Zehntes Capitel

[139] Und sie war gefallen, diese Entscheidung: so erhaben und so glorreich für das deutsche Vaterland, als die kühnste Einbildungskraft es nur hatte erhoffen können.

Das Dorf, durch welches Renatus an dem Vorabende der Schlacht gegangen war, lag in rauchenden Trümmern. Es war der Schauplatz eines mörderischen Kampfes gewesen. Von den Offizieren, die in jenem Bauernhause bei einander gesessen hatten, waren nach den drei großen Tagen nur noch Renatus und ein noch jüngerer Edelmann am Leben. Es waren Wunder der Tapferkeit gethan worden.

Im Verein mit den Ostpreußen hatte das Regiment, in dem Renatus diente, Gehöft um Gehöft, nachdem der Feind Herr des Ortes geworden war, wie eben so viele Festungen, wiedererobern müssen, und, seiner Compagnie voranstürmend, war der Hauptmann an Renatus' Seite von einer Kartätschenkugel niedergeschmettert worden. Lautlos war er zusammengesunken, und trotz des Kampfes wilder Hast sich zu ihm niederbeugend, um sein Wort zu lösen, hatte der junge Freiherr die Papiere und das Schreiben seines Hauptmanns an sich genommen; aber diese Pflichterfüllung hatte ihm selber fast den Tod gebracht; denn wie Renatus sich emporrichten wollte, stolperte sein Fuß über die Leiche eines eben erstochenen Soldaten. Ein Kolbenschlag, dem der wankende Renatus nicht widerstehen konnte, verwundete ihn und warf ihn nieder; auch über seiner[139] Brust blitzten schon die Bayonnette der Franzosen, die sich aus einem der in Brand gerathenen Gehöfte in wildem Durcheinander den Stürmenden entgegenstürzten.

Da warf sich plötzlich eine hohe, kräftige Mannesgestalt, an der Spitze einiger ihr folgenden Landwehrmänner, mit raschem Entschlusse den Andringenden in den Weg.

Auf, auf, Herr von Arten! rief er, während er die Feinde, welche den Hingesunkenen bedrohten, mit ungewöhnlicher Kraft und höchster eigener Gefahr so lange aufzuhalten wußte, bis Renatus wieder Meister über sich geworden war und Zeit gefunden hatte, sich zu erheben, um sich in dem grausen Handgemenge, das wie die stürzenden Wellen des Meeres auf und nieder wogte, selber wieder zu behaupten.

Es waren nur flüchtige Secunden gewesen, die sein Erretter neben ihm verweilte. Auf! auf Herr von Arten! hatte er noch einmal gerufen, dann hatte die nächste Kampfeswelle sie weit von einander fortgerissen, und doch hatte Renatus ihn erkannt, doch war selbst in jener verhängnißvollen Minute das wundersam unheimliche Gefühl durch sein Inneres gezogen, das er stets empfunden hatte, so oft er in dieses Mannes Nähe gekommen war, so oft er seiner nur gedachte.

Durch seine Verwundung für die nächsten Tage dienstunfähig gemacht, in Folge der über seine Kräfte gehenden Anstrengungen erschöpft, lag Renatus neben andern Kranken und Verwundeten, leise fiebernd, in einem der Zimmer des Bürgerhospitals. Sein Gehirn war frei, nur bisweilen trübten sich seine Vorstellungen, und er wußte dann nicht zu unterscheiden, was wirklich geschehen war und was er in dem Halbschlafe des Fiebers träumend durchgemacht hatte. Ein paar Mal fuhr er in die Höhe. Er meinte dann, sich wieder im Kampfesgewühle zu befinden, er sah die Bayonnette wieder auf seine Brust gezückt, er hörte wieder das kräftig drängende: »Auf, auf, Herr[140] von Arten!« und wie in jenem Augenblicke ertönte es ihm als ein Mahnwort von seines Vaters Munde, der ihn zur Selbsterhaltung um des Hauses willen aufrief.

