Siebzehntes Capitel

[398] Drei Tage und fast drei Nächte waren seitdem vergangen. Ein feiner, trockener Schnee fiel dicht und leuchtend hernieder. Von durchsichtigem Gewölke leicht verhüllt, stand der Mond am Himmel, als ein offener Schlitten, von zwei kleinen, raschen Pferden pfeilschnell fortgezogen, über die Nehrung, über jene Landenge fuhr, die sich zwischen der Ostsee und dem kurischen Haff hinzieht.

Zwei Männer, in Pelze eingewickelt, saßen in dem Schlitten. Ein polnischer Jude, ebenfalls in seinen Pelz gehüllt, die spitze, verbrämte Sammetmütze tief auf die gedrehten Seitenlocken heruntergezogen, machte ihren Kutscher. Die Nacht war kalt. Schwer und langsam schlugen die Wogen des Meeres an das Ufer, das sich mit seiner Schneedecke hellschimmernd von der weiten, dunklen Fläche abhob.

Ein Königsberger Kaufmann hatte den Juden, der in Rußland zu Hause war, gedungen, die beiden Fremden über die Nehrung nach der Grenze zu bringen; aber wie sehr der Jude sich auch bemühte, er hatte es nicht ermitteln können, wer sie wären und was sie in Rußland zu suchen hätten.

Daß sie nicht Herr und Diener seien, als welche ihre Kleidung sie bezeichnete und als welche sie sich ausgaben, das hatte der Schlaue bald bemerkt; denn überall war es der sogenannte Herr gewesen, der, wo es Noth that, die rasche Hand angelegt, während der Diener sich immer erst nachträglich dazu[398] entschlossen hatte. Deutsche waren sie nach des Juden Meinung nicht, denn er hatte, so genau er auch darauf merkte, noch kein deutsches Wort von ihren Lippen vernommen; Franzosen aber waren nicht so gelassen. Für gewöhnliche Reisende war in dieser Jahreszeit die Nehrung nicht die Straße, für Kaufleute, die Geschäfte in Rußland machen, also länger dort verweilen wollten, hatten die Fremden ihm nicht genug Gepäck bei sich, und französische Emissäre konnten sie vollends nicht sein, denn diese würden bis zur Grenze die Beförderung durch die Post gefordert haben. Er kam also, je mehr er darüber nachsann, immer wieder auf den Gedanken zurück, daß seine Passagiere, obschon sie Französisch mit einander redeten, Engländer sein müßten und daß sie auf diesem wenig besuchten Wege nach der Grenze gingen, um zu sehen, auf welche Weise sich englische Waaren über Rußland nach Deutschland bringen ließen. Dadurch aber stiegen sie nur in seiner Werthschätzung, denn von einem Handelsverkehre, wie er ihn bei den Reisenden vorauszusetzen für angemessen fand, pflegte für die vermittelnden Juden immer ein kleinerer oder größerer Gewinn abzufallen, und: »Leben und leben lassen« ist ein alter Grundsatz.

Es war eine schnelle, lautlose Fahrt. Von Zeit zu Zeit sah der eine oder andere der beiden Reisenden in die Gegend hinaus, und wenn sie gewahrten, daß sie einsam auf der überschneiten Düne blieben, schien ihnen das erwünscht zu sein. Sie redeten dann auch eine Weile mit einander, aber so leise, daß der Jude nicht ermitteln konnte, um was es sich dabei handle, obschon er in der langen Zeit des Krieges und der Franzosenherrschaft genug von der Sprache der Fremden erlernt hatte, um sie verstehen und sich in ihr halbwegs verständlich machen zu können.

Eine geraume Zeit war auf diese Weise seit dem letzten Anhalten hingegangen, als der Diener sich bei dem Kutscher erkundigte, wie lange man bis zur Grenze noch zu fahren habe.[399]

Der Jude, froh der Anrede, weil sich ihm mit derselben doch eine Möglichkeit eröffnete, seine redselige Neugier zu befriedigen, meinte, wenn er so zufahre, wie bisher, und seine Pferde es aushielten, so könne man bald nach Tagesanbruch auf der Grenze sein.

