Fünfzehntes Capitel

[378] Es waren ein paar schmerzlich schöne Stunden, die Renatus am Morgen noch mit seiner Braut verlebte. Die Aufregung des vorigen Abends hatte einer milden, weichen Stimmung Platz gemacht. Hand in Hand bei einander sitzend, besprachen die Liebenden in dem Beisein der Gräfin ihre Plane und Aussichten für die nächste Zeit und für die Zukunft, und man suchte es darüber wenigstens für diesen Augenblick zu vergessen, daß Renatus scheiden mußte und welchen Gefahren er entgegenging. Er gab der Braut Anweisungen darüber, wie sie ihm ihre Briefe durch Vermittlung der Behörden zuzusenden habe, verhieß ihr, zu schreiben, so oft sich ihm die Gelegenheit dazu bieten würde, und als der Zeiger der Uhr sich der Trennungsstunde nahte, als man noch eilig alles zu sagen, zu fragen, zu hören und zu besprechen strebte, was man für einander auf dem Herzen hatte, als Jedem immer noch etwas einfiel, was er vergessen zu haben meinte, und Allen der Trennungsschmerz schon die Brust belastete, daß die Stimmen weich wurden und die Augen sich mit feuchtem Schimmer füllten, sagte Renatus, daß er noch eine Bitte an die Gräfin habe, mit deren Gewährung sie ihm eine Beruhigung bereiten könne. Er wünsche, daß Hildegard das Flies'sche Haus nicht mehr besuche und daß ihr Verkehr mit Davide ein Ende haben möge.

Man hatte auf jedes andere Verlangen eher als auf diese Forderung gerechnet, und weil sie gar so auffällig erschien, begehrte die Gräfin, daß er erklären solle, worauf sie sich begründe.[378] Er antwortete, es sei ihm nicht möglich, dies auseinander zu setzen, am wenigsten könne er das in den wenigen Minuten thun, die zu weilen ihm noch vergönnt sei; man möge aber zu seinem Herzen und zu seinem Ehrgefühle das Zutrauen haben, daß er eine solche Warnung gegen eine Familie und gegen Personen, deren Gastfreundschaft er selbst angenommen und die seine Mutter ihrer Theilnahme werth geachtet habe, nicht auszusprechen wagen würde, wenn ihn nicht die entschiedensten Gründe dazu nöthigten.

Die Gräfin war sehr geneigt, ihm in allen seinen Wünschen zu willfahren, denn sie hatte ihn von jeher lieb gehabt und hatte Vertrauen in seine Rechtschaffenheit; dennoch machte sie Einwendungen, die auf ihrer persönlichen Kenntniß und ihrem persönlichen Wissen von Seba beruhten. Allein sie machte damit weder auf Renatus, noch auf ihre Tochter den gehofften Eindruck. Der Jüngling beschied sich zwar, auf die Entschließungen der Gräfin keinen Einfluß zu üben, aber von seiner Braut meinte er Nachgiebigkeit und Gehorsam gegen seine Ansichten fordern zu dürfen, und Hildegard war mit der unheilvollen Ausschließlichkeit der Liebe augenblicklich bereit, ihm zu gehorchen.

Du und ich, ich und Du, rief sie, das ist fortan unsere Welt! Was kümmern uns die Andern! Kehrst Du mir wieder, so brauche ich Niemanden sonst, und ohne Dich – werde ich überhaupt nichts mehr bedürfen!

Die Aeußerung erschreckte und verletzte die Gräfin. Sie erinnerte die Tochter daran, daß Renatus mit solcher Ausschließlichkeit schwerlich einverstanden sein werde, da er große Zärtlichkeit für seinen Vater, für Vittoria und für seinen kleinen Bruder hege; aber Hildegard's Seele hatte immer nur für eine Empfindung, ihr Geist immer nur für einen Gedanken Raum, und sie hatte in jenen Worten, mit denen sie ihre Liebe auszudrücken wünschte, ihren Zustand völlig richtig bezeichnet. Sie[379] zog daher von jener Mahnung auch keinen Schluß auf die berechtigten Ansprüche der Mutterliebe, sie schien eben so vergessen zu haben, daß sie bisher in ihrer Verehrung vor Seba, in ihrer Zuneigung und in ihrem Umgange mit Davide eine Genugthuung gefunden hatte. Renatus aber war zu jung und viel zu unerfahren, um nicht durch den Gehorsam seiner Verlobten sehr befriedigt zu werden, um in ihrer hingebenden Willfährigkeit neben ihrer Liebe auch die ganze, rücksichtslose Härte einer beschränkten und engherzigen Natur vorahnend zu erkennen und zu schauen, und als sie, überwältigt von ihrem Schmerze, im Augenblicke der Trennung, als könne sie sich nicht genug thun mit ihrem Leiden und mit ihren Thränen, eine ihrer langen, blonden Locken abschnitt, damit er sie zu ihrem Gedenken auf dem Herzen trage, preßte er die Geliebte noch einmal mit stolzer, seliger Freude an seine Brust und verließ sie und das Haus ihrer Mutter und die Stadt, in dem Gefühle, daß so viel Liebe von Gott gesegnet und unvergänglich, ewig sein müsse.