Wenn er dann aber in seinen Träumen in die Höhe schaute, um in seines Vaters Schatten seinen Schutzgeist zu erblicken, stand Paul Tremann wieder vor ihm, jede Sehne der prachtvollen Gestalt gespannt, das schöne Antlitz voll kaltblütiger Entschlossenheit – und ein eisiger Frostschauer beschlich des Kranken Herz. Er wachte unzufrieden und erschreckend auf. Er konnte seines Lebensretters nicht mit Liebe, nicht mit Freuden denken. Er glaubte sich sagen zu dürfen, daß er Paul den gleichen Dienst geleistet haben würde. Es war nur Menschenpflicht, einander im Kampfe beizustehen, und doch drückte, doch widerstrebte es ihm, daß Paul ihm mit eigener Gefahr zu Hülfe gekommen war, daß er eben ihm, eben diesem Manne sein Leben zu verdanken haben sollte.

Indeß Renatus hatte von seinem Vater mit dem fatalistischen Aberglauben desselben auch die Fähigkeit geerbt, sich die Dinge nach seinem inneren Bedürfen zurecht zu legen und zu deuten, und wie seine Kräfte ihm allmählich wiederkehrten, begann er das ihm beunruhigende und peinigende Erscheinen und Dazwischentreten seines Bastardbruders für jenes Zeichen anzusehen, das er in seiner Entmuthigung am Vorabende vor der Schlacht von dem Geschicke gefordert hatte.

Er zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß seinem Hause ein Fortbestehen sicher sei, und der schöne Erfolg, den er persönlich errungen hatte, als er noch am letzten Tage der Schlacht zum Stellvertreter und Nachfolger seines gefallenen Hauptmanns ernannt worden war, hatte sein Selbstvertrauen und die Zuversicht auf seinen eigenen Stern in ihm belebt und gehoben.

Ohne eigentliche kriegerische Neigung war er in das Heer getreten und widerstrebend in den russischen Krieg gezogen.[141] Aber wie wenig er der französischen Sache auch geneigt gewesen war, so hatte er doch die begeisterte Vaterlandsliebe nicht gehegt, die er bei dem Beginne der Freiheitskriege in sich hatte erwachen fühlen und die zu einer heiligen Flamme in ihm geworden war, seit er in ihrem Dienste Blut und Leben eingesetzt. Jetzt war mit seinem Erfolge auch sein Ehrgeiz angefacht, und wie sein Blick sich vorwärts auf neue Siege, neue Ehren, auf eine große militärische Laufbahn richtete, minderten sich die Sorgen, mit denen er nach der letzten Kunde von den Seinigen an die Heimath zurückgedacht hatte.

Er konnte, wie er sich richtig sagte, bei seiner bisherigen Unkenntniß von allem, was die Guts- und Vermögens-Verwaltung anbetraf, aus der Ferne keine großen, umgestaltenden Maßregeln treffen. Es war das Gerathenste, bis zur Beendigung des Krieges die Dinge gehen zu lassen, wie sie einmal eingeleitet waren. Er wies also, als er endlich wieder im Stande war, seine Angelegenheiten vorzunehmen, den Justitiarius an, den Contract mit dem Amtmanne zu erneuern, die Wirthschaft desselben, so weit es möglich sei, zu überwachen, die Inventarien, so gut es thunlich, allmählich herzustellen, die Ausgaben auf jede Weise einzuschränken und im Uebrigen wie bisher mit gewissenhafter Treue für ihn und seinen Besitz Sorge zu tragen.

Als er diesen Brief mit Selbstzufriedenheit durchlas, kam ihm, nach dem eben erst Erlebten, der Gedanke an die Möglichkeit seines eigenen Todes doch wieder mit verstärkter Macht, und er sagte sich, daß er nothwendig für diesen Fall, da sein Vater es nicht gethan hatte, in Bezug auf Vittoria und vor allen Dingen in Bezug auf Valerio seine Maßnahmen zu treffen habe. Es war nothwendig, einen Vormund für Valerio, einen männlichen Beistand für die Baronin, einen Curator für die ganze Vermögens- und Besitz-Verwaltung zu ernennen, und Renatus wußte lange keine ihn befriedigende Wahl zu treffen.[142]