Muß man die Stadt passiren, um an die Grenze zu gelangen? fragte der Diener ihn abermals.

Wenn die gnädigen Herren nichts haben zu thun in der Stadt, entgegnete der Jude, so müssen die Herren nicht; aber ich muß halten in der Stadt oder muß noch einmal machen eine Station hinter der Stadt, von wegen meiner Pferde.

Er hatte die Thiere, während er dieses sagte, sich selber überlassen; sie fingen also langsamer zu gehen an, und der Diener ermahnte den Juden, mit Zusage einer besonderen Belohnung, sie auf's Neue anzutreiben.

Will das sein ein Bedienter, dachte der Jude, und nimmt seinem Herrn das Wort vorweg. – Er schlug nichts desto weniger mit lautem, ermuthigendem Schrei anscheinend unbarmherzig auf seine Thiere los, wußte den Hieb jedoch so geschickt zu führen, daß er sie gar nicht traf. Der andere Reisende, dessen schweigender Achtsamkeit sich nicht das Geringste entzog, bemerkte diese List.

Lassen Sie ihn nicht merken, mein Freund, sagte er zu seinem Gefährten, wie sehr wir die Grenze zu erreichen wünschen. Er könnte sonst leicht auf den Gedanken kommen, sich zaudernd eine größere Belohnung zu verdienen, und wir sind in seiner Hand.

Die Nähe des Zieles macht ungeduldig, und Sie kennen sicher so gut wie ich die abergläubische Furcht vor dem Scheitern im Angesichte des Hafens! entgegnete der Zurechtgewiesene, mit diesen Worten sich gleichsam rechtfertigend.

O ja! Es gab eine Zeit, versetzte Paul, in welcher ich diesen Eindrücken sehr unterworfen war; seit ich aber nicht mehr[400] sonderlich an dasjenige glaube, was man als Glück bezeichnet, habe ich auch die Furcht vor seinen Launen verloren.

Sie würden es also nicht als ein Glück erachten, wenn wir ungehindert unser Ziel erreichten, und es nicht ein Unglück nennen, würden wir daran verhindert?

Nein! entgegnete der Andere. Ich habe für den Fall, daß man es wirklich auf meine Person abgesehen hätte, mit Ihrer Hülfe nach bestem Wissen meine Vorsichtsmaßregeln genommen! Täuscht uns die Wirksamkeit derselben nicht, so ist das unser Verdienst und kein besonderes Glück! Mißlingt unser Unternehmen, so unterliegen wir nur einem Naturgesetze, der Macht des Stärkeren, denn zwischen uns und unseren Feinden ist die Partie nicht gleich!

Er brach ab, und diesmal war er es, der mit scharfem Auge um sich blickte, denn das Wetter fing an, sich bedenklich zu verändern. Die leichten Wolkenstreifen hatten sich zusammengezogen und verdichtet, der Mond verschwand bisweilen plötzlich hinter ihnen, dann kam er eben so plötzlich aus dem schweren, schwarzblauen Gewölke hervor, das Meer beleuchtend, dessen Wogen sich immer höher hoben, während ein dumpfes Grollen aus seinen Tiefen dem klagenden Weherufe des Windes Antwort gab. Licht und Schatten wechselten schnell und phantastisch mit einander ab, aber das Durchbrechen des Lichtes wurde seltener, die Dunkelheit immer tiefer. Nur bisweilen meinten sie noch den Gischt der aufgebäumten Welle zu gewahren, wenn sie unter dem Stoße des heulenden Windes niederdonnerte und hinzischend auf dem eisigen Ufer zerfloß.

Je länger sie fuhren, je stärker erhob sich der Sturm. Er trieb ihnen den stechenden Schnee entgegen, daß es ihnen den Athem versetzte und sie die Augen kaum noch öffnen konnten; aber sie beklagten sich nicht darüber, und das bestärkte den Juden nur in seinen Vermuthungen über sie. Die sind's gewohnt,[401] wie ich, dachte er, und er wollte versuchen, ob sich aus der Lage, in welcher sich nach seiner Meinung die Reisenden befanden, nicht ein Vortheil für ihn ziehen ließe.

