörbaren Gemeinsamkeit ihrer ganzen Zukunft. Er drückte und küßte ihre Hand, dann gehörte er wieder Seba an, und Davide verstand ihn ohne Worte.

Es verging eine geraume Zeit, ehe sie zum rechten Sprechen[172] kommen konnten. Sie mußten sich erst darein finden, daß sie nicht mehr zu Vieren, daß sie nur ihrer Drei in diesem Saale, an diesem Tische bei einander waren. Die verheerendsten Kriege, der Tod von Millionen Menschen, der Sturz der Mächtigen und der Sieg der Gebeugten hatten nichts geändert in diesem stillen Raume. Die chinesischen Blumen auf der Tapete hatten ihre Farben voll bewahrt, die fremdartigen, gemalten Vögel guckten mit ihren starren Augen noch gerade so wie vor dem Kriege von der Decke des Gartensaales herab. Das silberne Theegeräth, die Tassen von sächsischem Porzellan, sie waren für Paul wie für Davide mit ihren schönen Frucht- und Blumen-Zierrathen in ihrer Kindheit Gegenstände der höchsten Bewunderung gewesen, standen wie seit Jahren und Jahren auf der weißen Damastdecke, und doch war das alles nicht mehr dasselbe. Denn des Vaters große Tasse nahm nicht mehr die alte Stelle in der Mitte der Geräthschaften ein, man hatte sie fortgetragen, wohl verwahrt, weil der Vater sie nicht mehr brauchte, weil der Vater nicht mehr da war, weil zwei gute Augen sich geschlossen hatten für immerdar.

Kommt, rief Seba endlich, sich zum Frühstückstische wendend, kommt, Paul hat es nöthig, etwas zu genießen! – Aber es fehlte das Gedeck für ihn. Gib ihm des Vaters Tasse! sagte Seba.

Davide holte sie aus dem Eckschranke herbei. Dem Hausherrn! stand darauf.

Dem Hausherrn! sagte Seba kaum hörbar, während sie mit bebender Hand die Tasse vor dem Heimgekehrten niedersetzte, und allen Dreien stürzten bei dem Anblicke dieses unscheinbaren Geräthes die Thränen aus den Augen, und in allen Dreien stieg sie noch einmal empor, die uralte Klage, daß des Menschen Dasein dahinfährt wie ein Traum und ein Schlaf, daß des Menschen Leben vergänglicher ist, als die vergänglichen Dinge[173] und die zerbrechlichen Geräthschaften, die er geschaffen und deren er sich bediente.

Es kam Paul vor, als sei erst jetzt sein alter Freund gestorben, da man für ihn die Tasse reichte, aus welcher, so lange Jener gelebt, nie ein Anderer getrunken hatte. Er fühlte es in diesem kleinen Zeichen sinnlicher, deutlicher, als in all den Tagen, daß er jetzt das Haupt der Familie sei, in welcher er Schutz und Liebe gefunden, seit er denken konnte, und mit einem schmerzlichen, aber ihn doch erhebenden Gefühle schloß er die beiden Frauen noch einmal an sein Herz.

Er war kein Heimathloser mehr, er stand nicht mehr einsam in der Welt. Sein Leben ward ihm noch wichtiger, er ward sich selbst mehr werth, weil er sich für das Glück der Menschen, die ihm die Theuersten waren, als nothwendig fühlte.

Die drei Jahre waren an Seba nicht spurlos vorübergegangen. Sie hatte sich viel gesorgt, viel durchgemacht, denn es hatte der Arbeit und der Anstrengungen für sie, wie für alle die Frauen der Hauptstadt und des Landes, mehr als genug gegeben, welche die Pflege der verwundeten und kranken Krieger in den überfüllten Hospitälern über sich genommen hatten. Die Fältchen an den Augenwinkeln, die leisen Furchen auf ihrer schönen Stirn hatte Paul früher nicht an ihr bemerkt, und wie das Sonnenlicht nun von der Seite über ihren Scheitel fiel, sah er, daß hier und da ein silberweißer Faden auf ihrem schwarzen Haar erglänzte. Er konnte sich des Erschreckens nicht erwehren. Wie lange war es denn her, daß er Seba an jenem Ball-Abende, an dem des Grafen Gerhard Worte ihn zuerst wieder an seine Mutter und an seine Abstammung gemahnt hatten, in aller Schönheit ihrer Jugend vor sich gesehen hatte? Und nun ergraute schon ihr Haar, nun kam die Reihe bald an sie!