Er hatte zu lange bei der Braut verweilt, um seinen Onkel, den Grafen Gerhard, noch aufzusuchen, er fühlte sich auch nicht dazu geneigt; denn er hatte nur einen einzigen Gedanken, und diesen zu verschweigen wäre ihm eben so schwer geworden, als ihn vor seinem Oheim auszusprechen. Er hätte eben so gern die geweihte Hostie, den heiligen Leib des Herrn von unreinen Händen berührt gesehen. Dazu hatte die Gräfin verlangt, daß Hildegard und Renatus ihre Liebe geheim halten sollten, bis sie sich der Einwilligung des Freiherrn sicher wüßten, und des Jünglings reine Seele fand einen keuschen Genuß in seinem stillen, innerlichen Liebesglücke.

Als er mit seinem Regimente an dem Flies'schen Hause vorüberkam, blickte er aus Gewohnheit hinauf, aber es war Niemand von der Familie an den Fenstern sichtbar; nur Herr von Castigni winkte ihm seinen Gruß zu.[380]

Mein Billet ist verstanden worden, sagte sich Renatus mit Zufriedenheit; gleich darauf kam es ihm jedoch in das Gedächtniß, daß Seba neulich ausgesprochen, sie denke es nicht mit anzusehen, wie die Kinder des Vaterlandes von einem fremden Tyrannen für eine ungerechte Sache an das Messer geliefert würden. Er hätte das gern vergessen mögen, aber es fiel ihm immer wieder ein; noch vor dem Hause, in welchem sein Oheim wohnte, dachte er daran.

Es war lebhaft in der Straße, obschon Truppenmärsche seit Jahren eine alltägliche Sache geworden waren. Freunde und Verwandte der Ausmarschirenden, Müßige und Neugierige standen zu beiden Seiten des Weges, den das Regiment zu machen hatte. Die Kriegsräthin, die noch immer ihre Freude an schönen Uniformen und an schönen Männern hatte, saß seit dem frühen Morgen, wohl frisirt und sorgfältig geschminkt, am Fenster. Sie hatte, um sich in dem vorderen Eckzimmer aufhalten zu können, den Grafen gefragt, ob sie nicht aufpassen und ihn benachrichtigen solle, wenn das Regiment des jungen Herrn Baron vorüberkomme; und obschon es noch früh im Jahre und nicht eben warm war, öffnete sie die Fensterflügel und legte sich weit hinaus, als das Schmettern der Trompeten sich vernehmen ließ und die stolzen Reihen der Garde-Dragoner sichtbar wurden.

Auf den Ruf seiner Haushälterin trat Graf Gerhard gleichfalls an das Fenster, aber es hätte ihres Rufes nicht bedurft. Er kannte sie, diese Trompeten, er kannte ihren Klang und dieses Regiment. Sein Großvater hatte es in der Schlacht von Hohenfriedberg geführt, in der es zur Entscheidung des Sieges beigetragen, sein Vater hatte darin gedient und auch der Graf selber hatte zuerst bei demselben gestanden. Es lebten ihm zahlreiche Kameraden und Genossen froher Stunden in seinen Reihen.

Die Kriegsräthin kannte auch von früher her verschiedene der Herren Offiziere, und winkte, wie man das in gar vielen[381] Häusern that, den Scheidenden ihre Abschiedsgrüße zu; indeß man mußte es nicht gewahren oder es nicht beachten wollen. Die Blicke, welche das Fenster streiften, an welchem jene Beiden standen, glitten schnell über sie hinweg, ihr Gruß ward nicht erwiedert.