Gnädiger Herr, hob er an, sich auf seinem Sitze halb umwendend, gnädiger Herr! Der Herr Bedienter haben mich vorhin zu fragen beliebt, ob man kann an die Grenze kommen, ohne zu fahren durch die Stadt. Wenn der gnädige Herr mir geben will fünfunddreißig Rubel mehr, daß ich meine Pferdchen kann nachher rasten lassen, will ich den gnädigen Herrn über die Grenze bringen, ohne daß er soll zu sehen bekommen einen Grenz-Kosaken oder einen Beamten von dem Zoll.

Und wer soll mir denn den Paß visiren? fragte Paul.

Der Herr haben also einen Paß? forschte der Jude ungläubig.

Wie anders? entgegnete Paul und wickelte sich fester in seinen Pelz ein.

Der Jude war aber so leicht nicht abzuweisen. Ich bin drüben gleich hinter unserer Grenze zu Hause, fuhr er fort, und habe meine Tochter diesseits verheirathet im letzten Kruge. Ich kenne Weg und Steg und kenne den Herrn Leutnant von der Wache und den Herrn Inspector von dem Zoll, und sie kennen mich auch. Wenn vielleicht.... Er hielt überlegend inne, ob er so weit gehen sollte, und wagte es endlich dennoch, seine pfiffige Vermuthung auszusprechen – wenn vielleicht der Herr Bedienter nicht sind versehen mit einem Paß – die Pässe werden streng visirt und die Zolluntersuchung ist noch strenger!

Schlimm für Dich, der Du heimlich über die Grenze gehen willst, falls wir Dich verhindern, Deine Contrebande in der Stadt oder draußen bei Deinem Tochtermanne abzulegen, bis Du sie Dir gelegentlich herüberholen kannst! Und nun fahr zu! rief Paul befehlend, allen Vermuthungen, Vorschlägen und Planen des Juden damit ein Ende machend, wie sehr dieser[402] sich auch hoch und theuer verschwor, daß er gar keine Waare bei sich habe, daß er ein ehrlicher Mann und ganz ausschließlich nur auf der gnädigen Herren Vortheil bedacht gewesen sei. Aber die Besorgniß, daß es doch vielleicht französische, mit heimlicher Beaufsichtigung der Grenze betraute Beamte sein könnten, die er fahre, lähmte endlich des Juden Zunge, und, Jeder in seine Gedanken versenkt, sahen die beiden Reisenden schweigend in die Nacht hinaus, während die Sekunden kamen und entschwanden, während Woge um Woge gleichmäßig auf das Eis des Ufers rollte, während der Sturm die Wolken, die er zusammengefegt hatte, in wildem Laufe vor sich her trieb, bis hier ein Stern durchblitzte und dort ein zweiter, und bis endlich hoch am Horizonte der Nordstern wieder hell strahlend aus dem Siebengestirn herniedersah.

Paul begrüßte ihn wie einen alten Freund. Seine frühesten Erinnerungen knüpften sich an dieses Gestirn. In dem kleinen Hause seiner Mutter hatte er auf seines Vaters Knie gesessen, als dieser ihm das Gestirn gezeigt; aus dem Fenster der Kriegsräthin, aus Seba's Stube hatte er es gesehen. Es hatte ihm geleuchtet in der Schmerzensnacht, die ihn aus der Heimath fortgetrieben, es hatte ihn nicht verlassen, als er, ein flüchtig gewordener Knabe, über das weite Weltmeer gefahren war, und es war bei ihm gewesen wie der einzige Gefährte aus der Heimath, als er in dem fremden Welttheile nichts sein eigen genannt hatte, als sein nacktes Leben.

