Eilftes Capitel

[329] Renatus langte an dem Abende in lebhafter Aufregung in seiner Wohnung an. Er hatte, seit er die Familie Flies besuchte, öfters von dem jungen Freunde Seba's, von dem Kaufmann Paul Tremann und von dessen bevorstehendem Eintritte in das Flies'sche Geschäft reden hören; da er jedoch sehr auf sich und seine Angelegenheiten gestellt war, hatte er wenig Achtsamkeit auf dasjenige, was ihn nicht persönlich anging, und der schlichte Name eines bürgerlichen Kaufmanns zog ihn nicht besonders an. Der Name irgend eines Edelmanns, irgend ein bedeutender Titel würden ihm weniger leicht entgangen sein.

Nun hatte das Zusammentreffen mit Paul ihn erschüttert und erschreckt zugleich. Nur eines Augenblickes hatte Renatus bedurft, um alle seine Erinnerungen wachzurufen und sie mit dem gegenwärtigen Eindrucke in Verbindung zu bringen. Er konnte nicht daran zweifeln: der Fremde, der mit so stolzer, selbstgewisser Haltung vor ihm gestanden hatte, war jener Knabe, den er einst in dem Flies'schen Laden gesehen, war derselbe, dessen völlige Aehnlichkeit mit seinem Vater ihm schon damals aufgefallen war, dessen Anblick seine Mutter auf das Krankenlager geworfen hatte, von dem sie nur für kurze Zeit erstanden war. Dieser junge Kaufmann war seines Vaters Sohn, der Sohn jenes Frauenzimmers, das sich in eifersüchtiger Verzweiflung das Leben genommen und an dessen eingesunkenem Grabe in der Ecke des Neudorfer Friedhofes Renatus einmal in seiner Knabenzeit von[329] dem Jäger, der einst selbst ein Auge auf Pauline gehabt hatte, den ganzen Vorgang und Zusammenhang erfahren. Der Jäger hatte den Sohn Paulinen's wohl gekannt und hatte es bedauert, daß der arme Schelm wie seine Mutter um's Leben gekommen sei; und nun stand jener Todtgeglaubte plötzlich vor dem jungen Freiherrn, ganz unverkennbar seines Vaters Sohn.

Renatus konnte sich nicht erklären, was ihm das bloße Dasein dieses Mannes so widerwärtig machte. Es drohte seinen Rechten, seinem Besitze, seiner Stellung durch den Bastard seines Vaters nicht die mindeste Gefahr. Er hatte es durchaus in seiner Macht, die Begegnung mit Tremann zu vermeiden oder ihn nicht zu beachten, wenn der Zufall sie zusammenführte; aber trotz seiner Abneigung gegen Paul verlangte ihn danach, auf's Neue mit ihm zusammenzutreffen, weil ein unabweisliches Gefühl ihm sagte, daß er neben jenem nicht zu seinem Vortheil erschienen sei. Er wünschte, durch die Ueberraschung nicht mehr befangen, und Herr über sich und seine Mittel, sich abermals mit Paul messen zu können, um ihm seine Ueberlegenheit fühlbar zu machen.

Wie das geschehen sollte, davon hatte er freilich keine rechte Vorstellung; aber das eben peinigte ihn und regte ihn auf. Es war ihm zuwider, daß Paul ihn an Stattlichkeit des Aeußern so weit übertraf, daß er seinem Vater so ähnlich sah. Der vorzügliche Geschmack, mit welchem Paul sich kleidete, die sorglose Leichtigkeit, in der er sich bewegte, die Freiheit und Bestimmtheit, mit denen er sich äußerte, die Geltung, deren er genoß, und vor Allem die spielende, freundliche Heiterkeit, mit welcher der junge Kaufmann seinem beginnenden Streite mit dem Freiherrn vorzubeugen getrachtet hatte, verdrossen den Letzteren, wie ihn selten etwas verdrossen hatte. Er wollte nicht geschont sein, von diesem Manne am wenigsten geschont sein! Und wie er sich auch in einzelnen Augenblicken das Thörichte dieser Abneigung[330] klar zu machen suchte, er konnte nicht Herr über seine Mißstimmung und über seine Aufregung werden.

