Zweites Capitel

[197] Renatus hatte, als die Parade beendet war, sein Pferd dem Reitknechte übergeben, um noch einige Besuche und Gänge abzumachen. Er befand sich bereits wieder auf dem Heimwege, als er vor dem Gasthofe, in welchem die Gräfin abgestiegen war, einen Miethswagen halten sah, mit dem es etwas Besonderes auf sich haben mußte, denn der Wirth und die Kellner umgaben ihn mit unverkennbarem Erschrecken. Es kamen die Wirthin und ein anderes Frauenzimmer aus dem Hause herbei, man rief nach einem Sessel, nach einem Arzte, und mit jener Neugier, welche man in einem müßigen Augenblicke empfindet, trat Renatus, der zur Zeit seiner Rückkehr aus Frankreich selbst in dem Hause gewohnt hatte, an den Besitzer desselben heran und fragte, was es gäbe.

Ach, versetzte dieser, eine junge, vornehme Dame, die vor zwei Stunden bei uns angekommen ist, hat gleich danach zu Fuße das Haus verlassen und wird uns nun ohnmächtig oder vielleicht gar todt in diesem Wagen nach Hause gebracht. Ihr Diener ist hinauf gegangen, ihre Kammerfrau zu holen, und wir versuchen eben, wie wir sie am besten von der Stelle bringen.

Er wendete sich dabei wieder zu seinen Leuten, und von der Seltsamkeit des Vorfalles angezogen, trat Renatus an die andere Seite des Wagens heran, um hinein zu sehen. Kaum aber hatte er die Gestalt erblickt, die ganz zusammengesunken und bleich wie eine Todte mit geschlossenen Augen dalag, als[197] er die Thüre des Wagens aufriß und mit dem Ausrufe: Eleonore, um Gottes willen, wie kommen Sie hieher? Was ist geschehen, Eleonore? in den Wagen sprang und sie in seinen Armen in die Höhe hob.

Die Umstehenden traten vor Verwunderung zurück; nur der Wirth sah es, wie die Fremde vor des Freiherrn lautem Anrufe matt und langsam die Augen aufschlug und, als habe sie ihn erkannt, ihr Haupt auf seine Schulter legte.

Niemand wußte, was er von dem Vorgange denken solle; aber als nun vollends die Leute der Gräfin herbeigekommen waren, als der Diener und die Kammerfrau den Freiherrn bei seinem Namen nannten, als die Letztere Gott dafür dankte, daß er den Baron hieher geführt habe, da schien dem Wirthe plötzlich die Einsicht in die obwaltenden Verhältnisse zu kommen, und den Kellnern ein Zeichen gebend, daß sie sich entfernen sollten, leistete er in Person, mit den Leuten Eleonorens, dem Freiherrn den Beistand, dessen er bedurfte, um die ihrer selbst nicht Mächtige in das Haus und in ihre Gemächer zu tragen.

Die Kranke war entkleidet, war zu Bette gebracht, ein Arzt herbeigeschafft; aber von ihr selber konnte man keine Art von Auskunft über ihr Befinden erhalten. Sie vermochte ihre wandernden Gedanken nicht zusammen zu halten, obschon sie Renatus wiedererkannt hatte und nach ihm verlangte, wenn sie in einzelnen Augenblicken ihrer Sinne Herr war.

Er und der alte Diener hatten den Arzt, so weit als nöthig, mit den obwaltenden Verhältnissen bekannt gemacht, und wie derselbe sich auch weigerte, in diesem ersten Augenblicke ein festes Urtheil auszusprechen, ließ er es doch errathen, daß man es hier mit mehr als einem vorübergehenden Leiden, daß man es allem Anscheine nach mit einer ernsten und schweren Krankheit zu thun haben werde. Er wollte sich, nachdem er seine Verordnungen gemacht hatte, entfernen, und Renatus schickte sich[198] an, ihn zu begleiten; aber Eleonore bemerkte es, als der Freiherr seine Hand aus ihrer in Fieberhitze glühenden Rechten zog, und ihn festhaltend, rief sie angstvoll: Sie dürfen nicht fort! Sie nicht! Nein, Sie nicht!