Eine Rührung, die ihm fremd war, bemächtigte sich seiner. Hingenommen von seiner rastlosen Thätigkeit, war ihm durch alle die Jahre wenig Zeit zum Nachsinnen geblieben. Wie man im raschen Fluge des Caroussels mit scharfem Blicke und sicherer Hand den Ring absticht, hatte er im eiligen Wechsel der Ereignisse den Augenblick erhaschen und sich aus seinen Erfahrungen die Ueberzeugungen und Grundsätze bilden müssen, nach denen er sein Leben regelte. Von der flüchtigen Minute hatte er Belehrung[403] fordern, in die freie Minute sein Empfinden zusammenpressen müssen, und des glücklich Erreichten hatte er sich kaum erfreuen dürfen, weil immer ein neues, nothwendig noch zu Erreichendes schon wieder nahe vor ihm gestanden hatte.

Nun freilich hatte er, was er zuerst erstrebt. Er hatte einen eigenen und einen guten Namen, den ihm nicht sein stolzer Vater vererbt und nicht seine arme Mutter hinterlassen hatte, sondern einen Namen, den er sich selbst geschaffen, wie seinen ganzen, nicht unbedeutenden Besitz. Aber wozu das alles? fragte er sich auch in dieser Stunde. Wer bedarf des Besitzes, den Du Dir erworben hast? Wen freut es, wenn Dein Fleiß ihn wachsen macht? Wer sorgt sich darum, wenn er Dir verloren geht? Für wen bist Du eine Nothwendigkeit in dieser weiten Welt?

Und während diese Gedanken in ihm aufstiegen, nannte er selbst sie ein Unrecht gegen die Frau, welche die Beschützerin seiner Kindheit und das Ideal seiner Jugend gewesen war. Er liebte Seba auch heute noch, wärmer, zärtlicher, begeisterter, als der Sohn die Mutter liebt; denn seine Liebe war freier, als die Kindesliebe, war nicht naturbestimmt, sondern Erkenntniß und frei Wahl, und überall steht das Freigewählte hoch über allem Angeborenen.

Aber Seba war nicht jung wie er, sie bedurfte seiner nicht, sie war nicht ausschließlich sein eigen. Es änderte sich in ihrem Loose, in ihrem Leben nichts, was auch aus ihm werden mochte, und doch dünkte es ihn, als gleiche er immer nur dem Blatte, das der Wind umhertreibt, als fasse er nicht feste Wurzel in dem Leben, so lange er sich nicht nothwendig, nicht unentbehrlich für ein anderes Menschenwesen wisse, so lange er, der keine Heimath und keine Familie für sich vorgefunden hatte, sich nicht seine Heimath selbst geschaffen habe in der Familie, die er selbst begründet, so lange er sich in seinen Kindern nicht eine Fortdauer über seinen Tod gesichert habe.[404]

Ein scharfer Luftstrom streifte über Paul's Stirn und entriß ihn seinem weichen Sinnen. Die Nacht war im Entschwinden. Wie am ersten Schöpfungstage begannen Luft und Wasser sich vor seinem Auge zu scheiden, der Blick wurde wieder Herr der Welt, und langsam durchdringend und sich Bahn machend durch das schwebende und wallende Gewölk, das sie mit ihrem Purpur färbte, stieg endlich in flammender Herrlichkeit die Sonne, mächtig in ihrer Leben bringenden Kraft, aus den dunkeln, kalten Wogen an dem klar gewordenen Winterhimmel empor.

Der Morgen, rauh und kalt wie er war, erfrischte Paul und gab ihn sich selber wieder. Er wußte, was ihm das Herz so weich gemacht hatte, aber er scheuchte den Gedanken wie einen entnervenden Traum weit von sich fort, denn Ungeduld und Unzufriedenheit mit dem selbstgeschaffenen Loose erschienen ihm als eine Unmännlichkeit und Schwäche. Erst das Vaterland und dann das Haus, erst die Freiheit und dann das Glück! rief er laut sich selber zu, und ohne zu wissen, worauf dieser Wahlspruch sich bezog, stimmte Herr von Werben von Herzen in denselben ein.