Es war schon spät gewesen, als er nach Hause gekommen war, denn die Gesellschaft war bei Seba lange zusammengeblieben, und es dünkte Renatus, als habe er Davide nie so reizend als eben an diesem Abende gesehen. Er hatte sie immer schön gefunden, aber die Freundschaft, welche er für seine Jugendgenossen, für die Gräfinnen Hildegard und Cäcilie hegte, hatte ihn im Ganzen wenig empfänglich für die Reize anderer Schönheiten gemacht, und seit er sich in seinem Herzen eingestanden, daß er Hildegard liebe, seit er in sich beschlossen, daß sie einst seine Gattin werden solle, hatte er andere Mädchen kaum noch beachtet.

Er würde wahrscheinlich auch an diesem Tage sich, wie immer, mehr zu Seba und zu den älteren Frauen gehalten haben, wäre ihm nicht die schüchterne Freundlichkeit aufgefallen, mit welcher Davide Paul begegnete. Er hatte es sonst nicht ohne Erstaunen gesehen, wie dieses junge Mädchen sich seiner Schönheit bewußt war, wie es den Eindruck kannte, den es auf die Männer machte, wie es Alt und Jung in der ihm angemessen dünkenden Entfernung zu halten und sich mit großer Sicherheit seine Freiheit vor jedem ihm nicht erwünschten Anspruche zu bewahren verstand. Niemand hatte sich rühmen können, von Davide eine besondere Beachtung zu erhalten, und war es Renatus je einmal vorgekommen, als beweise sie sich gegen einen Andern freundlicher denn gegen ihn, so hatte er dabei kein Arg und keine unangenehme Empfindung gehabt, denn man entbehrt nicht, was man niemals begehrte. An diesem Abende jedoch war es ein Anderes gewesen.

Gleich als man aus Seba's Cabinet in die große Stube gekommen, war Davide, ohne sich um die Uebrigen zu kümmern, auf Paul zugegangen, hatte ihm die Hand gereicht, ihm von dem Theater, von ihrer Freude an der Musik und von ihrem[331] Vergnügen, ihn zu Hause zu finden, gesprochen, und dieser hatte das hingenommen, als komme ihm das zu, als sei Davide eben noch das Kind, als welches sie sich gegen ihn bezeigte, und als thue er ihr einen Gefallen, wenn er ihrem freundlichen Geplauder sein Ohr nicht versage.

Renatus hatte sich darüber geärgert, das schöne Mädchen hatte ihm leid gethan. Er hatte es durch seine Höflichkeit und Achtsamkeit für Paul's Vernachlässigung entschädigen wollen. Aber Davide mußte ein solches Verhalten von dem Amerikaner wohl gewohnt sein und in der Ordnung finden, denn sie nahm die geflissentliche Annäherung des jungen Freiherrn gleichgültig auf und verließ ihn mitten in der Unterhaltung, um für Paul unaufgefordert die Zeitung zu suchen, nach der er im Gespräche mit andern Männern den Diener gefragt hatte, der den Thee herumgab. –