Es that ihm in der Seele weh, denn wo der Tod in einen[174] eng verbundenen Menschenkreis getreten ist, wird man so ängstlich. Jeder möchte in dem Antlitze des Andern lesen können, auf wie lange er ihm noch gegönnt ist, man möchte zusammenrücken, um sich selber die entstandene Lücke zu verbergen, man möchte sich fester, man möchte sich für immer an einander schließen, und man kann sich es bei allem besten Willen nicht vergessen machen, daß kein menschliches Verhältniß unzerstörbar, daß Alles dem Vergehen unterworfen, Alles nur im Augenblicke unser ist, und daß unser sicherer Besitz einzig in der Benutzung dieses Augenblickes und in dem Gedanken der durchlebten Vergangenheit beruht.

Dieses Augenblickes wollte man genießen, man wollte sich gemeinsam der gehabten Ereignisse erinnern. Hatte man doch so tausendfältig oft gewünscht: O, daß er hier wäre! daß ich sie jetzt bei mir hätte! Und wie man nun beisammen saß, hatte man sich nichts zu sagen, weil Jeder nur das Nothwendige und Rechte gethan zu haben meinte, und das Nothwendige und Rechte sich einfach und unauffällig in das allgemeine Thun einfügt.

Paul hatte die Feldzüge mitgemacht, aber das hatten Hunderttausende gethan; er hatte sich tapfer und muthig erwiesen, Andere waren darin nicht hinter ihm zurückgeblieben. Seba hatte mit Selbstverläugnung pflegend und helfend in den Hospitälern gearbeitet, das war nur natürlich gewesen. Ihr Vater war gestorben, ihr Vermögen theilweise verloren gegangen: indeß es weinten unzählige Familien in wahrer Noth um ihre Väter und Versorger, und die kleinen Begegnungen, die wechselnden Ereignisse, deren man sich zu erinnern hatte, kamen in diesen ernsten Stunden des Wiedersehens neben den großen Erschütterungen und Erfahrungen, welche man durchgemacht hatte und in sich nachzittern fühlte, einem Jeden zu geringfügig vor, um ihrer zu gedenken und ihrer zu erwähnen.

Man war stiller als jemals bei einander, bis Paul sich[175] erhob, um sich, wie er sagte, umkleiden und im Comptoir seine Ankunft melden zu gehen.

Es war ein eigenes Gefühl, mit dem er aus dem Gartensaale in die Zimmer eintrat, welche er neben demselben früher bewohnt hatte. Alles lag und stand, wie er es verlassen hatte. Damals freilich war es winterliche Nacht gewesen und das Vaterland hatte unter der Knechtschaft fremder Tyrannei geseufzt, und jetzt leuchtete die helle Sommersonne durch die im Lufthauche spielenden Blätter und Deutschland war frei und sich selber wiedergegeben worden. Aber so warm Paul's Herz auch schlug, wenn er Daviden's und der Zukunft an ihrer Seite dachte, kam er sich doch plötzlich viel älter geworden vor.

Er hatte den Krieg immer als ein Unglück, als ein furchtbares, wenn auch in diesem Falle unvermeidliches Uebel betrachtet und den Frieden oft sehnlich herbeigewünscht, der ihn seinem Berufe und seinem Geschäfte wiedergeben sollte. Jetzt aber war es ihm unheimlich in den stillen, nach dem Hofe hin gelegenen Räumen des Comptoirs, es erschreckte ihn, als er den Geschäftsführer mit seiner unerschütterlichen Gleichmüthigkeit genau auf demselben Platze und in derselben gebückten Stellung wie vor drei Jahren, die eingegangenen Briefe durchsehend, vor sich erblickte, als er den alten Kassirer gerade so, wie er es vor drei Jahren und vor jenen zwanzig Jahren gethan, die Geldrollen über den Zahltisch werfend und die Banknoten musternd wiederfand.

