Sechszehntes Capitel

[386] An demselben Tage, an welchem die preußischen Truppen ihren Marsch nach Rußland angetreten hatten, versammelte sich in den prächtigen Sälen eines der preußischen Armee-Lieferanten, der in den letzten Jahren ein großes Vermögen erworben hatte und ein glänzendes Haus machte, eine zahlreiche Gesellschaft zu einem Balle. Die Gesellschaft war sowohl den Nationalitäten als den Berufsklassen und Ständen nach eine sehr vielfarbige, und es befanden sich in ihr Personen genug, welche den Augenblick nicht für günstig gewählt zu einem Feste hielten. Aber man durfte sich, wenn man nicht Verdacht oder Verfolgung auf sich laden wollte, der Geselligkeit, in welcher das französische Militär und die kaiserlichen Civilbeamten eine große Rolle spielten, nicht entziehen, und schon am Mittage hatte Herr von Castigni sich danach erkundigt, ob er das Vergnügen haben werde, der Familie Flies und Herrn Tremann auf dem Balle zu begegnen.

Abends, um die Stunde, in welcher man in die Gesellschaft zu fahren pflegte, saßen Seba und Davide in Balltoilette in dem Wohnzimmer; aber ihre ernsten Mienen paßten nicht zu dem glänzenden Schmucke, den sie angelegt hatten. Man konnte die unruhige Spannung unschwer in ihren Mienen lesen. Bei dem leisesten Geräusche blickten beide Frauenzimmer nach der Gegend hin, von der es kam, und nachdem Erwartung und Täuschung sich zu verschiedenen Malen wiederholt hatten, sagte Davide endlich: ich möchte wohl wissen, wie den Menschen zu Muthe[386] gewesen ist, als man noch ein ruhiges Leben geführt und sich auf irgend etwas recht von Herzen in voller Sicherheit zu freuen vermocht hat. Seit ich mich erinnern kann, ist die Welt immer voll Schrecken und voll Unruhe gewesen. Schon als kleines Kind habe ich, obschon man es vor mir zu verbergen gestrebt hat, es doch immer empfunden, daß man in Sorgen und Nöthen vor Krieg und Feinden und Krankheiten, und in Angst um seine Freunde gewesen ist, und jetzt ....

Nun, jetzt? fragte Seba; aber es blieb Daviden keine Zeit zum Antworten, denn Paul, gleichfalls für den Ball gekleidet, trat in das Zimmer, und Seba empfing ihn mit der besorgten Frage, was der Kriegsrath zu so später und ungewohnter Stunde noch gewollt habe.

Nichts für sich, wie Du denken kannst, entgegnete Paul, und natürlich ist's nichts Gutes, was den Alten bewogen hat, mich aufzusuchen. Es sind unerträgliche Zustände, in denen wir leben; wir werden wie Verbrecher beaufsichtigt, wir sind in unseren Häusern nicht mehr sicher vor Verrath und müssen die Verräther als gefeierte Gäste an unserem Tische sitzen sehen. Das kann nicht dauern, es kann nicht dauern! Das Tischtuch muß endlich zerschnitten werden zwischen uns und ihnen. Der berechtigte Haß verlangt seinen freien Weg, und wie grauenhaft Dir das neulich auch erschien, als ich es in meiner Empörung gegen Dich äußerte: eine sicilianische Vesper dünkt mich berechtigt in den Zuständen, in denen wir uns befinden und in denen jede Faser, die an uns gut und edel ist, nach Rache und nach Vernichtung unserer Unterdrücker schreit!