Er kannte die Verwandten seiner Mutter wenig, aber er würde dem Majoratsherrn Grafen Berka mit vollem Vertrauen seine ganzen Angelegenheiten übergeben haben, denn die Ehrenhaftigkeit und Tüchtigkeit desselben war über jeden Zweifel erhaben; indeß Graf Felix stand, wie Renatus selbst, im Felde, und den Grafen Gerhard mit diesen Ehrenämtern zu betrauen, daran wagte Renatus nicht zu denken. Allerdings beurtheilte er, weil er überhaupt zu dauernder Strenge und Entschiedenheit im Urtheile seiner ganzen Natur nach nicht geneigt war, den Grafen jetzt in manchem Betrachte milder, als an dem Tage, da er den letzten Brief über ihn von Hildegard erhalten hatte. Er war sich während seines kurzen Krankenlagers der verhältnißmäßigen Wandlungen bewußt geworden, welche er selber in den letzten beiden Jahren in sich erfahren hatte, und es gab für ihn manche Stunden, in denen er es zu entschuldigen fand, daß Graf Gerhard sich früher der französischen Sache und der kaiserlichen Fahne angeschlossen hatte. Waren doch auch in seinem eigenen Vaterhause französische Sitte und Sprache lange genug alleinherrschend gewesen, und seiner großen Bewunderung für den Kaiser hatte sein Vater, der verstorbene Freiherr, selber niemals Hehl gehabt. Es war also denkbar, es war möglich, man konnte es vielleicht entschuldigen, wie Graf Gerhard es jetzt selber that, daß dieser sich als ein junger, lebhafter und dabei nicht eben reicher Mann einst für seine Thätigkeit in französischen Diensten ein Feld eröffnet hatte. Es war auch nicht unglaublich, daß die wachsende Tyrannei, die nicht endende Kriegslust des Kaisers dem deutschen Edelmanne endlich die Augen über seinen Irrthum geöffnet hatten, und daß er, in der Reue über seine Verblendung, sich mit doppeltem Eifer und doppelter Begeisterung an die Sache seines Vaterlandes hingegeben hatte. Aber wenn das, wie Graf Gerhard es von sich behauptete, der Fall war, weßhalb focht er jetzt nicht in den Reihen[143] seines Volkes, seiner Standesgenossen, seiner Brüder? – Weßhalb setzt er nicht, wie wir alle, sein Leben für die Sache des Vaterlandes ein? fragte sich Renatus mit richtiger Selbstschätzung, und sein persönliches Mißtrauen gegen seinen Oheim wurde dadurch immer wieder auf's Neue erweckt und verstärkt.

Indeß eine Wahl mußte er treffen, und wie er die Reihe der Edelleute durchdachte, die seinem Vater und seinem Hause verbunden gewesen waren, stieß er auf eine Schwierigkeit, die er bis dahin nicht in das Auge gefaßt hatte. Ein jeder Bevollmächtigte mußte, wenn er das Testament des Freiherrn sah, in welchem Valerio immer und ausdrücklich nur als der Sohn Vittoria's, nie als des Freiherrn Sohn bezeichnet war, die Verhältnisse des Hauses in einer Weise erkennen lernen, wie sie Andern, Fremden, bekannt werden zu lassen der verstorbene Freiherr eben zu vermeiden gewünscht hatte; und hin und her erwägend, wie es vielleicht auch nicht einmal rathsam sei, einem befreundeten Standesgenossen die volle Einsicht in seine verwickelte und schwierige Lage zu vergönnen, bedauerte Renatus es in tiefster Seele, daß es nicht mehr Adam Steinert sei, der an der Spitze der freiherrlichen Güter stehe.

Er hatte Adam wenig gekannt, aber alles, was er jemals von dem verstorbenen Caplan und andern Personen über ihn vernommen, hatte entschieden zu des Mannes Gunsten gelautet. Wäre Adam noch als oberster Verwalter auf den Gütern und im Dienste des freiherrlichen Hauses, oder wäre er nur auf Marienfelde und nicht im Heere gewesen, so würde Renatus, allem Familien-Herkommen entgegen, ihn zu dem Vormunde von Valerio und überhaupt zu seinem Vertrauensmanne ausersehen haben; und daß Adam sich trotz alles Vorgefallenen hätte geehrt fühlen müssen, von einem Freiherrn von Arten ein solches Amt zu übernehmen, daran zu zweifeln fiel dem jungen, in standesmäßigem Hochmuthe auferzogenen Manne gar nicht[144] ein. Er erinnerte sich, daß selbst der alte Flies, der mit seinem Lobe zu kargen gewohnt war, den Adam Steinert als einen der ausgezeichnetsten Landwirthe und als einen höchst umsichtigen Geschäftsmann bezeichnet hatte, und während Renatus diesen Ausspruch noch in sich erwog, fiel es ihm ein, wie der alte Flies seit länger als einem Menschenalter mit allen Unternehmungen und auch mit den wachsenden Verlegenheiten des verstorbenen Freiherrn wohl bekannt gewesen sei und wie es also vielleicht das Gerathenste sein dürfte, ihn, auf dessen Verschwiegenheit der Freiherr Franz sich von jeher fest verlassen hatte und an dessen Meinung dem jungen Edelmanne im Grunde nicht viel gelegen war, dem Justitiarius beizugesellen und ihnen gemeinsam die Vorsorge für die väterliche Verlassenschaft wie für die in Richten Hinterbliebenen zu überantworten.

