Achtes Capitel

[253] Der Herbst, welcher im Norden sich nur selten und nie auf lange Zeit als ein freundlicher Vermittler zwischen dem Sommer und dem Winter zeigt, entlehnt in den glücklicheren Himmelsstrichen dem Sommer seine Wärme, dem Winter seine Klarheit, und niemals hatte er schöner und beständiger auf die Erde und auf das ohnehin so freundliche Paris hinabgeblickt, als in dem warmen, schönen Jahre von achtzehnhundert und siebzehn.

Die Blätter waren bereits lange von den Bäumen abgefallen, die Sonne ging schon früh zur Ruhe, aber die Mittage waren noch hell und warm wie in der besten Jahreszeit, und die Herzogin machte noch alltäglich ihre Fahrten in das Freie, obschon eine gewisse Veränderung mit ihr vorgegangen war. Nicht daß ihre Körperkräfte abgenommen hätten. Sie war immer noch um die gewohnten Stunden sichtbar, schrieb Briefe, empfing Besuche, fuhr zu den kleinen Zirkeln des Königs an den Hof; aber wer wie Renatus Gelegenheit hatte, sie genauer zu beobachten, dem konnte es nicht entgehen, daß sie nicht mehr die volle Herrschaft über sich besaß, daß es ihr oft schwer fiel, den Anschein der gleichmäßigen Ruhe zu behaupten, die sonst nie von ihr gewichen war, und daß irgend etwas sie innerlich aufrege und ungeduldig mache.

Trotz der schmeichlerischen Nachgiebigkeit, mit welcher sie Eleonoren begegnete, deren zurückweisende Kälte sich beständig[253] gleich blieb, sah Renatus es, wie unablässig die Herzogin ihre Nichte beobachtete, und so oft die Letztere mit ihm im Besonderen gesprochen hatte, mußte er sich auf irgend welche Erörterungen und Fragen gefaßt halten, die sich stets auf Eleonoren bezogen und denen zu stehen seinem Ehrgefühle allmählich so lästig ward, daß er trotz des Wohlgefallens, welches er an der Gesellschaft der Herzogin hegte, sich oftmals versucht fühlte, auf ihre Gastfreundschaft Verzicht zu leisten. So oft er es jedoch am Abende unerfreulich gefunden hatte, zwischen den beiden einander mißtrauenden Frauenzimmern zu leben, und so oft er es sich vorgenommen hatte, am andern Morgen der Herzogin zu sagen, daß sein Dienst ihn nöthige, ihr Haus zu verlassen und eine Wohnung in der Nähe seines Chefs zu suchen, so fehlte ihm, wenn er das Wort aussprechen sollte, der Muth dazu.

Volle zwei Jahre hatte er jetzt im Hause seiner Beschützerin gelebt, und es lag in den äußerlich ruhigen und glatten Lebensgewohnheiten dieses Hauses etwas Verführerisches, etwas, das ihm die Seele einspann und gefangen nahm. Er konnte sich es gar nicht mehr denken, daß er nicht morgen oder übermorgen und heute eben so wie gestern diese breite und gelinde Treppe hinabsteigen, daß er morgen die Herzogin nicht bei guter Zeit in ihrem Zimmer aufsuchen und sie in ihrer anmuthigen Weise die Vorgänge des Tages und die Ereignisse am Hofe besprechen oder sie von den Zeiten erzählen hören werde, in denen man seines Lebens anders und besser froh zu werden verstanden habe, als jetzt.

Wenn er erwachte, fragte er sich: Wie wird die Gräfin heute aussehen? Was wird sie heute vorhaben und unternehmen? Wenn er in die Gemächer der Herzogin trat, suchte sein Auge Eleonoren, und es kam ihm vor, als beginne sein eigentliches Tagewerk mit der Minute, in welcher er ihrer ansichtig ward, in welcher seine Blicke sich auf der vollendeten Schönheit ihrer[254] Gestalt und ihres Antlitzes ergingen. Sein militärischer Dienst ward ihm jetzt lästig. Der Umgang mit seinen männlichen Altersgenossen, alles, was ihn bei dem ersten Eintritte in Paris und in diese Gesellschaft gefesselt hatte, dünkte ihm nicht mehr wichtig, nicht mehr reizend, wenn es ihn von Hause fern hielt. Eleonore zu betrachten, zu sehen, wie die verschiedenen Gemüthsbewegungen sich in ihrem Angesichte malten, zu errathen, was sie denke, sich vorzustellen, was sie sagen werde, sich zu freuen, wenn seine Voraussicht ihn nicht betrogen hatte und er sich also rühmen durfte, daß er sich in Uebereinstimmung mit ihr befunden habe, das waren ihm Genüsse und Freuden, gegen welche alles Andere für ihn verblaßte.