Es geschah selten, daß seine leidenschaftliche Natur in solcher Weise die Schranken der Selbstbeherrschung durchbrach, in die er sie zu bannen gelernt hatte, und er war offenbar auch unzufrieden mit sich, weil er sich von seinem Zorne hatte übermannen lassen; denn er nahm sich plötzlich zusammen und sagte ruhiger:[387] Der Kriegsrath kam, um mir zu sagen, daß die Frau, ganz gegen ihre sonstige Weise, heute schon wieder bei ihm gewesen sei. Sie war unter dem Vorwande gekommen, ihm im Namen ihres Herrn, der sich nach Weißenbach erkundigt haben sollte, eine Flasche alten Weines zur Stärkung zu bringen; indeß wie leicht der Kriegsrath sonst auch zu täuschen ist, war er dieses Mal doch nicht leichtgläubig genug, ihr zu vertrauen, und er merkte denn auch, daß die Erkundigungen des Grafen nicht ihm, sondern mir und meiner Abreise gegolten hatten. Auch Castigni hat mei nen Diener deßhalb ausgefragt, hat sich bei diesem durch seine Leute sorgfältig über all mein Thun, über die Personen, welche mich besuchen, über Tag und Stunde meiner Abreise zu unterrichten gestrebt, und die Kriegsräthin hat unter dem Vorgeben, daß der Graf ihrem Manne eine Stelle zu schaffen denke, vorher aber seine Handschrift sehen und mit ihm selber sprechen wolle, den Alten zu überreden getrachtet, daß er ihr die Arbeiten ausliefere, die er für mich augenblicklich unter Händen hat.

Und er hat sie ihr gegeben? unterbrach ihn Seba mit sorgenvollem Erschrecken.

Paul verneinte es. Der Alte ist gerade so brav und gut, als sein Verstand und seine Schwäche es ihm erlauben, und ich könnte beinahe wünschen, er hätte der Frau nicht widerstanden, denn alles, was er für mich arbeitet, bezieht sich auf nationalökonomische und commercielle Studien, aber ....

Paul, rief Seba, warte nicht bis morgen, reise gleich heute ab!

Wo denkst Du hin? entgegnete er, während sein Gesicht schon wieder die gewohnte fröhliche Sicherheit zeigte; ich muß doch mit Davide den besprochenen ersten Walzer und den Kehraus tanzen!

Ach, reisen Sie, lieber Paul! bat Davide, indem sie ihre Hände bittend faltete.[388]

Unmöglich, dazu sehen Sie viel zu reizend aus, Davide! Ja, hätten Sie die weißen Hyacinthen nicht in Ihren schwarzen Locken, so ließe sich eher davon reden!

Aber er hatte kaum die Worte ausgesprochen, als Davide mit hastiger Hand nach ihrem Haupte fuhr, die Blumen aus ihren Locken und Flechten nahm und siegesgewiß die Worte ausrief: Jetzt müssen Sie gehen, und wir bleiben nun zu Hause!

Liebes, entschlossenes Kind! sagte Paul, während er sie mit freudigem Erstaunen betrachtete; aber es wäre nicht wohlgethan, blieben wir von dem Balle fort. Im Gegentheile, ich muß ja dort sein, muß Ihr Tänzer sein, um Sie vor den Bewerbungen Ihres Verehrers Castigni möglichst zu bewahren. Oder wollen Sie lieber ihn als mich zum Tänzer haben?

Es war unverkennbar, daß er großes Wohlgefallen an dem schönen Mädchen hatte; die freundliche Weise, in welcher er heute mit ihr scherzte, that Daviden aber wehe. Sie wendete sich von ihm, trat an den Spiegel und steckte, da Seba der gleichen Ansicht wie Tremann war, daß man den Ball besuchen müsse, auf deren Geheiß die Blumen wieder gehorsam in das Haar; sie sprach jedoch kein Wort, und auch Seba war niedergeschlagener, als sie es zeigte.

Der erste Walzer war schon in vollem Gange, als Herr Flies und Paul mit den beiden Frauen in die Säle eintraten, und Paul nahm nach den Begrüßungen mit Freunden und Bekannten sogleich mit Daviden seinen Platz in den Reihen der Tanzenden ein. Civilisten und deutsche und französische Offiziere waren in ihnen bunt gemischt, aber zwischen all den glänzenden Uniformen blieb Paul noch immer eine hervorragende Erscheinung durch seine schöne, mächtige Gestalt und den festen Ausdruck seines charaktervollen Gesichtes.