Ein Chronometer, den Seba ihm bald nach seiner Rückkunft aus Amerika geschenkt hatte, stand auf seinem Tische. Er war, wie der Datumzeiger es auswies, wenig Tage, nachdem Paul Berlin verlassen hatte, abgelaufen. Damals war er achtundzwanzig Jahre alt gewesen, jetzt stand er im einunddreißigsten.

Er trat an den Spiegel und betrachtete sich. Das war sonst nicht seine Sache, obschon er wußte, daß er ein schöner Mann sei. Die Uniform dünkte ihm etwas sehr Bequemes zu[176] sein. Er fand sie einfach, zweckmäßig und kleidsam. Sie gefiel ihm heute sehr, und er gefiel sich auch in ihr.

Der treue, ehrliche Rock! sagte er zu sich selber, während er das Eiserne Kreuz von demselben losmachte, um es zu verschließen, und den Rock ablegte, um ihn nicht wieder anzuziehen. Noch vor wenig Tagen hatte er gegen Werben die Freiheit seines kaufmännischen Standes, im Gegensatze zu der Abhängigkeit des militärischen Dienstes, hoch erhoben und Steinert es zugesagt, daß er dessen Sohn in die Bahn des bürgerlichen Lebens zurückführen werde, und jetzt überfiel ihn selber eine Angst vor der Ruhe und Stille, eine Scheu vor der Gleichmäßigkeit der täglich sich wiederholenden bürgerlichen Arbeit.

Vorhin, als Davide sich ihm an das Herz gelegt, hatte ihn die Ahnung ergriffen, wie das Weib sich selber in der Liebe verloren gehe, nun schreckte sein dem Menschen eingeborenes Verlangen, sich in seiner Eigenheit und Freiheit zu erhalten, vor der Aussicht und vor der Nothwendigkeit zurück, sich künftig nicht mehr als nur für sich selber bestehend betrachten zu dürfen, künftig leisten und thun zu müssen, was er im Grunde bisher nur freiwillig gethan hatte, künftig keine Freiheit des Wollens und des Dürfens mehr vor sich zu haben, wenn er einmal aus einem allein stehenden Manne sich zum Gatten einer Frau, zum Begründer und Beschützer einer Familie gemacht haben werde.

Als hätte ein Zauber sie heraufbeschworen, so deutlich traten urplötzlich alle die anmuthigen Begegnungen, alle die hübschen, kleinen Abenteuer und artigen Erlebnisse ihm vor die Seele, welche er als Junggeselle auf seinen vielen Reisen und während seiner Feldzüge gehabt hatte, und er konnte sich eines Seufzers nicht erwehren, wenn er dachte, daß dies nun für ihn zu Ende sein, daß für ihn zum Unrecht werden solle, was ihm bisher eine so reizende Unterhaltung gewesen war. Freilich, er liebte Davide, aber es war keine jener heftigen, unwiderstehlichen Leidenschaften,[177] die er für sie fühlte. Er hegte für sie die zuversichtliche Neigung, die sich nur durch ein langes Beisammensein und durch die Erkenntniß bildet, daß man in allen Fällen auf einander zählen könne. Jung, wie er Davide verlassen, hatte er doch schon ihre Selbstbeherrschung, ihre Festigkeit und ihre Güte bei den verschiedensten Anlässen erprobt, und die Wahrhaftigkeit ihres Herzens, die Unschuld, mit der sie ihm ihre Liebe kund gab, ohne daß er ihr jemals von der seinigen gesprochen hatte, machten sie ihm eben so theuer, als ihre Schönheit sie ihm begehrenswerth erscheinen ließ. Seit Jahren hatte er sich gesagt, daß Davide einst seine Gattin werden müsse, er hatte sich darauf gefreut wie auf den Preis am Ende des errungenen Zieles, wie auf eine letzte Lebenserfüllung. Nun er sich derselben nahe glauben durfte, bangte ihm vor der schwersten aller Aufgaben, vor dem Ausharrenmüssen; und er konnte des beklemmenden Gefühles nicht gleich Meister werden, das ein Jeglicher empfindet, wenn er nach einem viel bewegten, wechselvollen Dasein plötzlich in alte, fest begründete Lebensverhältnisse einzugehen und zurückzutreten hat.