Ob Graf Gerhard das bemerkte? Die Kriegsräthin hätte das nicht sagen können. Er stand hoch aufgerichtet da, die Arme über die Brust gekreuzt, wie es durch Napoleon's Gewohnheit zur Mode geworden war, und sah anscheinend gleichmüthig auf die Vorüberziehenden hinab. Aber mit ihnen zog die ganze, würdige Vergangenheit seiner Väter an ihm vorüber, seine Stirn verdüsterte sich, es zuckte ein paar Mal unheimlich in seinen Mienen und um seine Lippen; indeß er sprach kein Wort, und Escadron nach Escadron ritten sie vorbei, und immer noch drangen die bekannten Klänge wie vorwurfsvolle Fragen an sein Ohr.

Der Hohenfriedberger Marsch! sagte er endlich unwillkürlich und das Blut wich aus seinen Wangen; es faßte kalt nach seinem Herzen. So elend hatte er sich nie gefühlt, auch nicht in jener Stunde, als er gedemüthigt vor den Augen seiner Mutter zusammengebrochen war. Sein Gewissen war wider ihn aufgestanden. Er sah sich in dem Spiegelbilde, welches sein innerstes Bewußtsein ihm ohne Erbarmen vorhielt, er schämte sich vor sich selbst. In bitterem Grimme trat er in das Zimmer zurück.

Der junge Herr Baron! rief die Kriegsräthin und nöthigte den Grafen damit, wieder an das Fenster zu kommen. Renatus neigte zum Zeichen des Abschiedsgrußes seinen Säbel vor dem Onkel, und noch einmal sagte sich dieser: Und dazu blasen sie den Marsch von Hohenfriedberg! Unwillkürlich fragte er sich, was seine Schwester Angelika empfinden würde, sähe sie den Sohn beim Klange dieser Musik unter französischer Aegide in das Feld ziehen; aber der heitere Blick, der lächelnde Mund und die vollendete Anmuth, mit denen er des Neffen Gruß erwiederte, ließen nicht errathen, was eben erst in der Seele des Grafen[382] vorgegangen war, und sich von seinem Gewissen mehr als einen Augenblick beunruhigen oder sich mehr als flüchtig von seiner Erinnerung rühren zu lassen, war er nicht gewohnt! Im Gegentheil: der Zorn, den er gegen sich selbst gefühlt hatte, wendete sich gegen diejenige, welche er sich gewöhnt hatte, als die Ursache und Urheberin seines Abfalls von sich selbst wie von der Sache seines Vaterlandes zu betrachten, und der Anblick von Renatus erinnerte ihn nur daran, daß dieser sich seinen Absichten und Planen nicht geliehen hatte.

Ein hübscher junger Herr, sagte die Kriegsräthin, ein ganz Berka'sches Gesicht! Man könnte ihn für den Sohn des Herrn Grafen halten, nur daß der Herr Graf viel männlicher und schon viel gebietender aussahen, als Sie des Herrn Lieutenants Jahre hatten. Dem Herrn Vater sieht er gar nicht ähnlich.

Der Graf ließ die ihm schmeichelnde Bemerkung der Kriegsräthin unerwiedert fallen und sagte: Dafür sieht Ihr ehemaliger Pflegesohn ihm um so ähnlicher!

Nun war die Reihe des Nichtbeachtens an der Kriegsräthin. Sie wußte nicht, wo der Graf mit der Bemerkung, die er nicht zufällig gemacht haben konnte, hinauswollte, und da sie sich als Schmeichlerin der Männer von jeher eine scharfe Beobachtungsgabe angeeignet hatte, sah sie, daß Graf Gerhard sich in einer Laune befinde, in der sie ihn zu schonen habe.

Auch schien er keine Antwort zu erwarten, denn er ging, sobald Renatus aus dem Bereiche des Fensters war, nach dem Nebenzimmer, und erst unter der Thüre desselben sagte er: Sie waren ja, wie ich meine, gestern oder vorgestern bei Ihrem Manne; was hat er denn beständig für Tremann zu copiren? Haben Sie's vielleicht gesehen?

Die Kriegsräthin bejahte es, aber sie meinte, sie hätte sich aus den Papieren nicht vollständig vernehmen können. Es wären Auszüge aus Reisebüchern, Handelsberichte aus Zeitungen, die ihr Mann zu machen habe.[383]

Briefe und Actenstücke oder dergleichen copirt er nicht? fragte der Graf.