Es lag etwas völlig Irres in ihrem Blicke und in ihrem Tone, das ihn entsetzte. Er hatte ein unbegrenztes Mitleid mit dem schönen, einst so selbstgewissen Mädchen, das er so hülflos vor sich sah; aber auch seine eigene Lage macht ihm Sorge. Daß es für ihn, nach den vereinzelten Gerüchten, welche über seine Beziehungen zu der Gräfin in Umlauf gekommen waren, nicht möglich sei, ihren Krankenpfleger zu machen, darüber wäre er mit sich ganz im Klaren gewesen, auch ohne die Anwandlung von Eifersucht, mit welcher seine junge Frau die Gräfin Haughton stets betrachtet hatte.

Er hätte viel darum gegeben, wäre er nicht so unvorbereitet, so plötzlich in dieses Abenteuer hineingezogen worden, hätten die Leute in dem Gasthofe es nicht gesehen, wie er die Gräfin, wie sie ihn wiedererkannt, wäre der Arzt nicht Zeuge gewesen, wie Eleonore ihn nicht lassen wollen, wie sie sein Bleiben gefordert hatte, als habe sie ein Recht darauf. Er konnte es sich nicht verbergen, daß er jedem in die Verhältnisse nicht Eingeweihten als der Mann erscheinen mußte, dem Eleonore gefolgt war, der an ihrer Krankheit Schuld trug, und er hatte eben erst die langjährige Verlobung mit Hildegard aufgelöst, hatte sich eben erst verheirathet, eben erst seine Frau in die Gesellschaft eingeführt, deren Verhalten gegen seine junge Gattin ihm ohnehin nicht wohlwollend erschienen war.

Die Kranke sich und ihrem Schicksale zu überlassen, daran dachte er nicht; aber er sann darüber nach, wem er sie übergeben, wen er in die Lebens- und Herzensverhältnisse der Unglücklichen, so weit er selber sie zu beurtheilen im Stande war, einweihen dürfe, ohne sie dadurch gegen Eleonore einzunehmen,[199] und er konnte Niemanden finden. Die Gräfin Rhoden war nicht in der Stadt, Cäcilie, wie sehr er sie auch liebte und ihr vertraute, war Eleonoren nicht gewachsen. Sie konnte er unmöglich zur Pflegerin Eleonorens machen, von ihr konnte er für diese keinen Anhalt hoffen; er mochte auch den Schatten dieses düsteren Geschickes nicht auf die ersten, schönen Tage seiner Ehe fallen lassen, er mochte die harmlose Fröhlichkeit seines jungen Weibes nicht stören und nicht missen.

Wie er nun so, zwischen einer berechtigten Selbstsucht und seinem Mitgefühl getheilt, vor- und rückwärts blickte, drängte sich ihm unwillkürlich der Gedanke in die Seele, daß seiner Familie von der Annäherung an die verstorbene Herzogin von Duras nichts als Unheil gekommen sei. Er grollte dem Tage, an welchem die Herzogin zuerst sein Vaterhaus betreten hatte, er verwünschte es, sie in Paris aufgesucht zu haben. Er begriff kaum, wie er überhaupt auf den Gedanken verfallen war. Hatte er doch sein Leben lang niemals vergessen können, wie heiter die Herzogin stets gewesen, als seine Mutter in dem Flies'schen Hause schon zum Tode krank darnieder gelegen hatte; wie sie an nichts gedacht, als an sich und ihr Behagen, während die treue Seba Tag und Nacht am Lager seiner Mutter gesessen und wie ein freundlicher Schutzgeist an demselben Wache gehalten hatte.

Wie Jemand, der im Dunkeln, seines Weges ungewiß, angstvoll umhergetastet hat, plötzlich stehen bleibt und sich zurecht zu finden trachtet, wenn ihn aus der Ferne ein Lichtschein die rechte Straße ahnen läßt, so hielt Renatus plötzlich inne: denn jetzt wußte er, wo er Hülfe finden könnte. Eine Frau wie Seba that Eleonoren Noth, eine Frau wie Seba fehlte an diesem Krankenbette. Seba hatte die volle Einsicht in das Menschenleben, welche duldsam und barmherzig macht. Sie hatte die Schmerzen seiner Mutter in ihrem Busen treu bewahrt;[200] seine Mutter hatte ihres starken Verstandes, ihres großen Herzens in den Tagebüchern oft erwähnt, die in den Besitz ihres Sohnes übergegangen waren und die ihn bestimmt hatten, Seba aufzusuchen, als er vor neun Jahren zuerst nach der Hauptstadt gekommen war. Aber was lag alles zwischen dem heutigen Tage und jener fernen Zeit! –

