Sechstes Capitel

[86] In heftiger Erregung kehrte der Freiherr in das Schloß zurück, und kaum in seinem Zimmer angelangt, sank er in völliger Erschöpfung auf sein Lager nieder. Der Kammerdiener, den des Herrn kurzer Athem und sein starrer Blick erschreckten, wollte ihm Hülfe leisten, die Baronin rufen, den Caplan herbeiholen lassen, aber der Freiherr verwehrte es ihm.

Er blieb auch nur kurze Zeit auf seinem Bette liegen, dann erhob er sich, und ging, wie er es in heftigen Gemüthsbewegungen stets zu thun pflegte, in seinen Zimmern auf und nieder. Er wies jede Erfrischung, die sein Diener ihm aufzunöthigen versuchte, schweigend von sich, und es war bereits über Mitternacht hinaus, als er sich plötzlich an seinen Schreibtisch niedersetzte und dem Diener befahl, neue Kerzen hinzustellen und sich dann zur Ruhe zu begeben.

Am Morgen fand der Diener die Kerzen tief herabgebrannt und den Freiherrn in seinen Kleidern auf dem Ruhebette in seinem Arbeitszimmer eingeschlafen. Das war, so lange der Diener ihn kannte, nie geschehen, und er hatte doch schon vor der ersten Verheirathung des Freiherrn seine Stelle angetreten und viel mit seinem Herrn durchgelebt. Was konnte vorgegangen sein, das den Herrn bewogen hatte, von sei nen strengen, regelmäßigen Gewohnheiten abzuweichen?

Es war kein Fremder im Schlosse gewesen, kein Brief angekommen, der Freiherr hatte auch die Baronin nicht gesprochen.[86] Der Diener ging in den Zimmern des Freiherrn suchend umher, es war nichts aufzufinden, was ihn auf irgend eine Spur hinweisen konnte; nur im Kamine lagen die noch unzerstäubten Ueberbleibsel verbrannter Papiere auf den erloschenen Kohlen. Da der Diener sich niederbückte, sie aufzunehmen, zerfielen sie in Asche.

Als der Freiherr erwachte, ließ er sich ankleiden und sein Frühstück bringen; aber obschon es ein heller, schöner Tag war, ging er nicht aus. Stunden lang stand er am Fenster und sah in den Park hinunter; dann wieder saß er schreibend an seinem Arbeitstische, und ein paar Mal bemerkte der Diener, daß er das Geschriebene zerriß und die Stücke wieder in das Feuer warf. Bisweilen nahm er ein Buch zur Hand, aber er legte es stets nach wenigen Augenblicken wieder von sich. Er konnte seine Gedanken nicht von sich selber, nicht von der Erinnerung an Paul abziehen. Er konnte sich der Vorstellung nicht entschlagen, daß Paul dazu ausersehen sei, als ein Rächer seiner Mutter, auch für ihn, wie einst für die Baronin Angelika, der Todesbote zu sein, und die Schwermuth, welche ihn nach dem Selbstmorde seiner Geliebten befallen hatte, ward jetzt in verstärktem Grade abermals über ihn Meister. Er meinte ihn immer noch vor sich zu sehen, den Doppelgänger, der ihm sein eigenes und doch so gewandeltes Bild vor Augen gestellt hatte, und weit davon entfernt, sich zu dem ihm so ähnlichen Sohne hingezogen zu fühlen, hegte er einen bittern Groll, ja, einen hassenden Widerwillen gegen ihn. Er konnte es nicht verschmerzen, daß er nicht mehr die männliche Schönheit und die Jugend besaß, deren jener sich erfreute, er meinte seines sinkenden Lebens, seiner geschwundenen Kraft sich erst jetzt bewußt zu werden, da sein Sohn ihm vorgehalten hatte, was er einst gewesen war. Und in den bitteren Schmerz um seine eigene Vergänglichkeit mischte sich die düstere Sorge um das Fortbestehen seines Hauses, dem er Pauline hingeopfert hatte. Das Geschlecht derer von Arten-Richten[87] stand, wenn er einst starb, und sein Tod war ihm, wie er sich überzeugt hielt, nahe, nur noch auf zwei Augen, nur noch auf Renatus, über dessen Leben jetzt in jeder Stunde die Todeswürfel fallen konnten.