Eine abschlägige Antwort fürchtete Renatus von Herrn Flies noch weniger, als er sie von Steinert er wartet haben würde; denn einerseits hatte der Banquier bedeutende Hypotheken auf Neudorf und auf Rothenfelde, anderseits hatte er aber auch Wechsel von dem verstorbenen Freiherrn in Händen, die für dessen Erben in jedem Augenblicke unbequem und gefährlich werden konnten, wenn Herr Flies sich einmal versucht fühlen sollte, sie nicht mehr zu verlängern. Es lag also in dem beiderseitigen Vortheile, in gutem Einvernehmen zu verbleiben. Dem Herrn Flies mußte es nothwendig gerade darum zu thun sein, die Sachverhältnisse genau zu kennen, und – Renatus schämte sich halbwegs vor sich selber, als er sich dieses Bestimmungsgrundes bediente – wenn Herr Flies auf solche Weise auch tiefer, als Jener es begehrte, in das von Arten'sche Familienleben hineinsah, nun, so konnte man sich immer noch auf Seba's Freundschaft für die verstorbene Baronin Angelika verlassen, und schlimmsten Falles, nach den vertraulichen Mittheilungen[145] des Grafen Gerhard, von Herrn Flies um Seba's willen Verschwiegenheit gegen Verschwiegenheit beanspruchen.

Es war dem jungen Freiherrn nicht ganz wohl bei diesen letzten Erwägungen und Betrachtungen zu Muthe. Er würde nie darauf gekommen sein, sie gegenüber einer adeligen Familie anzustellen; aber mit einer bürgerlichen und vollends mit einer Juden-Familie war das etwas ganz Verschiedenes. Er stand mit ihnen, welche Rechte die neuere Zeit und die neue Gesetzgebung ihnen auch einräumten, durchaus nicht auf demselben Boden; sie waren in keinem Betrachte seines Gleichen. Ihre und seine Ehrbegriffe konnten gar nicht dieselben sein, ihre Welt war nicht die seine, und es blieb ja immer seinem Ermessen überlassen, sobald die Zeitverhältnisse es ihm gestatteten, eine Verbindung zu lösen, einen Zusammenhang aufzugeben, die eben nur durch die zwingende Gewalt der Umstände für ihn zu einer augenblicklichen Nothwendigkeit geworden waren.

Dazu drängten ihn seine Marschordre wie sein eigenes Verlangen, so bald als möglich seinem Regimente zu folgen, dem Befehl über die Compagnie, den er in den beiden letzten Tagen der Schlacht aus eigner Machtvollkommenheit geführt hatte, nun als ihr ernannter Hauptmann in aller Form zu übernehmen, und selbst die Rücksicht, daß Paul ein Theilnehmer des Flies'schen Handlungshauses sei, änderte schließlich in des jungen Freiherrn Vorhaben nichts, sie bestärkte ihn nur noch in demselben. Eine persönliche Berührung mit jenem wurde für Renatus vorläufig dadurch keineswegs nothwendig. Bei Geschäften, wie das Haus Flies sie seit langen Jahren mit seiner Familie gemacht hatte, fielen aber dem Kaufmanne immer wesentliche Vortheile zu, und, sagte Renatus sich mit selbstgefälliger Herablassung, Paul war doch einmal seines Vaters Sohn. Es stand also, wie der junge Freiherr meinte, den Erben seines Vaters gar wohl an, dem nicht rechtmäßigen Sohne desselben, wenn es[146] sich so fügte, einen Vortheil zuzuwenden und ihn verdienen zu lassen, was sonst einem Fremden zufiel. Er war mit dieser Schlußfolgerung, von großer Niedergeschlagenheit ausgehend, doch schnell wieder dahin gelangt, sich und seine Verhältnisse zu überschätzen, weil es ihm zu quälend war, sie lange in ihrem richtigen Lichte zu betrachten, und wie er sich nun auf's Neue nach seinem selbstgeschaffenen Maßstabe auferbaut hatte, legte er denselben auch an die Andern an, so daß er sich bald in gutem Glauben zu der Ausführung seiner Absichten entschloß.