Dem Juden, der inzwischen nicht aufgehört hatte, seine Passagiere heimlich zu beobachten, entging weder die sichtliche Zufriedenheit, mit welcher sie den Tag begrüßten, noch ihr wachsendes Verlangen, an die Grenze zu kommen, und er gab die Hoffnung noch nicht auf, von ihrer guten Stimmung zu erlangen, was ihre Verschlossenheit ihm abgeschlagen hatte. Daß seine Passagiere keine gewöhnliche Leute seien und daß er unter ihrem Schutze, wenn sie nur wollten, mit seinen Waaren die Grenze gut passiren könne, das hatte sich in den Stunden einsamen Sinnens für ihn als letzte Ueberzeugung festgestellt. Es kam daher für ihn, wie er meinte, nur Alles darauf an, ihr Zutrauen und ihren guten Willen für sich zu gewinnen, und er ließ es an den Zeichen einer sorglosen Heiterkeit nicht fehlen.

Er rückte seine Spitzmütze vergnüglich weit aus der Stirn[405] zurück, er schnalzte mit der Zunge, knallte mit der Peitsche, schlug, sich zu erwärmen, mit den Beinen gegen seinen elenden Sitz, daß die Stiefel gegen das Holz klapperten. Aber was er auch that, die Aufmerksamkeit der Reisenden auf sich zu ziehen, es schlug alles fehl, denn Paul war Kaufmann genug, um den Begehrenden an sich herankommen zu lassen. Endlich, als über der weiten Fläche die Thürme der Hafenstadt sich schon erhoben, hielt der Jude seine Pferde mitten in ihrem Laufe an und sagte, sich mit dem pfiffigen und zugleich ängstlichen Blicke seines Volkes zu den Reisenden wendend, während er mit dem Stiele seiner zerbrochenen Peitsche vorwärts zeigte: Der gnädige Herr sehen, ich habe gehalten mein Wort und meine Zeit! Was soll ich haben, wenn ich die Herren gerades Weges nach der Grenze fahre?

Das wird sich an der Grenze finden, gab ihm Paul zur Antwort, dessen sich, nun er sich dem Ziele so nahe wußte, das Verlangen, es zu erreichen, mit einer wahren Leidenschaft bemächtigte, und noch ehe der Jude sich besinnen konnte, hatte Paul, um seiner Sache sicher zu sein, sich an seine Seite gesetzt und ihm mit dem Befehle, ihm die nächste Straße nach der Grenze anzugeben, Zügel und Peitsche aus der Hand genommen.

Der Jude, sobald er merkte, daß es Ernst und daß kein Auflehnen gegen den fremden Willen möglich sei, ließ zwar Alles geschehen, denn auch er war schneller Berechnung fähig und hoffte seinen Vortheil von seiner Nachgiebigkeit zu ziehen. Aber er schrie und klagte über die Gewaltthat, die Paul an ihm beging. Er jammerte über sein Mißgeschick, er nahm Gott zum Zeugen, daß er ein rechtlicher Mann sei, und klagte Gott an, daß er ihm diese Passagiere zugesendet. Er verwünschte sich und sie und seine Noth und seine Armuth, bis er endlich den kutschirenden Paul, der in seiner wachsenden Spannung des Juden gar nicht achtete, beschwor, wenigstens den Pferden in dem einsamen[406] Kruge, aus dessen Schornstein man den weißgrauen Rauch aufsteigen sah, eine kleine Rast zu gönnen.

Wenn sie nicht bekommen einen Bissen Brod und Branntwein, werden's die armen Thiere nicht halten aus, und die gnädigen Herren werden liegen bleiben, wenn sie nicht hier anhalten bei dem Abraham, der ein ehrlicher Mann ist und mein Tochtermann! Es ist noch eine geschlagene Stunde bis zur Grenze, und ohne Fütterung können die Pferdchen nicht weiter fort!

Paul konnte es sich nicht verhehlen, daß der Jude hierin die Wahrheit redete. Die abgetriebenen Pferde stolperten vor Mattigkeit, und die Peitsche und sein Zuruf machten keinen Eindruck mehr auf sie.