Die Tage der Jugend und der Ungebundenheit sind nun vorüber! rief er, und es war, als ob das unwillkürlich ausgesprochene Wort ihn auch von der augenblicklichen Verwirrung befreie, die ihn befangen hielt. Denn er richtete sich in seiner schönen Kräftigkeit empor und fügte mit plötzlich erheiterter Stirn und gewandeltem Sinne hinzu: So lange hat man für sich selbst gelebt; es ist Zeit, nun für die Andern zu leben! Laß uns sehen, was man für sie werth ist und vermag!

Er hatte inzwischen seine bürgerliche Kleidung angelegt und trat an das Fenster. Heißer Sonnenschein, warmer Blumenduft strömten ihm entgegen. Er blieb einen Augenblick am Fenster stehen und sah in den Garten hinaus. In der Ferne gingen die beiden Frauen vorüber.[178]

Sie tragen den Kranz nach dem Monumente, dachte Paul, und er, der sich so eben noch vor dem Gleichmaße der Tage und vor allem, was sich mit unausgesetzter Regelmäßigkeit zu wiederholen hatte, gescheut, fühlte sich von der beharrlichen Treue gerührt, mit welcher Seba die freiwillig übernommene Liebespflicht erfüllte. Es ist eine geringfügige Handlung, sagte er sich, einmal einen Blumenstrauß auf einen Denkstein niederzulegen; aber durch ein halbes Menschenleben dem Andenken der Hingegangenen die gleiche Erinnerung zu weihen, während man den Pflichten gegen die Lebenden eben so treulich genügt, an jedem Tage den gleichen Weg zu gehen, immer dieselbe kleine Sorge zu tragen, das macht die an sich geringfügige That zu einem das Herz befriedigenden Cultus. Und es sollte nicht dasselbe mit aller unserer Arbeit sein, wenn wir sie, von ihrer Nothwendigkeit wie von ihrem Nutzen überzeugt, mit Liebe und für geliebte Menschen thun?

Er schaute den beiden schönen Gestalten mit Vergnügen nach, wie sie langsam durch die Wege gingen. Es freute ihn, daß er sie wieder sehen konnte, daß er sie heute, morgen, immer wieder sehen würde. Selbst als die Gebüsche unter den Tannen die Frauen seinem Auge entzogen hatten, verweilte er noch an dem Fenster. Die Stille, die über dem Garten ausgebreitet lag, war ihm etwas Neues geworden und erquickte ihn. Er hatte auf so vielen Schlachtfeldern gestanden und sie tönten noch unvergessen in sein Ohr: der Donner des Geschützes, der Weheruf der Verwundeten, das Röcheln all der Sterbenden, die in fremder Erde unter ungeschmückten Gräbern ruhten.

Friede, Friede! rief er und schlug die Hände unwillkürlich, wie beim Gebet in seinen Kindertagen, in einander, Friede und Beharren und Bleiben hier bei den geliebten Menschen, und leben und schaffen mit ihnen und für sie!

Freien und gehobenen Sinnes verließ er seine Zimmer,[179] um gleich an diesem Morgen, gleich in dieser Stunde seine Arbeit zu beginnen. An der Thüre des Comptoirs wendete er sich noch einmal um und blickte durch die Seitenfenster nach dem Garten hinaus. Seba und Davide saßen vor dem Gartensaale, mit Nähterei beschäftigt, bei einander. Aber Paul ging nicht zu ihnen. Er konnte es ja später thun, denn er blieb jetzt hier, und sie waren ihm zu eigen.

Was war gegen eine solche Gewißheit aller überraschende Reiz des Zufalles? Er wiegte sich in dem beglückenden Gefühle dieser Sicherheit, und ihrer wie seiner selbst gewiß, kehrte er, ein reifer Mann, aus dem Felde zu seinem bürgerlichen Berufe zurück.[180]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 6, Berlin 1871, S. 166-181.
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