Sie antwortete, daß sie sich nicht erinnere, Derartiges gesehen zu haben; übrigens werde Paul Berlin bald für längere Zeit verlassen.

Der Graf warf die Bemerkung hin, er wisse durch Herrn von Castigni, daß Tremann noch an diesem Abende reisen werde. Das bezweifelte die Kriegsräthin nach den Aussagen ihres Mannes, der seine Arbeit erst an einem der folgenden Tage abzuliefern habe. Der Graf entgegnete darauf nichts. Er blieb jedoch noch in dem Zimmer, sah, wie die Menge sich in den Straßen allmählich verlief, nun das militärische Schauspiel vorüber war, und erkundigte sich nach verschiedenen Kleinigkeiten, die er seiner Haushälterin zur Besorgung aufgetragen hatte. Dazwischen warf er ganz beiläufig die Frage hin, ob Tremann nie bei ihr gewesen, seit er wiedergekommen sei.

Sie zuckte mit den Schultern. Um sich, wie Sie, Herr Graf, seiner Bekannten in ihrem Unglücke anzunehmen, muß man großmüthiger sein, als Paul es bei Seba und bei ihrem Vater lernen kann. Ich vermag mich nicht so wie mein Mann zu demüthigen, und Paul sowohl als Seba haben es ganz und gar vergessen, wie glücklich diese gewesen ist, als ich ihr zuerst erlaubte, zu mir zu kommen, und wie ich mich ihrer angenommen habe, um sie nur erst für den Verkehr mit gebildeten Männern und guter Gesellschaft zuzustutzen. Seit man den Juden so viel Freiheiten gewährt, sind sie hochmüthig und noch schlechter geworden, als sie stets gewesen sind. Erst gestern früh, als ich von meinem Manne kam, ist Seba in einem prachtvollen, echten Shawl, wie keine Königin ihn schöner haben kann, an mir in ihrer neuen Equipage mit einem Stolze vorübergefahren, mit einem Stolze .... Sie unterbrach sich, da sie ihrer Redseligkeit sonst in ihres Herrn Gegenwart nicht die Zügel schießen lassen durfte, indeß ihre Empörung[384] war so groß, daß sie sich nicht enthalten konnte, den Nachsatz hinzuzufügen: Aber ich werde es ihr gedenken! Hochmuth kommt vor dem Falle, und es wird mit Seba und mit Paul wahr und wahrhaftig auch noch einmal ein schlechtes Ende nehmen!

Wohl möglich, meinte gleichmüthig der Graf, der sie wider seine Gewohnheit nach Belieben hatte sprechen lassen. Wenn Sie übrigens zufällig erfahren, ob Tremann heute oder erst in einigen Tagen abreist, so sagen Sie es mir. Die Sache kümmert mich freilich nicht, ich möchte jedoch um Herrn von Castigni's willen wissen, ob man ihn in dem Hause geflissentlich hintergeht, wozu man denn doch Gründe haben müßte, die für jenen bedenklich sein könnten.

Sie sagte, dies zu erfahren, werde ihr ein Leichtes sein, und obschon der Graf ihr wiederholte, daß es damit keine Eile habe, hatte er sich kaum entfernt, als die Kriegsräthin schnell ihre nöthigsten Geschäfte besorgte und sich zum Ausgehen ankleidete. Weßhalb dem Grafen so viel daran gelegen war, den Reisetag des jungen Kaufmannes genau zu wissen, das konnte sie sich nicht erklären. Nur, daß es auf keinen Liebesdienst für Seba oder ihren Vater damit abgesehen sei, davon durfte sie sich überzeugt halten, und das genügte ihr. Was kümmerte es sie im Grunde auch, ob der Kriegsrath von jenen und von Paul unterstützt wurde oder nicht! Sie hatte für sich zu sorgen, sich dem Grafen gefällig zu beweisen. Mochte der Kriegsrath sehen, wie er fertig wurde.

Jeder für sich und Gott für uns Alle! sagte sie, als sie ihren Weg antrat, und sie hatte dabei das Bewußt sein, daß sie weltklug und erfahren sei, das Leben muthig nähme, wie es sich ihr biete, und sich mit Ergebung in das Unerwartete und Nothwendige zu schicken wisse.[385]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 5, Berlin 1871, S. 378-386.
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