Paul sieht gut aus, sagte Herr Flies zu Seba, als das tanzende Paar an ihnen vorüberkam; und in der That standen[389] die weißen Casimir-Escarpins und der blaue Frack ihm sehr wohl an. Aber Seba, die sonst so stolz auf ihres jungen Freundes Schönheit war, als hätte sie selber ihn geboren, vermochte sich heute seiner nicht zu freuen, weil die Sorge um ihn sie peinigte. Jene errathende Kraft des Herzens, die oft scharfsichtiger ist, als der schärfste Verstand, ließ sie nicht bezweifeln, was den Grafen antreibe, Paul zu verfolgen, und wenn sie ihre eigene Seele prüfte, mußte sie sich gestehen, daß für den Grafen eine Wollust darin liegen müsse, sich an ihr zu rächen, da sie sich die gleiche Befriedigung einst nicht hatte versagen mögen. Sie zählte die Stunden, die noch bis zu Paul's Abreise vergehen müßten, die Tage, innerhalb derer er die Grenze erreichen konnte. Daß Graf Gerhard jeder Unwürdigkeit fähig sei, wenn sie seinen Wünschen und Absichten diene, das wußte sie, und er besaß das Ohr und das Vertrauen der französischen Behörden. Es konnte den Grafen nicht viel kosten, Paul und mit ihm ihren Vater wie sie selber zu verderben, denn das Mißtrauen der napoleonischen Regierung war grenzenlos, und wessen man sich von ihren Dienern zu versehen habe, das war durch die Gewaltthaten an dem Buchhändler Palm und an Lord Bathurst hinlänglich erwiesen.

Sie überlegte, ob es nicht gerathen sei, Paul an diesem Abende gar nicht mehr nach Hause zurückkehren, sondern in irgend einer befreundeten Familie übernachten zu lassen, aber eben dadurch konnte man den Argwohn, welcher ihn offenbar umgab, nur steigern. Dann kam ihr der Gedanke, daß man irgend einen der Gehülfen ihres Vaters in Paul's Wagen mit seinem Diener und mit einem scheinbaren Auftrage den geraden Weg nach der russischen Grenze schicken könne, während Paul auf Umwegen zu entkommen suchen müsse; indeß überall trat ihr die Sorge um ihren greisen Vater entgegen, und selbst mit diesem oder gar mit Paul ein vertrauliches Wort zu reden, ward ihr[390] nicht gegönnt, denn sie meinte zu bemerken, daß Herr von Castigni Paul und Davide nicht aus dem Auge lasse. Das konnte seine Ursache in der Bewerbung haben, mit welcher der Franzose Daviden umgab; aber wer viel zu verlieren hat, ist ängstlich, und die lange Fremdherrschaft hatte alle Patrioten genugsam an Zurückhaltung und Vorsicht gewöhnt.

Der Vater hatte sich zum Spiele niedergesetzt, Davide tanzte, Herr von Castigni nahm sie völlig in Beschlag, wenn Paul sie frei ließ, und dieser, welcher sonst kein leidenschaftlicher Tänzer war, sondern meist die Gesellschaft der älteren Männer und Frauen suchte, hielt sich heute ganz zur Jugend. Er machte, so oft es sich thun ließ, Daviden's Gegenüber, und obschon sie voll Sorgen war, dachte Seba daran, daß Paul möglicher Weise doch mehr Antheil an ihrer Nichte nähme, als sie bisher geglaubt, daß Daviden's unverkennbare Neigung für ihn, die sich heute erst wieder so lebhaft verrathen hatte, ihren Eindruck auf den jungen Mann nicht verfehlt habe, und sie nannte es in ihrem Herzen einen echt weiblichen Zug, daß Davide eben heute sich Herrn von Castigni freundlicher als sonst bewies, daß sie Paul vernachlässigte, da dieser sie zum ersten Male ganz entschieden suchte. Sollte Davide im Stande sein, zu so kleinlichen Mitteln der Vergeltung zu greifen? fragte sie sich; sollte sie in der Liebe irgend einer Berechnung fähig sein und einem geliebten Manne gegenüber irgend etwas Anderes empfinden können, als das Verlangen, ihm ihre Liebe kund zu geben und Freude oder Trauer, je nachdem er sie erwiedert oder nicht erwiedert?