Es war ein furchtbarer Kampf, den der Greis in diesen Tagen in sich durchzuringen hatte, denn er vermochte nicht darüber mit sich einig zu werden, ob er verpflichtet sei, dem Fortbestehen seines Geschlechtes Alles, selbst seine beleidigte Ehre und sein empörtes Gefühl zum Opfer zu bringen, oder ob er, sich selber genugthuend, die Aufrechterhaltung seines Namens dem Zufalle überlassen dürfe.

Er hatte Stunden, in denen er Vittoria und Valerio von sich stoßen, Renatus Alles enthüllen, ihn zurückberufen und ihn schnell zu einer Ehe überreden wollte, um sich durch ihn eine Nachkommenschaft zu sichern; andere Stunden, in welchen der Gedanke, Paul anzuerkennen, falls Renatus in dem Kriege umkommen oder ohne Kinder sterben sollte, ihm nahe trat; aber wenn er eine dieser Absichten zu Papier gebracht hatte, flößte das Niedergeschriebene ihm beim Durchlesen ein Erschrecken ein, und weder zu dem einen noch zu dem andern Schritte vermochte sein Stolz sich zu entschließen.

Er konnte sich nicht überwinden, durch die Verstoßung Vittoria's und durch die gerichtliche und damit öffentliche Verläugnung ihres Sohnes, der Welt das Eingeständniß des Irrthums zu machen, den er begangen, als er im letzten Mannesalter das junge Mädchen zu seiner Gattin erwählt hatte; und eben so wenig konnte sein Adelsstolz sich an die Vorstellung gewöhnen, daß Paul, der Sohn einer Hörigen, einst dazu berufen sein solle, den Namen derer von Arten fortzupflanzen, daß das Blut einer Magd, wie theuer sie dem Freiherrn auch gewesen war, in den Adern eines Mannes mit dem Namen derer von Arten fließen könne, die auf die Reinheit ihres Geschlechtes[88] und auf die Bedeutung aller ihrer geschlossenen Verbindungen von jeher den höchsten Werth gelegt hatten. Paul's Anerkennung einzuleiten, so lange Renatus noch am Leben war, daran dachte der Freiherr natürlich nicht, aber wer konnte es ihm zusichern, daß er selbst noch leben und im Stande sein würde, Verfügungen zu treffen, wenn in den nächsten Monaten einmal die Nachricht von Renatus' Tode nach Richten anlangte? Und wie war es in diesem letzteren Falle zu verhindern, daß das von Arten'sche Erbe an Valerio, an den Sohn der Ehebrecherin fiel? Wie war es zu machen, daß sein Blut, sein Name nicht untergingen? – Tage und Tage verstrichen, und seine Qualen minderten sich nicht.

Rastlos wie ein irrer Geist wandelte der Freiherr in seinen Gemächern umher; angstvoll den Ereignissen des Krieges folgend, immer bange vor der Möglichkeit, den Tod seines Sohnes und Erben zu erfahren, und doch ohne die eigentliche Vaterliebe für diesen Sohn, auf dessen Erhaltung seine theuersten Hoffnungen gerichtet waren, und ohne alle freudige Theilnahme an den beginnenden Erfolgen und Siegen des Volkes, in dessen Mitte und für dessen Befreiung die beiden Erben seines Blutes ihr Leben in die Schanze schlugen.