Freilich hatte er nur mit tiefstem Bedauern, nur mit innerstem Widerstreben die Mittheilungen seines Oheims über dessen Liebeshandel mit Seba angehört und geglaubt; indeß er hatte sie doch geglaubt! Er hatte sie auf das Wort eines Mannes hin geglaubt, dessen Charakterlosigkeit er kannte, dessen frevelhaften Leichtsinn in Bezug auf Frauen, ja, dessen niedrige Sinnlichkeit ihm immer ein Gegenstand der Abneigung und des Mißtrauens gewesen waren. Er hatte Seba, von der er nichts als Gutes wußte und erfahren hatte, ohne eine Anfrage an sie, ohne sie zu hören verurtheilt. Seine Schwiegermutter, die sie schätzte, seine damalige Verlobte, die an Seba hing, hatte er von ihr entfernt, sich selber in schnöder Weise von ihr losgesagt, und das alles, weil ein Mann mit den leichten und sichern Umgangsformen der vornehmen Gesellschaft sich schamlos berühmt hatte, die Gunst dieser Frau besessen zu haben, als sie noch ein halbes Kind gewesen war. Als ob es eine Heldenthat oder eine große Kunst gewesen wäre, das Vertrauen der Unschuld zu gewinnen und zu mißbrauchen! Und Seba hatte vielleicht einst eben so elend, eben so verzweifelnd, mit sich und mit dem Leben gerungen, wie jetzt die unglückselige Eleonore, die in ihren Phantasieen bald die heilige Jungfrau zu ihrem Beistande anrief, bald mit flehendem Verlangen den Namen des Mannes aussprach, den sie liebte und von dem sie, wie sie immer wiederholte, ihre Seele wiederhaben wollte.

Alle diese Gedanken und Erinnerungen zogen in rascher Folge durch sein aufgeregtes Hirn, während er an dem Lager[201] der Kranken saß. Der Zeiger der Uhr, welche auf dem Spiegeltische zwischen den beiden Vasen voll künstlicher Blumen stand, rückte mit melancholischer Sicherheit von Minute zu Minute vorwärts, und jede Minute steigerte mit der Unruhe und der Angst des Freiherrn ein nicht abzuweisendes, lastendes Schuldbewußtsein in seinem Innern. Er, der meist immer mit sich wohl zufrieden gewesen war, der sich stets mit selbstischer Leichtigkeit zurechtzusetzen gewußt, wenn er sich in irgend welchem inneren Zwiespalt befunden hatte, konnte heute dies Schuldbewußtsein nicht überwinden, und es bezog sich nicht auf eine bestimmte Person oder auf eine bestimmte Handlung, es war eine allgemeine Unzufriedenheit mit sich selbst, die sich seiner bemächtigte.

Er fühlte sich schuldig gegen Seba, er war weniger als jemals darüber beruhigt, daß er den Grafen Gerhard einst so nahe an sich herangelassen hatte. Er warf sich seine frühe Verlobung mit Hildegard vor, er tadelte sich, daß er Eleonoren von derselben nicht gleich unterrichtet, daß er dem Abbé, ohne ihn genau genug zu kennen, sein Vertrauen gewährt hatte; und er bereute das alles hauptsächlich, weil er, der danach getrachtet hatte, sich in dem ihm angeborenen Kreise unter seines Gleichen recht festzusetzen und auszubreiten, jetzt, da er einer Leidenden die Hand bieten, sie aufrichten und tragen wollte, sich es eingestehen mußte, daß es ein trügerischer Boden sei, auf dem er sich bewege, und daß er Niemanden, aber Niemanden in seiner genzen nächsten Umgebung und Verwandtschaft habe, von dem er in einem außergewöhnlichen Falle auf einen außergewöhnlichen Beistand rechnen dürfe.

An wen von allen seinen Standesgenossen sollte er sich wenden, um Hülfe zu fordern für eine junge Gräfin Haughton, die, von der Liebe für einen katholischen Geistlichen über alle Schranken der gesellschaftlichen Zucht und Sitte fortgerissen,[202] ihren Glauben gegen ihre Ueberzeugung abgeschworen hatte, und nun in halbem Irrsinne ihren Bekehrer mit ihrer Leidenschaft verfolgte?