Die Uhr schlug Stunde auf Stunde, der junge Freiherr konnte keine Ruhe finden, kein Schlaf wollte ihm kommen. Er wurde die Vorstellung nicht los, daß er von Paul beleidigt worden sei, daß er von Davide eine Kränkung erfahren habe, und je länger er an diese dachte, um so anziehender dünkte sie ihn, um so mehr wünschte er, sich von ihr ausgezeichnet und dadurch zugleich an Paul gerächt zu sehen. Er ging im Geiste alle die einzelnen Aeußerungen durch, die er an dem Abende von Davide gehört hatte, und sein Mißmuth wich davor. Er mußte bei sich selber über die kecken Abfertigungen lachen, mit denen sie Herrn von Castigni's gedrechselte Complimente aus dem Felde geschlagen hatte; er konnte sie sich deutlich vorstellen, alle ihre artigen Kopfbewegungen und das anmuthige Spiel ihrer schönen Hände, die sie, nach Art der Jüdinnen, bei dem Sprechen mehr als die deutschen Frauen brauchte und bewegte. Als der Tag herankam und er endlich müde zu werden begann, ertappte er sich darauf, daß er ihr eine dieser Handbewegungen nachzumachen[332] versuchte, und als er dann, weil dieser Versuch ihn thöricht dünkte, seine Gedanken, wie er das zu thun gewohnt war, vor dem Einschlafen auf die Geliebte richten wollte, von der zu träumen ihn sonst so glücklich machte, konnte er Hildegard's Bild aus seinem Innern nicht erzeugen. Alle Anstrengungen halfen ihm nichts; es waren immer nur Davide oder Paul, die er vor Augen hatte, und selbst im Schlafe gaben diese beiden ihn nicht frei.

Unerquickt erwachte er am Morgen erst, als es Zeit für ihn war, sich zur Parade ankleiden zu lassen. Während dessen brachte ihm der Diener des Grafen Gerhard eine Einladung, mit demselben zu Mittag zu speisen. Sie kam dem Freiherrn sehr gelegen, obschon er sonst nicht viel Verkehr mit seinem Onkel hielt, ja, ihn eigentlich, so viel er konnte, zu vermeiden suchte. Aber er fühlte eine Neigung, sich gegen Jemanden über sein unerwartetes Zusammentreffen mit Paul auszusprechen, und in seiner Schlaflosigkeit hatte er dabei wiederholt an seinen Onkel gedacht, der, wie er mit Sicherheit annehmen zu können meinte, um alle jene Ereignisse und Verhältnisse wissen mußte, so daß Renatus sich keinen Mangel an Verschwiegenheit vorzuwerfen brauchte, wenn er dem Grafen von dem gehabten Erlebnisse Kunde gab.

Er war froh, als die Stunde der Parade vorüber war und er sich nach derselben, wie er seit dem Herbste pflegte, zu der Gräfin begeben konnte; da diese aber mit der jüngsten Tochter ausgegangen, und er Hildegard ihn erwartend und allein fand, war es ihm nicht recht. Er fragte, weßhalb sie die Mutter nicht begleitet habe; sie antwortete ihm, wie sie es vorgezogen, unter einem leichten Vorwande zurückzubleiben, um ihn zu erwarten, und das war ihm noch weniger genehm. Er meinte, so zuversichtlich erwartet zu werden, habe für ihn etwas Beängstigendes und lege ihm einen peinlichen Zwang auf. Sie entgegnete,[333] daß sie ja nicht böse sei, wenn er einmal nicht kommen könne, und daß es ihr doch in jedem Falle Vergnügen mache, sich den ganzen Morgen mit einer angenehmen Hoffnung zu tragen.

Sie blickte ihn dabei freundlich an und mochte dafür ein begütigendes, ein zärtliches Wort von ihm erwarten; er blieb aber eine Weile still sitzen und äußerte danach, es sei für ihn übel genug, daß er, ohne Neigung zum Soldatenstande, durch seines Vaters Willen an des Dienstes immer gleich gestellte Uhr gebannt sei, wie es im Dichter heiße, und weil er nach der einen Seite also völlig gebunden sei, müsse er nach der andern Seite, müsse er in seinem übrigen Leben durchaus seine Freiheit bewahren, denn ohne Freiheit erlahme der Mann. Er habe ohnehin immer zu wenig Freiheit gehabt, er sei zu Hause unter der Aufsicht des Caplans wie ein Gefangener gehalten worden; sein Vater habe in dem Alter, in welchem er sich jetzt befinde, halb Europa durchreist und Welt und Menschen gekannt: er hingegen habe noch nichts gesehen, nichts erlebt, und wie unerwünscht es ihm auch sei, mit dem französischen Heere gegen Rußland zu kämpfen, so freue er sich eigentlich doch auf diesen Feldzug, weil er ihn aus dem Gleichmaße der Tage herauszureißen und in das offene, bewegte Meer des Lebens zu bringen verspreche.