Mit jedem Fortschritte, den die Waffen der Verbündeten erfochten, mit der aufjauchzenden Freude des Landes und des Volkes über die ersten Siege derselben wuchs die innere Vereinsamung des Greises. Er hatte nichts gemein mit den Gefühlen der Verbrüderung und der Erkenntniß der menschlichen Gleichheit, welche die Zeit der Noth in dem Volke begründet und die Gemeinsamkeit des Kampfes und der Gefahr in den Herzen der Edelsten wenigstens für diesen Augenblick festgestellt hatten. Er gehörte nicht zu denen, welche die Neuerungen gut hießen, die der König und seine Regierung vor dem Ausbruche des Krieges unternommen hatten und deren Ausdehnung und[89] Entwicklung verheißen worden und nach erfolgtem Siege erwartet wurden. Wie auch die Würfel des Krieges fallen mochten, er sah kein Heil in der Zukunft, und doch hing er am Leben, doch wollte er mit seinem Willen bestimmend in die Zukunft hinüberreichen.

Es war schon im Beginne des Sommers und die Spuren des furchtbaren französischen Rückzuges aus Rußland fingen in den preußischen Ostprovinzen sich zu vermindern an, als man in Rothenfeld endlich daran denken konnte, die Kirche, welche durch viele Monate zum Hospitale gedient hatte, zu reinigen und dem Gottesdienste wiederzugeben. Aber als die letzten Kranken sie verlassen hatten, wurde man erst recht gewahr, wie schwer sie gelitten hatte und daß man einer für die gegenwärtigen Verhältnisse nicht unbedeutenden Summe bedürfen würde, sie nur einigermaßen herzustellen. Es konnte nicht die Rede davon sein, die Silbergeräthschaften zu erneuern, welche von den ersten durchziehenden Franzosen mitgenommen worden waren, oder den schönen Beichtstuhl und die kunstreich geschnitzte Kanzel herstellen zu lassen, welche die durchmarschirenden Hessen zerschlagen und zur Feuerung benutzt hatten. Nur die Tünchung der Wände, nur die Ausbesserung des Fußbodens wünschte der Caplan, denn es hatten, als die Armee nach Rußland gegangen war, durch viele Tage die Pferde in dem Gotteshaufe gestanden, so daß der Boden zerstampft und überall, wo man die Krippen angebracht hatte, die Löcher von den eingeschlagenen Eisen in den Wänden und an den Pfeilern sichtbar waren.

Der Caplan war lange nicht im Schlosse gewesen, aber es war ihm nicht verborgen geblieben, was dort geschehen. Die Bekenntnisse Vittoria's hatten ihm Alles enthüllt. Er hatte vergebens danach gestrebt, den Freiherrn persönlich zu sprechen, um ihm die Hülfe zu leisten, welche ihm bieten zu können er sich fähig glaubte. Der Freiherr hatte seine Besorgniß vor der[90] Uebertragung des Lazarethfiebers zum Vorwande benutzt, den Besuch des Caplans abzulehnen, und als dieser es bei Anlaß der Kirchen-Reparatur unternommen, sich dem alten Lebensgenossen schriftlich zu nähern, um ihm, der sich sonst gern mündlich und brieflich mitzutheilen und auszusprechen geliebt hatte, eine Befreiung auf solchem Wege darzubieten, hatte derselbe sich nur an den geschäftlichen Theil des Briefes gehalten und die Fragen um sein Befinden und Ergehen völlig ohne Erwiederung gelassen.

In schwerer Bekümmerniß um den Freund und um das Schicksal des Geschlechtes, an das er sein eigenes Schicksal geknüpft hatte, verließ der Caplan an einem heißen Sommerabende sein Haus. Er wollte sich überzeugen, wie weit die Arbeiter an dem Tage in der Kirche mit ihrem Werke vorgeschritten wären. Die Sonne war schon im Sinken, der Himmel hing voll Wolken, und ihre Schwere erhöhte für die Phantasie den Druck, den die Schwüle der Luft auf alles, was lebte und athmete, ausübte. Kein Vogel sang, kein Grashalm und kein Blatt bewegten sich.