Sie wurde förmlich irre an dem Mädchen, das sie doch so genau zu kennen meinte. Davide sprach so laut, lachte so viel, suchte so unverkennbar die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; Seba wußte nicht, was sie davon denken sollte. Aber es mußte auch Paul mißfallen, denn sie sah ihn den Saal verlassen und[391] im Nebenzimmer an den Tisch treten, an welchem alte und junge Männer, Civilisten und Militärs ein hohes Pharo spielten. Sie wollte zu ihm gehen und mochte doch zum ersten Male Davide nicht ohne Aufsicht lassen, denn der Ballsaal hatte sich nach dem Schlusse des Theaters noch mehr gefüllt, der Lichtglanz, die Wärme, der Tanz und der Wein hatten die Tänzer, die Männer wie die Mädchen und die Frauen, aufgeregt, und auch Daviden's Augen flammten, ihre Wangen brannten, als sie, von Castigni's Arm umschlungen, zum vierten und fünften Male die Tour um den Saal zurücklegte, die man sonst immer mit drei Ronden beendigte. Das Haar flog ihr um die Schläfen, die junge Brust hob und senkte sich gewaltsam, als der Franzose sie endlich dicht vor ihrem Platze aus seinem Arme ließ und, einen leidenschaftlichen Kuß auf ihre Hand drückend, ihr versicherte, daß er sie nie so schön gesehen habe, wie eben heute, eben jetzt. Aber von dem wilden Tanze erschöpft, trat er zurück, um im Nebenzimmer eine Erfrischung zu suchen; auch Davide hatte sich neben Seba in einen Sessel geworfen, und sich rasch umblickend, als fürchte sie gehört zu werden, flüsterte sie leise und athemlos die Worte: Er ist fort!

Seba wendete sich um, sie sah Davide an, und das Wort des Tadels, das auf ihren Lippen schwebte, verstummte. Mit einem Blicke verstand sie, von wem die Rede sei.

Woher weißt Du es? fragte Seba.

Ich sah ihn gehen, antwortete Davide.

Eben jetzt?

Nein, gleich nachdem wir zur Quadrille angetreten sind.

Und er hat Dir gesagt, daß er sich entfernen wolle?

Nichts, gar nichts! entgegnete Davide eben so kurz, denn schon trat ihr Bewunderer wieder an sie heran, und urplötzlich leuchtete die strahlende Heiterkeit wieder um ihre schönen Wangen,[392] tönte das silberhelle Lachen wieder von ihren Lippen, und an der Hand ihres Tänzers stand sie wieder in den Reihen.

Seba sah ihr sprachlos, aber mit Freude nach.

Sie konnte nicht errathen, was Paul beabsichtige, was Davide davon wisse, nur das war ihr klar, daß hier die Liebe ein Mädchen schnell zum Weibe gereift habe und daß man ein junges Herz, welches aus Liebe solcher Herrschaft über sich fähig sei, wie Davide sie eben jetzt bewiesen hatte, sich selber überlassen könne.

Beide Frauenzimmer konnten das Ende des Balles kaum erwarten und trugen doch Bedenken, das Fest eher als die Mehrzahl der Gäste zu verlassen. Sie blieben im Gegentheile mit unter den Letzten, um auch Herrn von Castigni von der Rückkehr in ihre Wohnung abzuhalten.

Er hatte, von Davidens Gunst entzückt, Tremann's fast vergessen, und es war Seba, welche ihre Nichte geflissentlich befragte, wo Paul geblieben sei. Diese versetzte ruhig: sie wisse es nicht; er sei verdrießlich gewesen und in das Nebenzimmer gegangen. Als man ihn dort nicht fand, äußerte Davide die Erwartung, daß er zum Kehraus, für den sie mit ihm engagirt sei, schon wiederkommen werde; und da er sich auch zu diesem nicht einstellte und Seba sich in Castigni's Beisein durch Paul's Entfernung beunruhigt zeigte, ließ Davide es errathen, daß sie einen kleinen Streit mit ihm gehabt habe, daß er mißmuthig gewesen sei und wohl vom Balle fortgegangen sein möge, weil er sie damit zu strafen geglaubt habe. Aber sie wisse sich zu trösten; und an einem Tänzer, fügte sie mit einem lächelnden Blicke auf Castigni hinzu, wird es mir hoffentlich doch nicht fehlen.