Als sie vor dem einsamen, an der Straße liegenden Gehöfte des Wirthshauses vorfuhren, trat der Krüger, ebenfalls ein polnischer Jude, vor die Thüre hinaus und erkannte und begrüßte seinen Schwiegervater, der ihm in einer den Reisenden unverständlichen Sprache gleich einige Worte entgegenrief.

Wie weit ist's von hier zur Grenze? fragte Paul den Krüger.

Eine halbe Stunde, gnädige Herren! antwortete ihm dieser, weil er dadurch Zeit für die Rast zu gewinnen meinte. Aber sein Schwiegervater fiel ihm in die Rede.

Eine halbe Stunde, sagst Du! Wie kannst Du sagen eine halbe Stunde? Eine Stunde ist's, und eine gute Stunde, und die Pferde ....

Genug! versetzte Paul, der am Ende dem Juden in seinem Erwerbe, wie dieser auch geartet war, kein unnöthiges Hinderniß und keine Gefahr bereiten wollte; denn er hatte sie gut bedient, und Paul und sein Gefährte hatten ihm eine Belohnung zugedacht. Genug! wiederholte er, zog die Uhr aus der Tasche und hielt sie dem Juden vor das Gesicht. Du sollst zwölf Minuten Zeit haben, Deine Pferde zu erfrischen, wenn Du uns danach in einer halben Stunde über die Grenze bringst![407]

Der Jude versprach es und die Reisenden stiegen einen Augenblick vom Schlitten ab. Eine tragbare Krippe ward rasch herbeigeholt und vor die triefenden Pferde hingestellt, denen ihr Besitzer ein paar alte Decken überwarf, während die hungrigen Thiere das in Stücke geschnittene, mit Branntwein getränkte Brod gierig verschlangen.

Inzwischen waren des Krügers Frau und Kinder herbeigekommen, welche hastig die Kissen von dem Schlitten nahmen, sie mit anderen, eben so elenden Sitzkissen vertauschten und verschiedene Päcke und Rollen unter dem Stroh hervorzogen, das der Fuhrmann unter seinen Füßen liegen gehabt hatte. Zu wiederholten Malen nöthigte der Wirth die Fremden, einzutreten, um ein Glas Branntwein am warmen Ofen zu sich zu nehmen; aber er konnte sie nicht dazu bewegen. Die Uhr in der Hand, fragte ihn Paul, ob neuerdings viel Verkehr von Fremden in seinem Hause gewesen sei. Der Krüger verneinte es, hoffte aber, es werde bald besser für seine Wirthschaft kommen, wenn erst der Kriegszug des großen Kaisers begonnen haben werde, von dessen Bevorstehen ihm der französische Gensd'arme Kunde gebracht habe, der erst gestern wieder bei ihm angesprochen.

Es kommen ihrer jetzt öfter solche zu mir reiten, außer den preußischen; sie vigiliren scharf auf die Herren, die da passiren wollen über die Grenze! setzte er mit bedeutendem und listigem Blicke und Augenzwinkern hinzu. Aber das beredte Wort erstarb ihm auf der Zunge, als er sah, daß Paul das Taschen-Fernrohr, mit dem er nach der Seite, von welcher er hergekommen war, ausgespäht hatte, rasch zusammenschob und, nachdem er einige Worte auf Englisch zu seinem Gefährten gesprochen hatte, dem Fuhrmanne den Befehl gab, augenblicklich aufzubrechen. Er selbst und Werben legten eilig den Pferden die abgenommenen Zügel wieder an, dann sprangen sie in den Schlitten, zwangen den jammernden und lamentirenden Juden, mit ihnen einzusteigen,[408] und nachdem Paul dem Wirthe noch ein Geldstück als Bezahlung zugeworfen hatte, ging es fort, so schnell die unvollständig erquickten Pferde zu laufen vermochten.

Sie waren noch keine Viertelstunde gefahren, als Paul wiederum sein Fernrohr auf die beiden Punkte richtete, deren Gewahrung vorher den Entschluß des plötzlichen Aufbruches in ihm veranlaßt hatte. Er hielt es lange am Auge, während sein Freund die Zügel in die Hand nahm, und fragte dann, als er es absetzte, auf die abgejagten Thiere und den in Todesangst zitternden Kutscher blickend: Was halten Sie von der Sache, Herr von Werben?