Langsamen Schrittes war er über den Kirchhof gegangen, hatte in der noch offenstehenden Kirche die Arbeiten in Augenschein genommen und trat eben wieder ins Freie hinaus, um nachzusehen, wie die weißen Rosenstöcke gediehen, die er nach Säuberung der Gruft aufs Neue mit eigenen Händen vor derselben angepflanzt hatte. Vorsorglich die Stämme untersuchend, nahm er von ihnen die Raupen und die Käfer ab, welche sich um die Stengel und zwischen den Blättern eingenistet hatten, und es war eine wehmüthige Freude, mit der er diese Rosen, die er aus Ablegern der hier zuerst gesetzten Stöcke in seinem Garten groß gezogen hatte, nun wieder vor der Grabstätte der ihm vorangegangenen geliebten Menschen Knospen tragen und erblühen sah.[91]

Das ewige Werden! sagte er zu sich selbst und bückte sich, um nachzufühlen, ob das Erdreich nicht zu trocken sei. Da er sich aufrichtete und sich umsah, ob er nicht Jemanden herbeiwinken könne, der ihm Wasser holen gehe, stand der Freiherr vor ihm. Der Caplan war auf das äußerste betroffen. Der Freiherr hatte von Jugend auf den Gedanken an den Tod gescheut, den Besuch der Kirchhöfe gemieden und seit der Beisetzung der Baronin Angelika die Familiengruft nie mehr besucht.

Sie hier, gnädiger Herr? rief er, und seine Freude, den alten Lebensgenossen wiederzusehen, war eben so lebhaft, als sein Erschrecken über den außerordentlichen Verfall, den er an seinem Freunde wahrnahm. Was führt Sie hieher, verehrter Freund? rief er noch einmal; und obenein in dieser heißen Schwüle, die Ihrem Befinden gewiß nicht heilsam ist?

Der Freiherr lächelte; aber es war nicht mehr der frühere gewinnende Ausdruck in diesem Lächeln. Seine Abspannung und seine Gebrochenheit sprachen aus jedem Zuge und aus jeder seiner Mienen.

Eben die heiße Schwüle, entgegnete der Freiherr, und eben mein Befinden, das viel zu wünschen übrig läßt. Ich schlafe schlecht, fühle mich niedergeschlagen, und das heutige Wetter lastet wie Blei auf mir. So wollte ich versuchen, mir mit einem weiteren Gange, als ich ihn in den letzten Monaten unternommen habe, über die Abspannung fortzuhelfen und mir Schlaf zu schaffen für die Nacht. Unterwegs kam mir der Gedanke, meine Schritte hieher zu lenken und Sie aufzusuchen. Wir haben uns lange nicht gesehen.

Sehr lange nicht, entgegnete der Geistliche, und seine Sorge um den Freiherrn wuchs, da er den gebrochenen Ton seiner Stimme vernahm.

Sie haben viel durchgemacht, viel durchgemacht! nahm der Freiherr wieder das Wort und hielt unentschlossen, ob er weiter[92] sprechen solle, inne, bis er mit einem Ausdrucke tiefer Schwermuth hinzufügte: Aber auch an mir, wenngleich ich Ihre Gefahren und Arbeiten nicht theilte, sind diese Zeiten nicht spurlos vorübergegangen. Er seufzte dabei und schritt, sich abwendend, dem Familienbegräbniß zu. Die Thüre der Gruft war geöffnet; als er hineingehen wollte, hielt der Caplan ihn davon zurück.

Es ist kalt in der Gruft, warnte er, Sie sind vom Gehen warm, und es ist alles in dem Gewölbe, wie es vorher gewesen ist.

Die Särge sind also wenigstens nicht angetastet worden? fragte der Freiherr.

Ganz und gar nicht; nur die Vorhalle war stark mitgenommen. Die Ruhe unserer Todten wurde nicht gestört.

Der Freiherr antwortete nicht. Der Gruft gegenüber lag ein starker, gefällter Baumstamm an der Erde, der hier auf dem Kirchhofe zu neuen Latten für die Umzäunung zerschnitten werden sollte. Auf diesen Baumstamm ließ der Freiherr sich nieder, und den Stock in seinen Händen, das Haupt auf die Hände gesenkt, blickte er lange schweigend nach der Gruft.