Hildegard hörte ihm mit stummer Verwunderung zu. Sie konnte nicht begreifen, was mit ihm geschehen war. Nie zuvor in seinem Leben hatte er ein solches Verlangen nach Freiheit ausgesprochen, er war auch mit seinem Loose nie unzufrieden gewesen, und daß er jetzt den Krieg ersehnte, nur weil er ihn in die Welt und von ihr fortführen sollte, das kam ihr so unerwartet, that ihrem zärtlichen Herzen so weh, daß sie sich still auf ihre Arbeit niederbeugte, damit er es nicht sehen sollte, wie sich ihr die Thränen in die Augen drängten. Trotzdem gewahrte er es; indeß statt ihn zu rühren, war ihr Weinen ihm verdrießlich.[334] Er hatte mit sich selbst genug zu thun und fühlte nicht Lust, sich als den Tröster der Geliebten zu bethätigen. Aber während er dieses dachte, fiel es ihm ein, daß er ja überhaupt noch keine bestimmte Verpflichtung gegen dieses Mädchen habe. Er hatte sich niemals entschieden gegen Hildegard erklärt, niemals von seiner Liebe zu ihr gesprochen, und daß die unschuldigen Zärtlichkeiten, an die sie sich von Kindheit auf gewöhnt hatten, in der letzten Zeit einen wärmeren Charakter angenommen, das hatte Hildegard eben so wohl zu verantworten, als er. Er konnte es sich in dem Augenblicke nicht einmal recht deutlich machen, wie er mit seiner Jugendfreundin eigentlich auf den gefühlvollen Ton gekommen sei; um so bestimmter erinnerte er sich daran, daß Graf Gerhard ihm gerathen, sich vor einer Verbindung mit den Rhodens in Acht zu nehmen, und daß eine solche für ihn nicht vortheilhaft sei, das mußte er sich in seiner jetzigen Stimmung selber sagen.

Gestern, als der Amerikaner, wie Renatus in seinem Innern Paul beständig nannte, seinen Erwerb und seinen Vortheil mit so dreister Sicherheit als Beweggrund für sein ganzes Thun aufgestellt hatte, war Renatus dadurch im höchsten Grade abgestoßen worden. Indeß schon während seiner nächtlichen Ueberlegungen war ihm die Sache in einem milderen Lichte erschienen. Paul mißfiel ihm deßhalb um nichts weniger, er konnte sich jedoch der Einsicht nicht verschließen, daß unabhängiger Besitz Freiheit verleihe. Er dachte jetzt daran, wie königlich frei sein Vater durch den früheren Reichthum seines Hauses gewesen sei, um es zum ersten Male mit einer Art von Bitterkeit zu beklagen, daß ihm bei Weitem nicht mehr das gleiche Vermögen und damit auch nicht mehr die schöne Selbstherrlichkeit wie seinem Vater zu Gebote stehe.

Hildegard sann während dessen schweigend darüber nach, was sie denn gethan oder gesagt habe, den Geliebten zu verstimmen.[335] Sie konnte jedoch nichts auffinden, was irgend einen vernünftigen Anhalt oder einen Grund für die üble Laune desselben darbot, und sie fing an, zu glauben, daß ihm durch Dritte oder durch ein ihr unbekanntes Erlebniß Verdruß bereitet worden sei. Mit geduldiger Freundlichkeit fragte sie ihn also, was er heute gethan, wie er sich am gestrigen Abende im Flies'schen Hause unterhalten habe, und da sie immer nur einsilbige, ablehnende Antworten erhielt, erzählte sie, um sich über einige Minuten fortzuhelfen, daß die Mutter den jungen Freund von Seba Flies sehr schön und sehr anziehend genannt und daß sie gemeint habe, die Flies hätten ihn gewiß für Davide zum Manne bestimmt, weil der alte Herr Flies ihn in sein Geschäft aufnehme.