Werben blickte ebenfalls zurück, zuckte die Schultern und sagte: Es hilft uns nichts! Ihre Pferde sind frisch – sie holen uns ein, noch ehe wir die Grenze erreichen.

So ist's besser, wir machen es gleich ab, meinte Paul. Sie hatten auch diese Worte wieder englisch gesprochen; Herr von Werben überließ dem Juden wieder die Zügel seiner Pferde, die beiden Reisenden nahmen auf dem hinteren Sitze ihre alten Plätze ein und Paul sagte, sich an den Juden wendend: Fahre langsam!

Dieser ließ sich das nicht zweimal sagen, und die Pferde fielen gleich in Schritt, als man eben in das beschneite Fichtenholz einfuhr, an dessen anderem Ende, wie der Jude angab, die Grenze sich hinziehe.

Was gedenken Sie zu thun, Tremann? fragte Herr von Werben seinen Gefährten, indem er ein Paar fein gearbeitete Doppel-Pistolen aus der Manteltasche nahm und Paul die Steine seiner Pistolen mit seinem schweren Einschlagemesser auf's Neue schärfte und frisches Zündkraut auf die Pfannen schüttete.

Das kommt darauf an! Sind es Preußen, so haben wir unsere geschriebenen Pässe, die in Ordnung sind; wenn es dagegen[409] Franzosen sind, nun, so – er lächelte mit einem Ausdrucke grimmiger Entschlossenheit, den Herr von Werben nie bisher an ihm bemerkt hatte – so haben wir diese geladenen Pässe, die nun auch in Ordnung sind!

Während die Reisenden, ihre Waffen in der Hand, langsam vorwärts fuhren, hielten an dem elenden Kruge, den sie kurz zuvor verlassen hatten, zwei Reiter. Der eine derselben, in halb militärischer Tracht, war augenscheinlich ein Franzose, der andere ein preußischer Gensd'arme, welcher jenem als Führer mitgegeben zu sein schien. Sie waren beschäftigt, den Wirth des Kruges zu verhören, und die Auskunft, welche sie auf ihre Erkundigungen erhielten, schien ganz nach dem Wunsche des Franzosen auszufallen.

Wir erreichen sie noch vor der Grenze! rief der Franzose seinem Begleiter zu, und wenn es die sind, die wir suchen, setzte er leise für sich hinzu, so ist mein Glück gemacht. Vorwärts, Kamerad! – Sie gaben ihren Pferden die Sporen und sprengten nach der Richtung fort, welche die Reisenden genommen hatten.

Es währte nicht lange, bis sie den langsam durch das Gestrüpp dahinfahrenden Schlitten vor sich erblickten. Sie waren noch ungefähr einige Hundert Schritte von demselben entfernt, als der preußische Gensd'arme gegen seinen Begleiter bemerkte: Das sind schwerlich Leute, die es eilig haben, Herr Commissar, denn sie fahren Schritt, obschon sie uns bereits seit längerer Zeit gesehen haben müssen, und die Grenze ist keine Viertelstunde mehr entfernt. Die müssen ein gutes Gewissen haben!

Aber der Andere antwortete auf diese Bemerkung nur durch ein drohendes Halt, welches er den Fahrenden zurief, während er im vollen Laufe an den ruhig weiter fahrenden Schlitten heransprengte. Kopfschüttelnd und sichtbar unzufrieden folgte ihm langsam der Gensd'arme. Er traf seinen Begleiter bereits in heftigem Wortwechsel mit den beiden Reisenden.

Ich kümmere mich den Teufel um Ihre Pässe! schrie der[410] Franzose, in welchem Paul augenblicklich einen der französischen Beamten erkannte, die er täglich bei Herrn von Castigni ein- und ausgehen gesehen hatte. Sie sind allerdings Herr Tremann, ich glaube das meinen Augen, nicht Ihrem Passe; aber der andere Herr ist eben so wenig Ihr Bedienter, als ich es bin! Sie müssen beide mit mir umkehren, ich habe Sie nach der nächsten Kreisstadt abzuliefern!