Er schrieb dem Justitiarius also, wie er es gehalten haben wolle, er schrieb auch an Herrn Flies, wie jenes Vertrauen, welches die Freiherren von Arten, sein Großvater wie der verstorbene Freiherr Franz, zu Herrn Flies und zu dessen Einsicht und Rechtschaffenheit stets gehegt hätten, es ihm sehr wünschenswerth machten, wenn Herr Flies sich der einstweiligen Vormundschaft über den jungen Freiherrn Valerio unterziehe, wenn er der verwittweten Freifrau von Arten wie dem Justitiarius zur Seite stehe, und Renatus berief sich dabei ausdrücklich auf die früheren persönlichen Beziehungen, welche zwischen ihm selbst und dem Flies'schen Hause obgewaltet hätten. Er meldete es, daß er Hauptmann geworden sei, erwähnte, daß er in der Schlacht von Möckern in Todesgefahr geschwebt habe; aber er unterließ es, hinzuzufügen, wem er seine Rettung zu verdanken habe. Daß er vor seinem Ausmarsche von Berlin die Gräfin Rhoden aufgefordert, jeden Umgang mit Seba abzubrechen, daß das bloße Wort des Grafen Gerhard, dem er in seinen persönlichen Beziehungen ganz und gar mißtraute, hingereicht hatte, ihn den Stab über Seba, über die Freundin seiner Mutter, brechen zu lassen, das alles erwähnte er freilich nicht. Er hegte die feste Ansicht, daß es einem Manne wie ihm anstehe und erlaubt sei, sich der ihm nicht ebenbürtigen Menschen wie der Werkzeuge zu bedienen, die man aufnehme und liegen lasse, je[147] nachdem man sich ihrer benöthigt finde. Es war das keine Sache der Ueberlegung bei ihm, es lag ihm im Blute, war ihm ein angezeugter, angeerbter Glaube, und er hatte über dasjenige, was ihn nicht selbst betraf, niemals ernsthaft nachgedacht, obschon es ihm, wo er ihn anzuwenden für gut befand, an Scharfsinn nicht gebrach.

Der verstorbene Freiherr hatte sich, wie Renatus wußte, des Herrn Flies bedient, als es sich um die Unterbringung und Erziehung Paul's gehandelt, man hatte die Baronin im Flies'schen Hause ihr Krankenlager halten lassen, ohne dadurch sich irgendwie zu besonderem Zusammenhange mit der Familie verpflichtet zu glauben, und Renatus war überzeugt, daß auch für ihn angemessen und auch jetzt noch möglich sei, was seine Eltern einst für sich angemessen und möglich gefunden hatten. Er haftete überhaupt, und wie sollte und konnte es anders sein, mit seinem ganzen Sinne auf dem Boden der Ueberlieferungen. Die Ehre, wie er sie verstand, erschien ihm immer noch als ein Vorrecht, als ein ganz ausschließlicher Besitz des Adels. Nur der Rückblick auf eine Ahnenreihe konnte den Begriff der wahren Ehre, wie er meinte, in dem Menschen entwickeln. Nur wer sein Thun und Handeln in jedem Augenblicke der Würde aller derjenigen anzupassen hatte, die vor ihm den Familienschatz der Familienehre angesammelt hatten, konnte die verantwortlich machende Selbstachtung besitzen, ohne welche die wahre Ehre nicht bestehen kann: jene Ehre und jene Ehren, die den mittellosesten und geistig geringsten Edelmann, als Mitglied einer besonderen Kaste und einer besonderen Race, über alle Nichtadeligen erheben, welcher geistigen oder äußerlichen Mittel und Vorzüge diese sich auch zu rühmen haben mögen.