Es war in Eleonorens Lage und Verhalten Alles dazu angethan, jene Frauen abzustoßen, welche in die Bewahrung ihres guten Rufes, in die strenge Unterordnung unter die hergebrachte Sitte, und in das Beharren innerhalb der ihnen durch ihren Stand und ihre Geburt angewiesenen Schranken ihre Ehre setzten. Renatus hatte von frühester Jugend an aus voller Ueberzeugung die engen und unwandelbaren Formen und Gesetze der sogenannten guten Gesellschaft als ein Heilsames und Nothwendiges anerkannt. Er hatte es von den Frauen seines Standes als ein Unerläßliches gefordert, daß sie selbst den geringsten übeln Schein zu meiden suchen sollten, und er würde noch in dieser Stunde jedem, auch dem leisesten Zweifel an einer zu ihm und seinem Hause gehörenden Frau, als Edelmann, auf edelmännische Weise zu begegnen für seine Pflicht erachtet haben.

Hier aber lag nun Eleonore, dem härtesten Urtheile gerechten Anlaß bietend, unglücklich und verlassen, und doch nicht schuldig.

Immer und immer wieder kam Renatus auf die eine Frage zurück: Wen soll ich rufen, ihr beizustehen und mir zu helfen?

Einen Priester seiner Kirche? Der Arzt hatte dies eben so entschieden verboten, als die Zulassung eines protestantischen oder englischen Geistlichen, auf welchen die Dienerschaft der Kranken ihre Hoffnung gerichtet hatte. – Eine der älteren Frauen seiner Bekanntschaft? Man war gegen ihn selber nicht ohne Voreingenommenheit, wie konnte er hoffen, für Eleonore ein gerechtes, ein nachsichtiges Urtheil zu gewinnen? Wie konnte er erwarten, von denen, welche sich für makellos, für eine besondere und bevorzugte Menschenklasse betrachteten, das Erbarmen mit[203] den Irrthümern und Fehlern eines Mädchens zu erlangen, das sich eben durch dieselben von dem Herkommen ihres Hauses und ihres Standes so auffallend entfernte!

Und er selber? Nun, er hatte es ja auch für Pflicht erachtet, selbst den Schein des Unrechtes von sich fern zu halten, weil die Welt berechtigt sei, nach dem Scheine zu urtheilen – und der Schein war ganz entschieden gegen ihn. Heute, jetzt verstand er es, weßhalb der Heiland, an den er glaubte, nicht die Pharisäer und Schriftgelehrten zu seinen Schülern und Aposteln auserkoren hatte, weßhalb er sich mit seiner Lehre von der Liebe und von der Vergebung zu den Armen hingewendet, die der Liebe und der Vergebung sich selber bedürftig gefühlt hatten; heute verstand er zum ersten Male, was Christus hingezogen zu der Sünderin.

Nur Seba konnte ihm helfen, und was es ihn auch kostete, ihr zu nahen, gegen die er sich versündigt hatte, er mußte ihren Beistand fordern.

Vorsichtig, um Eleonore nicht zu erwecken, die in Schlaf versunken war, zog er seine Hand aus der ihrigen, und ihren Leuten die nothwendigen Weisungen zurücklassend, machte er sich zu Seba auf den Weg.

Es war zwei Uhr vorüber, als er an Tremann's Thüre den öffnenden Hauswart fragte, ob Fräulein Flies zu Hause sei. Die Herrschaft speise, gab man ihm zur Antwort, und Herr Tremann habe streng befohlen, daß man während der Mahlzeit Niemanden melden dürfe. Der Freiherr schützte dringende Geschäfte vor; der Hauswart blieb bei seiner Weigerung, bis die Unruhe, welche Renatus nicht verbergen konnte, jenen anderen Sinnes machte. Er zog eine Schelle, welche in das Innere des Hauses ging; der Diener kam heraus, und auf die Erklärung, daß der Herr Major das Fräulein zu sprechen wünsche und sich nicht abweisen lasse, forderte der Diener des[204] Freiherrn Karte, nöthigte ihn, in das Vorzimmer einzutreten, und entfernte sich dann, den Bescheid für ihn zu holen.

Wie sie das gelernt haben! sagte Renatus unwillkürlich und mit Erstaunen; als ob die Gewöhnung an Bequemlichkeit und an jene häuslichen Einrichtungen, welche vor unwillkommenen Störungen und Ansprüchen bewahren, das Vorrecht einer besonderen Menschenklasse wäre. Wie sie das gelernt haben! Der alte Flies sprang noch behende von seinem Tische auf, wenn man im Laden schellte – und nun gar für Unsereinen!