Inzwischen hatte auch Herr Flies seinen jungen Compagnon vermißt und kam, sich nach ihm zu erkundigen, da Paul, als er eine Weile neben Herrn Flies zusehend am Spieltische[393] gesessen, sich über Kopfweh beklagt hatte. Seba konnte erkennen, daß ihr Vater eben so wenig als sie von Paul's Vorhaben unterrichtet gewesen sei, und es blieb unmöglich, sich auf dem Balle von Daviden eine Aufklärung zu verschaffen. Es war schon gegen den Morgen hin, als man, von dem Feste kommend, das Haus erreichte, und selbst während der Fahrt war keine Verständigung möglich gewesen, da man es nicht hatte vermeiden können, Herrn von Castigni's Begleitung anzunehmen, indem er, wie er sagte, im Vertrauen auf die Güte seiner Wirthe seinen Wagen einem Freunde angeboten und überlassen habe.

Als der Hauswart die Thür öffnete, fragte Herr Flies zu Seba's und Daviden's Erschrecken, ob Herr Tremann schon zu Hause sei, und die beiden Frauenzimmer blickten einander verwundert an, als der Bescheid erfolgte, Herr Tremann sei ja schon gegen Mitternacht heimgekehrt und werde wohl noch wach sein, denn er habe frische Kerzen befohlen, weil er noch arbeiten wolle.

Man trennte sich oben an der Thüre der Wohnzimmer. Herr von Castigni stieg wohlgelaunt, den Kopf voll froher Erinnerungen und noch freudigerer Aussichten, die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, und ihre Nichte bei der Hand nehmend und rasch mit ihr in die Stube hineintretend, rief Seba: Du hast Dich also geirrt, Paul ist hier!

Gewiß nicht, entgegnete das junge Mädchen mit großer Bestimmtheit; und während Herr Flies sich noch erkundigte, um was es sich handle, hatte Seba schon einen der Leuchter ergriffen und eilte durch den Glascorridor und die innere Treppe, welche Fräulein Esther einst zu ihrer Bequemlichkeit hatte erbauen lassen und die gerades Weges aus dem großen Saale des ersten Stockwerks in das Gartenzimmer führte, nach Paul's Wohnung hinunter.

Sie klopfte an, es blieb Alles still. Die Thüre war unverschlossen, sie trat also ein, es war Niemand in dem Zimmer.[394] Die Kerzen brannten auf dem Schreibtische, die Schlüssel steckten in den Schubladen und Schränken, Alles lag und stand wie immer, nur die Schreibmappe fehlte. Sie ging in die Nebenstube und öffnete den Kleiderschrank; da hing der Anzug, den er auf dem Balle getragen hatte. Er war also wirklich nach Hause gekommen, was Seba schon zu bezweifeln angefangen hatte, und schnell, wie sie die Treppe herunter geeilt war, stieg sie dieselbe wieder hinauf, um sich mit den Ihrigen zu besprechen und zu berathen.

Man wollte von Davide Auskunft haben, aber diese hatte nichts oder doch nur wenig zu berichten. Sie habe bemerkt, sagte sie, daß Paul öfter nach seiner Uhr gesehen, was er sonst nicht zu thun pflege. Er sei dazu so ungewöhnlich aufgeräumt gewesen, habe fortwährend mit ihr gescherzt, sich auch um die anderen Damen mehr als sonst bemüht, und während sie darüber nachgesonnen, was ihn in eine ihm so fremde Laune versetzt haben möge, habe er wieder plötzlich nach der Uhr gesehen und sei dann mit Einem Male fortgegangen und verschwunden.

Seba wendete ihr ein, daß in diesen Dingen nichts gelegen habe, was Davide irgend zu der Vermuthung habe berechtigen können, daß Paul früher, als er es vorgehabt, seine Reise antreten, sie gleichsam als Flucht antreten werde, und Davide versuchte einen Augenblick, ihre frühere Erzählung durch Hinzufügung verschiedener kleiner Aeußerungen zu verdeutlichen. Indeß plötzlich schien sie anderen Sinnes zu werden, und sich in ihrer ganzen stattlichen Höhe aufrichtend, sprach sie, während ihre Wangen erglühten und ihre Augen, die sie auf den Onkel und auf Seba zu richten versuchte, sich unwillkürlich senkten: Ich will's Euch sagen, und Ihr könnt's mir glauben, denn ich bin ja nicht eitel und bilde mir nichts ein. Und da sie es nun sagen wollte, stockte ihr das Wort auf den Lippen in holdseliger Scham, und sie mußte sich zwingen, es auszusprechen.[395] Paul, sagte sie, hat mich immer wie ein Kind behandelt, oder wie ein Spielzeug, denn so machen sie es ja Alle mit uns. Auch heute Abend that er das, Du hast es ja gehört, liebe Seba. Aber als wir tanzten und als er immer wieder nach seiner Uhr sah, da blickte er mich an, als wüßte er, daß ich mich um ihn sorgte. Er war ernsthaft, wenn man ihn nicht beachtete, und als er dann plötzlich aufbrach, da – da drückte er mir die Hand, wie man es nur beim Abschiede thut, wenn man sieht, daß der Abschied – einem Anderen schwer wird.