Es war nicht allein der Tod seines Vaters, es war mehr noch das Bewußtsein der eigenen im Felde bewiesenen Tapferkeit, welche in Renatus den alten Adelsstolz seines Hauses jetzt auf's[148] Neue und stärker als je zuvor belebte. Daß um ihn her Tausende und aber Tausende von Nichtadeligen das Gleiche wie er gethan hatten und thaten, das verminderte seine Selbstzufriedenheit nicht im geringsten. Wie es Sitte unter denen von Arten war, den Familienschmuck der Frauen bei der Verheirathung des Stammhauptes zu vergrößern, so gehörte es sich, daß jeder Herr von Arten den Stammesschatz der Familienehren zu erhöhen suchte. Der Freiherr Franz hatte in Friedensjahren die Kirche in Richten gebaut; Renatus dachte dem Hause in seinem Namen neue Ehren, kriegerische Ehren zuzuführen, da die Bahn des Krieges vor ihm ausgebreitet lag; und nun er sich durch seine neuliche Erhaltung des Fortbestehens seines Hauses überhaupt versichert glaubte, waren eine Heiterkeit und eine Zuversicht über ihn gekommen, die ihm sonst nicht eigen gewesen waren.

Nur an Hildegard konnte er nicht mit freiem Herzen denken, und es kam ihm schwer an, ihr zu schreiben. Als er sich aber dazu erst überwunden hatte, beschloß er, es mit aller der Wahrhaftigkeit zu thun, die einem Edelmanne seiner künftigen Gattin gegenüber zieme.

Er sagte ihr, daß er sich mit ihrer Gefühlsweise oftmals gar nicht in Uebereinstimmung finde, daß er sich jetzt, wo er dem Tode nur mit genauer Noth, nur wie durch ein Wunder entgangen sei, in seinem Innern reiflich geprüft, und es erkannt habe, wie seinem Verlöbniß mit ihr nicht jene Alles umfassende Liebe zum Grunde gelegen habe, welche die Verbindung zwischen Mann und Weib zu einer Naturnothwendigkeit mache; aber daß er sie werth halte, daß er entschlossen sei, sein Wort, wie es einem Edelmanne gebühre, einzulösen, ja, wie er sich überzeugt fühle, daß Hildegard ihn beglücken, daß er sie auf das wärmste lieben werde, wenn sie aus dem Bereiche der Schwärmerei in die Wirklichkeit hinabsteigen und die fröhliche Zuversicht zum Leben fassen wolle, die ihm gerade mitten in Todesnoth[149] und Gefahren gekommen sei. Er rieth ihr dann, gegen den Grafen Gerhard trotz seiner endlichen Bekehrung auf ihrer Hut zu sein, theilte ihr mit, daß er Herrn Flies und nicht seinem Oheim die Familien-Angelegenheiten übergeben habe, und bat Hildegard danach, sich es mit den Ihrigen in seinem Schlosse gefallen zu lassen und sich von jetzt ab als die Herrin desselben betrachten zu wollen, an deren Seite er in nicht zu ferner Zeit von seinem Kriegerleben auszuruhen hoffe. Um sich aber ihren Anschauungen und Empfindungen doch auch wieder gefällig anzupassen, kam er dann noch einmal auf die Schlacht zurück, deren Begebnisse er ihr ausführlich schilderte; und seine späteren Träume mit den Erlebnissen und Eindrücken der Wirklichkeit willkürlich und ganz bewußt vermischend, stellte er es ihr mit allem poetischen Schwunge, über den er verfügte, ausführlich dar, wie er seines Vaters Stimme plötzlich mitten im Gewühle des Kampfes zu vernehmen geglaubt habe, wie er, die Augen emporhebend, die Augen seines Vaters über sich leuchten gesehen, und wie er sich überzeugt halte, daß Gott selbst ihm diesen Beistand, diesen Schutzgeist in Gestalt seines Vaters zugesendet habe, um ihm damit Muth und Hoffnung in seiner Trauer um den Vater und ein Zeichen für das lange, dauernde Fortbestehen des Hauses derer von Arten zu gewähren.

»Zünde die geweihten Kerzen zum Danke in unserer Kirche an und denke meiner, so oft Du Dich in unserem Gotteshause betend niederwirfst!« so schloß er. – Wer aber der Muthige gewesen war, der ihn gerettet hatte, das schrieb er auch Hildegarden nicht.

Er besorgte, für ihr Herz das ganze Ereigniß seines geweihten Eindrucks und seines dichterischen Zaubers zu entkleiden, wenn er ihr sagte, daß es ein gewöhnlicher Sterblicher, daß es Paul Tremann sei, dem er sein Leben zu verdanken habe.[150]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 6, Berlin 1871, S. 139-151.
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