Sehen Sie Sich vor, was Sie thun! rief Paul ihm zu. Sie sind kein Beamter unseres Königs! Sie haben keine Vollmacht, Sie haben kein Recht, friedliche Reisende aufzuhalten, die sich durch ihre Pässe ausweisen können!

Sehen Sie selbst Sich vor, Monsieur Tremann! versetzte hohnlachend der Franzose. Sie sind der Spionage verdächtig, und der Bundesgenosse und Herr Ihres Königs, der Kaiser Napoleon, pflegt mit Spionen keinen langen Proceß zu machen!

Ich rufe Sie zum Zeugen an, wendete sich Paul, da Herr von Werben sich in der Rolle des Bedienten, wenn auch mit großer Selbstüberwindung, schweigend und zuwartend verhalten mußte, an den preußischen Gensd'armen, der inzwischen ruhig die Pässe der Reisenden durchgesehen hatte – ich rufe Sie zum Zeugen an, daß hier die Majestät Ihres Königs und Herrn beleidigt wird! Sie sind ein preußischer Unterthan und Soldat, wollen Sie das geschehen lassen?

Der Angeredete war sichtlich bewegt. Er versuchte, sich in das Mittel zu legen; aber es war vergebens, daß er dem Franzosen bemerklich machte, daß die Papiere der Reisenden völlig in Ordnung seien und daß also gar kein Grund vorliege, dieselben weiter aufzuhalten.

Kein Grund? rief der Franzose. Aber wenn ich Ihnen nun sage, daß dieser Bediente ein Offizier, ein preußischer Offizier, daß es der Hauptmann von Werben ist, den ich hiermit als Deserteur verhafte![411]

Wie ein Blitz zuckte es über das Gesicht des Gensd'armen, als Herr von Werben, nun er sich entdeckt sah, der Verstellung ohnehin längst müde, die Mütze zurückschlug, welche sein Antlitz verborgen hatte, und Jener ihn erkannte. Herr Hauptmann, mein Herr Hauptmann! Sind Sie es denn wirklich? rief er in freudiger Bewegung aus.

Ja, ich bin es! entgegnete Werben, indem er aus seiner Brieftasche ein Papier hervorzog – aber ich bin kein Deserteur! Hier ist mein Abschied, von Seiner Majestät unserem Könige unterzeichnet! Ich bin frei, zu gehen, wohin ich will, und Gott der Allmächtige weiß es, setzte er knirschend hinzu, warum ein preußischer Soldat und Edelmann gezwungen ist, heimlich zu thun, was er offen zu thun berechtigt ist! Willst Du Deinen Hauptmann an die Franzosen verrathen, Wendland? –

Er hatte den Schlitten verlassen und war mit dem Gensd'armen ein wenig seitwärts an den Rand des Gehölzes getreten, als plötzlich dicht hinter ihnen ein Pistolenschuß fiel, dem auf der Stelle ein zweiter folgte. Sie blickten zurück: der Franzose, durch den Kopf geschossen, stürzte von dem Pferde, das, davon aufgeschreckt, zurück jagte. Paul stand aufrecht im Schlitten, die abgefeuerte Waffe in der Hand.

Er hat es gewollt! sagte er finster – der Elende hat seinen Lohn! Er schoß zuerst, fügte er hinzu, indem er mit der Hand nach der linken Schulter fuhr und sie blutig zurückzog. Sein Blut komme über ihn! Und jetzt vorwärts, Herr von Werben! Wir sind jetzt Zwei gegen Einen!

Gott bewahre, wir sind unserer Drei, rief der Gensd'arme, denn wo mein Herr Hauptmann bleibt, da bleib' ich auch! Mag der Teufel noch länger preußischer Gensd'arme in französischen Diensten sein! Ich gehe mit Ihnen zu den Russen und über die Grenze!

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 6, Berlin 1871, S. 3.
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