Es blieb ihm jedoch zu diesen Betrachtungen nur kurze Zeit, denn der Diener brachte ihm die Antwort, daß die Herrschaft ihn zu empfangen bereit sei, und ging vorauf, ihn nach Seba's Zimmer zu geleiten.

Er fand sie seiner bereits wartend; aber sie war nicht allein. Paul war bei ihr; denn nach den Erfahrungen, welche Graf Gerhard ihn bei Anlaß von Seba's Briefen hatte machen lassen, und nach der Weise, in der Renatus sich von dem Flies'schen Hause zurückgezogen, meinte Paul seine Freundin vor jeder Begegnung mit diesen beiden Männern, so viel an ihm war, behüten, oder ihr bei einer solchen doch mindestens zur Seite stehen zu müssen. Es lag daher auch wenig Ermuthigendes in seinem Tone, als er den Freiherrn fragte, welchem Zufalle man die Ehre seines Besuches zu verdanken habe.

Auf Paul zu treffen, wo er darauf gerechnet hatte, Seba allein zu finden, war dem Freiherrn nicht willkommen; aber er überwand sich, weil die Nothwendigkeit ihn dazu zwang, und ohne auf eine Entschuldigung zu sinnen, sagte er mit der Sicherheit derjenigen, welche es gewohnt sind, für sich um ihrer Stellung und ihrer Persönlichkeit willen schließlich doch immer eine gute Aufnahme zu finden: Sie haben ein Recht, diese Frage in solchem Tone an mich zu richten, und ich würde, ehe ich es gewagt hätte, Fräulein Flies nach einer so langen Versäumniß[205] aufzusuchen, mich sicherlich vor ihr zu rechtfertigen getrachtet haben, wäre der Anlaß, der mich heute, der mich eben jetzt nöthigte und trieb, mich an Fräulein Flies zu wenden, nicht ein plötzlich eingetretener, und hätte ich Zeit, an etwas Anderes zu denken, als an die Hülfe, die ich von ihr für eine Unglückliche zu fordern gekommen bin!

Seba hatte ihn genöthigt, sich niederzusetzen, und den Faden seiner Mittheilungen wieder aufnehmend, sagte er: Sie werden Sich, ich weiß es, wundern, daß ich mich eben an Sie wende...

Nein, Herr Major, fiel Seba ihm mit ihrer sanften Würde in die Rede, o nein! Sie sind nicht der Erste meiner Freunde, der mich versäumte und mir wiederkam, der mich in seinem Glücke vergaß und sich an mich erinnerte, wenn er mich brauchte. Ich habe dies, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das sie noch immer sehr schön erscheinen ließ, ich habe dies aber immer als mein besonderes Adelsdiplom betrachtet, und Ihr heutiger Besuch, Ihr Anspruch an mich sind mir eine Bestätigung desselben. Seien Sie also will kommen – sie hielt ihm ihre Hand hin – in der That willkommen, Herr Major! Und nun, was wünschen Sie von mir?

Renatus küßte ihr die Hand, die sie ihm dargeboten hatte; aber das Roth der Scham trat ihm auf die Stirne, denn Paul war Zeuge der freundlich vornehmen Verzeihung, mit der sie ihren einstigen Freund behandelte, der Gnade, welche Seba ihm angedeihen ließ. Indeß Renatus mußte dies zu vergessen, sich darüber fortzusetzen suchen, und Seba und Paul erleichterten, nachdem die Erstere sich die ihrer würdige, aber unerläßliche Genugthuung bereitet hatte, ihm dies beide durch ihre Fragen und durch die Art, in welcher sie seiner Mittheilung ihr Ohr liehen.

So schnell, so gedrängt und so schonend, als es nur möglich war, suchte Renatus sie von den Verhältnissen der Gräfin, von[206] dem, was er selber mit ihr erlebt hatte, in Kenntniß zu setzen. Er hatte dabei seiner Verheirathung, er hatte Cäcilien's wie Vittoria's zu gedenken, und von dem Eifer seiner Mittheilungen fortgerissen, sagte er: Sie werden meine Stiefmutter, Sie werden meine Frau ja kennen lernen. Keiner von beiden, ich darf das zuversichtlich sagen, würde der gute Wille fehlen, der Gräfin beizustehen, aber der gute Wille ersetzt die Kraft, die Einsicht, die Erfahrung nicht. Sie sind meiner theuren Mutter einst ein solcher Trost gewesen – nehmen Sie Sich der Gräfin Haughton an.