Unmöglich, ganz unmöglich! rief Renatus mit einer Heftigkeit, die Hildegard noch unbegreiflicher als sein ganzes bisheriges Betragen erschien.

Weßhalb denn unmöglich? Die Mutter hielt es für das Natürlichste!

Mich dünkt, ein Mädchen von Davidens Schönheit, das einst neben ihrem Vermögen voraussichtlich auch noch das ganze Flies'sche Vermögen erbt, hat andere Ansprüche zu machen und kann einen besseren Mann bekommen, als einen Menschen ohne Familie, einen Abenteurer. –

Renatus! rief Hildegard, ihr Erschrecken unter einem erzwungenen Lachen verbergend – Du thust ja wirklich, als ob Davide unter einer Schaar von Edelleuten und Grafen nur zu wählen hätte! Du vergissest wohl, daß sie eine Jüdin ist!

Durchaus nicht! Sie würde nicht die erste Jüdin sein, die einen Edelmann geheirathet hat! entgegnete er ihr.

Nun, vielleicht entschließest Du Dich selbst dazu! sagte Hildegard mit bitterem Spotte, da sie ihre Bewegung nicht mehr bemeistern konnte und zuversichtlich glaubte, es bedürfe eben nur eines solchen Wortes, um Renatus, dem der Gedanke an eine[336] nicht standesmäßige Heirath gar nicht kommen konnte, zur Besinnung zu bringen. Aber sie verfehlte ihren Zweck, denn Renatus, der seit gestern Abend nur darauf gewartet hatte, einen Ableiter für seinen Unmuth zu finden, und der, wie alle in der Kindheit verwöhnten Menschen, selbstsüchtig genug war, auch Andere leiden sehen zu wollen, wenn er selber litt, sagte gleichmüthig: Es wäre vielleicht das Gescheiteste, was ich thun könnte, und Davide ist schön genug dazu.

Kaum war das Wort aber von seinen Lippen entflohen, so bereute er es, denn Hildegard brach in Thränen aus und wendete sich von ihm ab. Das konnte er nicht gut ertragen. Sie hatten als Kinder und auch später wohl bisweilen einen Streit mit einander gehabt, indeß Hildegard hatte dann immer mit der Bemerkung, daß sie die Aeltere und Verständigere sei, eingelenkt und nachgegeben. Er dachte, sie solle das auch heute thun, und er war bereit, sie dann um Verzeihung zu bitten und zu versöhnen. Er vergaß nur, daß sie jetzt in einem andern Verhältnisse zu einander standen, daß die einstige Jugendfreundin sich jetzt als seine Erwählte betrachtete und daß die Liebe oft weniger nachsichtig als die Freundschaft ist.

Er wartete eine Weile, er rief Hildegard bittend bei ihrem Namen, sie achtete aber nicht darauf. Sie wollte ihn gründlich fühlen lassen, was er ihr gethan hatte, sie wollte sich auch satt weinen, denn sie mußte sich eingestehen, daß er sie absichtlich quäle und verwunde.

Renatus seinerseits stand am Fenster, trommelte mit den Fingern leise auf dem Fensterbrette und überlegte, wie lange er warten solle. Das dauerte eine kleine Zeit, sie dünkte ihn jedoch lange, und als er sich eben anschicken wollte, fort zu gehen, weil er Hildegard nicht daran gewöhnen mochte, mit ihm die Unversöhnliche zu spielen und zu schmollen, trat sie an ihn heran und legte ihre Hand auf seine Schulter. Er wendete sich um[337] und blieb betroffen stehen – Hildegard sah häßlich aus, wenn sie weinte.