Er merkte es nicht, daß wieder ein Sommer entschwunden war, daß wieder ein Herbst vorüberging und der Winter seine Herrschaft geltend machte. Er lebte wie in einer besonderen Welt, wie unter dem Einflusse eines Zaubers; und so groß war die Gewalt desselben, daß er sich über den Zustand gar nicht wunderte, in welchem er sich befand, sondern, daß er ihm als der natürliche, als der einzig mögliche erschien. Er war heiter und es war ihm wohl. Das war alles, was er fühlte, was er dachte, wenn nicht Briefe aus der Heimath ihn in seinem Frieden stören kamen.

Eleonorens Herbigkeit hörte allmählich auf, ihn zu verletzen. Er war es gewohnt worden, daß sie ihrer Tante kalt begegnete. Der Stolz, die Herbigkeit paßten so vollkommen zu ihrer eigenartigen Schönheit, und er selber hatte ja seit der Stunde ihres ersten Begegnens sich niemals über sie beklagen dürfen. Wie ihm ihre Weise, so war auch der Gräfin seine Gesellschaft mit der Zeit lieb und vertraut geworden. Sie fragte ihn um die Stunden, welche sein Dienst beanspruchte, sie ließ sich von ihm berichten, was er erlebt hatte, wenn er außer dem Hause gewesen war; er konnte darauf rechnen, daß[255] sie ihn immer, auch in der bewegtesten Gesellschaft, mit Vergnügen in ihre Nähe kommen sah, und wie eine Fürstin gestand sie sich das Recht zu, stets über ihn zu verfügen, sei es, daß sie ihn aufforderte, sie zu Pferde bei ihren Spazierritten zu begleiten, oder daß sie sich ihm im voraus für die Tänze zusagte, für welche sie ihn bei einem bevorstehenden Feste zu ihrem Partner zu haben wünschte. Selbst über seine Anhänglichkeit an ihre Tante rechtete sie nicht mehr mit ihm, weil seine Aufmerksamkeit für die Greisin sie mancher Verpflichtungen und jener kindlichen Dienstleistungen enthob, denen sie sich immer nur widerstrebend unterzogen hatte.

Aber nicht allein Eleonore hatte dem deutschen Edelmanne ihre Gunst zugewendet, der Abbé war ihr darin zuvorgekommen, und es hatte sich zwischen diesen drei, einander durch ihre Lebenslage so unähnlichen Personen eine Freundschaft herausgebildet, welche Niemandem entging und welche die ungeduldige Aufregung der Herzogin veranlaßte. Denn diese Freundschaft konnte ihr, darüber täuschte sie sich nicht, so gefährlich als nützlich werden, konnte ihren Planen dienen oder sie durchkreuzen, und die Fäden, durch welche diese drei Menschen zusammenhingen, waren so eigenthümlich verschlungen, berührten die Wünsche der Herzogin so mannigfach, daß sie Anstand nahm, Hand daran zu legen, während sie es für nöthig hielt, beständig ihr Auge auf dieselben gerichtet zu halten.

Seit ihre Nichte herangewachsen, war die Verbindung derselben mit dem Prinzen Polydor der vorherrschende Gedanke der Herzogin gewesen, und seit man nach Frankreich zurückgekehrt, hatte sie selber den Abbè mit der gegen diesen offen ausgesprochenen Absicht in ihr Haus gezogen, daß er die Bekehrung Eleonorens, welche ohnehin dem strenggläubigen und äußerst kirchlichen Hofe ein wohlgefälliges Ereigniß sein mußte, unternehmen möge. Sie hatte sich dabei sorgfältig gehütet, es dem[256] Abbé zu vertrauen, welche Hoffnungen sie auf Eleonorens Uebertritt zur katholischen Kirche baue, und der gewandte Weltmann hatte zu viel Umsicht und zu viel gute Erziehung besessen, um errathen zu lassen, daß ihm klar sei, was man ihm zu verbergen noch für angemessen fand. Nur von Eleonorens Seelenheil war zwischen ihm und der Herzogin die Rede gewesen, nur im Hinblick auf dieses hatte die Herzogin die Besorgniß ausgesprochen, daß ihr und des Abbé's Einfluß auf Eleonore sich nothwendig jetzt verringern dürfte, da Eleonore mit ihrem letzten Geburtststage ihre gesetzliche Volljährigkeit erreicht habe, nach welcher es allein von ihrem Ermessen abhing, ob sie noch in Frankreich, ob sie in dem Hause ihrer Tante bleiben, oder dasselbe verlassen wolle, um ihren Wohnsitz in ihrem englischen Stammschlosse oder wo sonst immer aufzuschlagen.