Seba antwortete ihm nicht gleich, als er geendet hatte; das beunruhigte ihn.

Sie zögern? fragte er. Sie wollen oder Sie können ihr nicht beistehen?

Ich sinne nur darüber nach, entgegnete ihm Seba mit jener Einfachheit, deren nur die höchste Bildung und die höchste Güte fähig machen, ich sinne nur darüber nach, wie ich es anfange, gleich jetzt mit Ihnen zu Ihrer Kranken hinzufahren. Sie sagen mir, daß Sie nach Hause müssen, um Frau von Arten nicht zu beunruhigen, und ich habe für den Nachmittag eine andere Verabredung getroffen.

Das ist leicht zu ändern, bedeutete ihr Paul, der gewohnt, das Steuer zu führen, es unwillkürlich und überall, bei kleinen wie bei großen Anlässen ergriff; und die Schelle ziehend, befahl er dem Diener, daß man anspannen, schnell anspannen, und ihm aus dem Comptoir einen Boten senden solle. Dann schlug er dem Freiherrn vor, die Baronin durch ein paar Zeilen über sein Ausbleiben zu beruhigen; er selber übernahm es, Seba von ihrer genommenen Abrede zu befreien, und während diese sich entfernte, um sich anzukleiden und Davide von ihrem Ausgehen zu benachrichtigen, blieben Paul und Renatus in Seba's Wohnzimmer zurück.

Die zwei Worte an die Baronin von Arten waren schnell[207] geschrieben, der Bote damit fortgeschickt, und Renatus ward es nun mit einer peinlichen Empfindung inne, daß er sich mit Paul allein befand. Indeß auch jetzt wieder kam der Letztere ihm zu Hülfe.

Wie nannten Sie den Namen der jungen Gräfin? fragte er, um eine Unterhaltung einzuleiten. Ich mochte Sie vorhin in Ihrer Mittheilung nicht unterbrechen und habe ihn nicht verstanden.

Gräfin Eleonore Haughton! antwortete der Freiherr.

Paul besann sich. Den Namen habe ich schon gehört, meinte er; und plötzlich sich erinnernd, sagte er: Irre ich nicht, so ist die Gräfin bei unserm Hause accreditirt und uns in dem Creditive warm empfohlen; aber ich vermuthete in jener uns zugewiesenen Dame natürlich keine junge Frau, noch weniger ein junges Mädchen, und darum fiel mir der Name nicht gleich am Anfange auf.

Renatus erwiederte darauf nichts; das Gespräch drohte in's Stocken zu gerathen, und doch mochte er sich nicht immer wieder von Tremann vorwärts helfen lassen, mochte er nicht eben diesem Manne gegenüber den Anschein auf sich laden, als fehlten ihm die Leichtigkeit und Sicherheit, welche sein Vater in so hohem Grade besessen hatte, oder als fühle er sich in der Gesellschaft Paul's nicht frei. Er suchte nach einer neuen Anknüpfung; die lange Parade am Morgen, die erschütternde Begegnung mit der Gräfin, das Wieder sehen von Seba, kurz, alles, was er in den wenigen Stunden durchgemacht und durchempfunden, hatte ihn jedoch ermüdet, und zu der unerfreulichen Ahnung, daß er durch Eleonorens Ankunft in den Bereich neuer Verwicklungen getreten sei, gesellte sich noch der Gedanke, wie Paul sich jetzt nicht nur im Besitze dieses Hauses, sondern zum Theil auch bereits in dem Besitze der Arten'schen Güter befinde. Das befing Renatus vollends. Er konnte, wie er sich auch mühte, keine jener allgemeinen,[208] gleichgültigen Bemerkungen machen, mit denen man sonst einem Fremden gegenüber einige Minuten gemeinsamen Wartens auszufüllen pflegt. Aber diese Unbeholfenheit wurde ihm immer drückender, ja, sie steigerte sich allmählich bis zum Verdrusse über sich selbst, bis zu einer Angst; und als müsse er sich von derselben um jeden Preis befreien, als müsse er es durchaus erklären, was ihn beschäftige, sagte er plötzlich mit einer durch die Umstände in keiner Weise gerechtfertigten Lebhaftigkeit: Sie sehen, ich habe Ihren Rath befolgt; Rothenfeld und Neudorf sind verkauft!