Sie war überhaupt nicht regelmäßig schön, sie hatte nur schöne Farben und den Jugendreiz, der blonden Mädchen eigen ist. Aber wie bei allen Blondinen vertrugen ihre Züge das Weinen nicht. Ihre feine Haut erschien fleckig, ihre Augenlider geröthet und ihre Gesichtszüge zeigten sich durch die Betrübniß so erschlafft, daß Renatus sich nicht darein finden konnte. Es that ihm leid, daß sie sich entstellte, er sagte ihr, daß sie Unrecht habe, so empfindlich zu sein und einen Scherz so übel aufzunehmen, aber er konnte sich nicht entschließen, sie mit einem Kusse, wie er wohl sonst gethan hatte, zu versöhnen. Sie kam ihm alt vor, und sie war ja auch älter, als er.

Weil sie ihn sonst stets nachgiebig und weich gesehen hatte, hielt sie sich jetzt zurück; sie glaubte sich dies schuldig zu sein. Renatus aber fand sich durch diese geflissentliche Zurückhaltung in seiner Unzufriedenheit mit der Geliebten nur bestärkt. Er blickte sie noch einmal an – ihr schmollender Mund mißfiel ihm mehr und mehr; er begriff nicht, wie er sie jemals hübsch gefunden haben könne, nicht, was er bisher neben ihr gefühlt hatte. Er war sich räthselhaft. Das peinigte ihn. Er wendete sich ab, nahm Hut und Säbel und sagte, daß er gehen müsse. Sie hielt ihn nicht zurück. Er reichte ihr kühl die Hand, sagte ihr kühl ein Lebewohl und war verschwunden, ehe sie noch recht wußte, was geschehen sei.

Sie wollte ihm nacheilen, als er das Zimmer verlassen hatte; er erwartete das auch, sah sich nach ihr um und war doch froh, als er sie nicht erblickte. Sie ging an's Fenster; aber heute wählte er nicht die entgegengesetzte Seite der Straße, wie er sonst zu thun pflegte, um von ihr noch einen Gruß, noch einen Blick zu erhalten. Sie sah hinaus, es kam ihr alles so leer vor und es lag ihr alles, was geschehen war, so fern, so weit ab von[338] gestern, so weit ab von diesem Augenblicke! Auch ihr war es, als sei sie viel älter geworden, als habe sie viel erlebt, viel erfahren, als sei Renatus schon sehr lange fort! Sie seufzte, faltete die Hände und erschrak, als der Ausruf: Er ist ein Mann, und Dulden ist des Weibes Loos! über ihre Lippen glitt. Wie kam sie zu diesem Ausrufe, zu diesem Gedanken? – Sie weinte bitterlich.

Renatus hingegen war froh, als er sich auf der Straße fand. Hildegard's Gefühlsweichheit und ihre Thränen hatten ihm Angst gemacht. Er wünschte nicht, dergleichen öfter zu erleben, er freute sich, daß er sich so fest gezeigt hatte. Es ward ihm ganz leicht um's Herz, als der frische Wind ihm durch die Locken wehte. Die Luft in den Zimmern der Gräfin war ihm heute durch die Resedatöpfe und den Potpourri so beklemmend gewesen! –

Sporenklirrenden Trittes einherschreitend, ließ er den Schleppsäbel geflissentlich auf dem Pflaster anschlagen, er zog im Gehen den Säbel spielend halb aus der Scheide und stieß ihn wieder hinein. Jede Bewegung dünkte ihn eine Lust, und mit einer wahrhaften Genugthuung sagte er sich, daß ihn nichts auf der Welt verpflichte, sich um Hildegard's Empfindlichkeit und Empfindsamkeit zu kümmern, da er ja noch völlig frei, noch völlig ungebunden sei.

Freiheit und Ungebundenheit hatten seit gestern, er wußte selbst nicht wodurch, einen hohen Reiz und Werth für ihn gewonnen, und er konnte sich es nicht verhehlen, sein Oheim hatte Recht gehabt: es lag etwas Bedenkliches in seiner Freundschaft mit den Rhodens, etwas, wovor er sich zu hüten hatte. Er war im Allgemeinen weit entfernt, die Ansichten des Grafen Gerhard zu theilen, nur das Eine mußte er ihm zugestehen – ein Menschenkenner war der Graf, und Welterfahrung hatte er.[339]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 5, Berlin 1871, S. 329-340.
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