Indeß der Tag ihrer Volljährigkeit war zu Ende des Jahres achtzehnhundert und siebzehn vorübergegangen, und die Gräfin, welche diesen Tag sonst so lebhaft herbeigesehnt hatte, verweilte noch in Frankreich, verweilte noch im Palast Duras. Sie schien jetzt den Aufenthalt in demselben nicht mehr so drückend zu finden, als sonst. Aber wie sehr die Herzogin auch gewünscht hätte, vermochte sie dennoch nicht, diese Sinnesänderung auf ihre Rechnung zu schreiben oder als eine ihren Absichten günstige zu deuten. Selbst ein weniger scharfes Auge und eine Frau, die weniger herzenskundig gewesen wäre, als sie, konnte sich nicht darüber täuschen, was Eleonore in ihrem Hause festhielt, und doch konnte sie trotz der Besorgnisse, welche sie erfüllten, gar nichts thun, dieselben zu vermindern. Sie hatte sich selbst die Hände gebunden und sich mit gebundenen Händen an eine Kraft und an eine Energie überantwortet, welche die ihrige um ein Großes übertrafen.

Wenn die Herzogin ihre Nichte darauf aufmerksam zu machen versuchte, daß deren Gesinnungen in Bezug auf die[257] katholische Kirche und ihr Mißtrauen gegen den katholischen Klerus sich wesentlich geändert hätten, so entgegnete Eleonore ihr, daß sie mit ganzem Herzen an ihrem alten Bekenntnisse festhalte. Sie versicherte, daß zwischen ihr und dem Abbé von religiösen oder gar von kirchlichen Fragen äußerst selten die Rede sei und daß sie keinen Anlaß habe, von dem Klerus, dessen Thun und Treiben ihr verdächtig und unheilvoll erscheine, eine bessere Meinung zu fassen, weil ihr das seltene Glück zu Theil geworden sei, unter demselben einem Manne zu begegnen, dessen tiefe Bildung und Gelehrsamkeit sie fördere, und dessen weiter, freier Blick sich über die engen Schranken zu erheben wisse, in welche der Beruf, den er vielleicht zu frühzeitig und ohne genaue Kenntniß seiner eigenen Begabung und Natur erwählt habe, ihn zu bannen strebe. Rühmte man in Eleonorens Beisein, wie man es überhaupt zu thun gewohnt war, die strengen Gesinnungen und den kirchlichen Eifer des Abbé, so schien seine junge Anhängerin dies nicht zu hören, und die Herzogin, der nichts entging, hatte es bei den mannigfachsten Anlässen wahrgenommen, wie der schnelle und leuchtende Blick ihrer Nichte dann das Auge des Geistlichen suchte und von ihm mit einem verständnißvollen Lächeln begrüßt und aufgenommen wurde.

Eleonore hatte es auch durchaus kein Hehl, wie sie den Abbé hochschätze und verehre. Sie rühmte es von ihm und auch von sich, daß die völlige Verschiedenheit ihrer religiösen Ueberzeugungen, daß die Ungleichheit ihres Alters und ihrer Lebensverhältnisse sie nicht gehindert habe, Freunde zu werden, weil sie beide selbstgewisse und ein Ziel verfolgende Charaktere seien; und wenn die Herzogin ihr warnend zu überlegen gab, wie eine solche Freundschaft ihre Gefahren für beide Theile habe, so antwortete die Gräfin mit der Entschiedenheit, welche ihr angeboren und in den letzten Jahren unter der Leitung ihres neuen Freundes noch sehr gewachsen war: sie zweifle nicht, daß[258] eine solche Erinnerung für die meisten Fälle sehr berechtigt wäre; sie aber kenne den Abbé, und dieser kenne sie. Man möge sie gewähren lassen, wenn man sie nicht zwingen wolle, sich durch eine Uebersiedelung in ihre Heimath jeder lästigen Beeinflussung für immer zu entziehen und ihre Freunde, denn auch Herr von Arten sei ihr ein werther Freund geworden, in der ihr wünschenswerthen Unabhängigkeit und Freiheit in Haughton Castle zu empfangen.

Je länger diese Verhältnisse bestanden, um so beunruhigender wurden sie für die Herzogin. Sie mußte sich sagen, daß ihre Nichte nur deshalb noch in ihrem Hause lebe, weil sie voraussehe, daß der Abbé sich nicht leicht entschließen würde, den Hof zu verlassen und auf die Vortheile zu verzichten, welche die stets wachsende Gunst des Königs ihn und durch ihn seine Kirche hoffen ließ. Wollte die Herzogin ihre alten Plane noch zur Ausführung bringen, so mußte sie jetzt mehr als jemals darauf denken, den Abbé selber zu ihrem Werkzeuge zu machen. Dieses zu ermöglichen, gab es aber nur noch Einen Weg, und sie beschloß, ihn einzuschlagen.[259]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 6, Berlin 1871, S. 253-260.
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