Paul neigte kaum merklich das Haupt. Und Sie sind im Militär geblieben, fügte er hinzu, und haben die Frucht dieses Entschlusses, wie ich mit Vergnügen hörte, schnell genug geerntet. Man hat Ihnen zu gratuliren; Sie sind früh Major geworden!

Er hatte die Absicht gehabt, Renatus mit dieser Wendung von den ihm unerfreulichen Erinnerungen auf ein anderes Gebiet zu lenken, auf welchem ihm Gutes widerfahren und erwachsen war. Ueber diesen war jedoch mit der ersten Stunde, in welcher er sich zu dem Verbleiben in der militärischen Laufbahn entschlossen hatte, die rastlose Unzufriedenheit des Ehrgeizes gekommen, die sich nicht an dem Erreichten zu erfreuen vermag, wenn Anderen das Gleiche zu Theil geworden ist, und Tremann's Anerkennung von sich weisend, entgegnete Renatus: Ich bin nicht wesentlich früher als Sie im Heere vorwärts gekommen; Sie waren ja auch zu Ende des ersten Feldzuges bereits Major!

Während des Krieges war die Gelegenheit mir günstig, bemerkte Paul; das Avancement in der Landwehr machte sich bei den ungeheuren Verlusten, die wir erlitten hatten, schnell.

Und wieder hatte trotz der beiderseitigen guten Absicht das Gespräch nach diesen wenigen Worten noch einmal sein Ende erreicht. Es war, als läge eine unausfüllbare Kluft zwischen[209] ihnen, die zu überschreiten keiner von beiden die Brücke fand. Renatus meinte, es sei in seinen Verhältnissen geboten, seine Würde mit Zurückhaltung zu behaupten, und Paul fand keinen Grund in sich, dem Freiherrn eine besondere Zuvorkommenheit zu beweisen. Indeß die Unfreiheit, welche auf dem Anderen lag, fing Paul, dessen ganze Natur auf Freiheit gestellt war, zu belästigen an. Das Mitleid, welches er mit Renatus hegte, konnte ihn nicht verhindern, dieses Beisammensein beschwerlich zu finden. Unwillkürlich zog er die Uhr hervor, um zu ermessen, ob Seba noch nicht kommen, der Wagen noch nicht fertig sein könne. Das entging Renatus nicht, und als wolle er wenigstens in diesem Falle seine gesellschaftliche Ueberlegenheit behaupten, sagte er, sich gewaltsam überwindend, um eine neue Unterhaltung anzuknüpfen: Sie sprachen, als ich Sie bei meiner Rückkehr hier aufzusuchen veranlaßt war, von Einbußen und Verlusten, welche Ihr Haus während Ihrer Feldzüge erlitten hätte. Derlei stellt sich wahrscheinlich auch in Ihrer Lage so leicht nicht wieder her. Wie ist es Ihnen ergangen, was haben Sie gethan, seit ich Sie damals sah?

Paul's schönes Antlitz hellte sich auf. Es war ihm eine Erleichterung, daß Renatus sich von seiner Befangenheit loszumachen trachtete, und da er, wie alle tüchtigen Menschen, trotz der Enttäuschungen, denen Niemand mehr als eben solche unterworfen sind, doch immer wieder zum Glauben an den Menschen und zum Hoffen auf das Gute in der Natur desselben geneigt war, sprach er freundlich, wenn auch über die Art der Frage unwillkürlich lächelnd: Für Unsereinen, der mit seinem Thun und Lassen auf sich selbst gewiesen ist, läßt sich eine solche Frage nicht rundweg, nicht mit Einem Worte abthun. Indeß ich darf wohl sagen: ich habe nicht gefeiert! – Dann, als besorge er, den Freiherrn mit solch kurzem Bescheide wieder in das frühere Unbehagen zurückzuwerfen, fügte er hinzu: Es sind nicht allein[210] die großen Unternehmungen, es sind eben so wohl die kleinen täglichen Erfolge, welche uns vorwärts bringen; und das Wachsen, das Gedeihen vollzieht sich überall in der Regel geräuschloser und weniger sichtbar, als das Zerstören und das Zugrundegehen. Es liegt für den Dritten, für den Zuschauer daher vielleicht kein besonderes Interesse darin, uns auf unserm Wege zu begleiten, unserm immer gleichen und doch in sich sehr wechselreichen Arbeiten zuzusehen, selbst wenn es, wie dies meist der Fall ist, mit den allgemeinen Nothwendigkeiten eng genug verbunden ist. Wir haben keinen Rang, keine äußeren Anerkennungen, als diejenigen, welche das Urtheil unserer Standesgenossen und Mitbürger uns zu Theil werden läßt; denn jene Titel und Orden, welche der König einem Gewerbtreibenden gelegentlich verleiht, zählen nicht vor den Tüchtigen und Verständigen unter uns. Wir schaffen uns unsern Namen, unsere Stellung in der kaufmännischen wie in der bürgerlichen Welt aus eigener Machtvollkommenheit. Unsere tägliche Arbeit wird erst merkbar, wenn sie ihre Ernte getragen hat, obgleich wir uns derselben stets bewußt sind und unserer Freude an unsern mit tausendfachen Sorgen schwer errungenen Erfolgen nicht entbehren. Und da es uns an Sorgen und Hoffnungen dabei durchaus nicht mangelt, so brauchen wir nach Erregungen und Zerstreuungen nicht zu suchen, uns Lust und Pein nicht erst zu schaffen. Das hat auch sein Gutes, besonders für denjenigen, der in der freien Arbeit an und für sich schon seine wahre Befriedigung genießt!