Ihr Ton war immer leiser geworden, sie nahm sich zusammen, um ihre Bewegung und die Thränen zu bemeistern, die sich ihr in die Augen drängen wollten.

Seba fühlte sich ergriffen von ihres Pflegekindes Schönheit und freimüthiger Selbstüberwindung, und wie ein warmer, Frühling verkündender Sonnenschein zog eine neue, selbstlose Hoffnung in ihre Brust; aber sie sowohl als ihr Vater hüteten sich, es auszusprechen, wie hoch sie Davide in dieser Sunde hielten und wie sie beide ihre Wünsche und Hoffnungen theilten. Man nahm ihr Bekenntniß wie eine sich von selbst verstehende Sache hin, und als Seba die Absicht äußerte, den Portier zu befragen oder den Gärtner kommen zu lassen, ob und wann und auf welchem Wege Paul das Haus verlassen habe, gab ihr Vater das nicht zu.

Er sagte, da Paul einmal verdächtigt worden sei, habe er, wie immer, richtig gehandelt, indem er Berlin so bald als möglich und heimlich verlassen habe. Es entziehe dieses Letztere sie Alle für den schlimmsten Fall jeder Verantwortlichkeit, und wolle die französische Regierung seiner habhaft werden, lasse man ihn selbst verfolgen, so sei mit jeder Stunde Vorsprung ein Wesentliches gewonnen. Da die Leute im Hause ihn noch in der Nacht arbeitend glaubten und Herr von Castigni dies gehört habe, werde man es nicht auffallend finden, wenn Paul[396] nicht um die gewohnte Morgenstunde im Hause und im Comptoir erscheine, und es sei wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß Herr von Castigni früher als am Vormittage von der Abreise Paul's benachrichtigt werde. Er traue es dem Letzteren zu, daß er seine Maßregeln zweckmäßig und umsichtig getroffen haben werde, und wenn es ihm nur gelungen sei, unbehindert aus der Stadt zu kommen, so hoffe er das Beste.

Das Land ist freilich überschwemmt von Truppen, aber gerade das erleichtert es ihm vielleicht, unbeachtet zu bleiben; denn man hat überall mit sich vollauf zu thun, und seine Papiere wird er in Ordnung haben, tröstete Herr Flies, um die Seinigen zu beruhigen. Kann Paul jenseit der Oder oder Weichsel, wie ich vermuthe, noch mit Schlitten reisen, so ist er geborgen und wir hören bald von ihm.

Aber bis dahin? fragten ängstlich Seba und Davide wie aus Einem Munde.

Bis dahin müssen wir uns gedulden, meine lieben Kinder, und uns vorbehalten, daß man nicht zu beklagen ist, so lange man für die Seinigen noch fürchten und hoffen kann.

Welch ein Unglück! rief Seba, niedergeworfen von der Sorge um den so lange Entbehrten und endlich Wiedergefundenen, aus.

Ja, sagte Herr Flies, es sind böse, böse Zeiten; aber unglücklich ist man erst, wenn man nicht mehr hoffen kann! Behaltet guten Muth, zeigt morgen ein heiteres Gesicht, denn wir sind Gefangene in unseren eigenen Häusern und Sklaven der Fremden in unserem Vaterlande, und obschon wir nicht Verbannte sind, könnten wir singen, wie es in den Psalmen heißt: »Wir saßen an den Wassern und weineten!«

Er seufzte, küßte die Tochter und Nichte auf die Stirn, hieß sie, sich zur Ruhe begeben, und bald war es still und dunkel in dem ganzen Hause; nur in Paul's einsamem Zimmer brannten die Kerzen fort, bis sie am Morgen in sich selbst erloschen.[397]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 5, Berlin 1871, S. 386-398.
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