Er brach ab, weil er besorgte, mit der Schilderung seiner Zustände wider seinen Willen ein Gegenbild zu denen des Freiherrn geboten zu haben; und in der That lag in des Kaufmanns stolzer Selbstgenügsamkeit ein Vertrauen zu dem Leben und in die Zukunft verborgen, um welches der Freiherr ihn beneidete. Er konnte sich jedoch nicht überwinden, ihm dies auszusprechen,[211] und ohne eine Bemerkung auf Paul's Auseinandersetzungen hinzuzufügen, sagte er: Und Sie sind auch verheirathet? Sie haben Kinder?

Ja, ich habe einen Knaben und Aussicht auf ein zweites Kind. Dazu genieße ich das Glück, Fräulein Flies, die mir und meiner Frau eine Mutter gewesen, und die ja leider unvermählt geblieben ist, in meinem Hause eine Heimath bieten zu könne; und wir befinden uns in einer Lage, in welcher wir uns in vollster Freiheit nach eigenem Bedürfen regen und bewegen können. – Er hielt abermals inne und sagte danach: Das ist freilich nichts Besonderes, das haben hundert Andere auch, das ist viel und wenig, wie man es betrachtet. Mir genügt es! Ich könnte also Ihre erste Frage wohl mit dem schlichten Worte beantworten: es geht uns Allen in jedem Sinne wohl!

Nicht so, Seba? fragte er, sich mit seinem hellen Blicke und seiner volltönenden, männlichen Stimme, deren bloßer Klang erfrischend wirkte, an die Freundin wendend, welche, für die Ausfahrt angekleidet, eben in das Zimmer trat.

Gewiß! entgegnete sie; aber weßhalb soll ich das besonders erst versichern?

O, rief Renatus, und eine weiche, schmerzliche Empfindung, wie er sie diesen Menschen gegenüber, wie er sie in solcher Weise überhaupt noch nie gefühlt hatte, bewegte ihn und drohte, ihn zu überwältigen, o, bereuen Sie diese Versicherung nicht! Es ist ein Segen und es ist sehr selten, Glückliche zu sehen!

Seine Erschütterung überraschte die beiden Anderen, und ein Blick des Einverständnisses zwischen ihnen bezeugte, was sie dachten. Indeß die Meldung des Dieners, daß der Wagen vorgefahren sei, trat eben jetzt dazwischen.

Renatus, sich schnell ermannend, bot Seba seinen Arm;[212] Paul begleitete sie. Als sie eingestiegen war, wendete Renatus sich zu Jenem und sagte, indem er, was er sonst nie gethan hatte, ihm die Hand reichte und schüttelte: Leben Sie wohl, und erhalte der Himmel Ihnen Ihr Glück und Ihre Zufriedenheit! Leben Sie wohl!

Auf Wiedersehen! entgegnete Paul, ihm den Händedruck vergeltend. Und in das Haus zurückkehrend, dachte er: Wenn er ein Einsehen hätte – wie gern wollte man ihm helfen![213]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 7, Berlin 1871, S. 197-214.
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