Niemand hatte es erlebt, daß er sich in solcher Weise auf offener Straße seinem Empfinden überließ, und vielerfahren, wie der Geistliche es war, konnte er sich doch des tiefsten Mitleidens mit dem Freiherrn nicht erwehren. Er trat an ihn heran und forderte ihn auf, sich zu erheben und den Schatten aufzusuchen, da die Wolken sich zertheilten und die sinkende Sonne ihre letzten Strahlen in voller Kraft über das Erdreich ausbreitete.

Aber der Freiherr verweigerte es. Lassen Sie mich hier verweilen, sagte er. Die Sonne ist mir erfreulich, und es thut mir wohl, zu denken, daß selbst solche Kriege, wie sie über uns hinweggegangen sind, die Ruhe der Todten nicht gestört haben. So weiß man doch, wo man Ruhe für sich zu erhoffen hat –[93] und es will mich oft bedünken, als würde ich sie bald hier suchen kommen. Denn wenn die Todtgeglaubten wiederkehren, müssen die Lebenden von dannen gehen, fügte er hinzu.

Sie haben Paul gesehen! rief der Caplan.

Der Freiherr neigte schweigend das Haupt. Was wissen Sie von ihm? fragte er darauf.

Der Caplan sagte, daß er durch Renatus die erste Kunde von dem so lange verschollen Gewesenen erhalten habe. Da Paul aber seinen Namen gewechselt und sich geflissentlich von dem freiherrlichen Hause fern gehalten habe, so habe auch er es für angemessen gehalten, des Wiedergekehrten gegen den Freiherrn nicht besonders zu erwähnen. Jetzt sei in den Dörfern durch den Bauer, der Paul zu dem Grabe seiner Mutter hingeleitet habe, die Kunde von seinem Leben und von seiner Heimkunft als ein Gerücht verbreitet, und er habe demselben nicht widersprochen, da ohnehin die Familie Steinert, in welcher Paul durch mehrere Wochen gewohnt habe, in das Geheimniß seines Namenswechsels eingeweiht und mit ihm und seinen Verhältnissen bekannt sei, weil Adam Steinert mit dem Hause Flies, dem Tremann angehöre, in beständiger Geschäftsverbindung stehe.

Der Freiherr hörte dem Berichte ohne eine unterbrechende Frage zu. Dann sprach er, als ob er mit sich selber rede: Wie das emporsteigt, wie sich das zusammenfindet: die Flies', die Steinert's und nun gar Paul! Wie die Flut eines Meeres erhebt er sich um uns, dieser Stand der Bürger, und man hat die Dämme freventlich zerstört, die uns vor seinem Andrange sicher stellten! Er schüttelte das Haupt und versank in seine Gedanken. Nach einer Weile richtete er sich auf und sagte: Ich sehe trübe, sehr trübe in die Zukunft unseres Vaterlandes, mein alter Freund, und ich werde mich nicht beklagen, wenn ich nicht mehr Zeuge der Entwicklung sein sollte, welche dieser Volkskrieg gegen Frankreich vorbereitet! Ich habe ohnehin nichts[94] mehr, was mich freut, nichts mehr, worauf ich zuversichtlich hoffe! Ich bin müde, wie Einer, der die eigene Zeit zu Grabe trägt; und oftmals möchte ich mich fragen: wofür habe ich gelebt? – Wer kann es sagen, ob diese weißen Rosen, die Sie hier mit stillem Sinne pflanzten, mit stiller Liebe pflegen, Ihnen nicht mehr Befriedigung gewähren und länger dauern, als alles, was ich zu meines Hauses Ehre plante, hoffte und erschuf!

Die Lippen bebten ihm, seine Stimme zitterte leise, als er, diese Worte sprechend, von dem Baumstamme aufstand.

Der Caplan war nicht weniger niedergeschlagen, als sein Freund. Der Trost, mit welchem sein gläubiger Sinn und sein gottvertrauendes Herz sich aufrecht hielten, war für den Freiherrn nicht vorhanden, denn er war keine religiöse Natur und sein Verhältniß zu der Kirche und zu ihren Lehren war immer nur ein äußerliches gewesen. Nur in Stunden höchster Rathlosigkeit hatte er sich ihr und seinem Beichtiger und Freunde in die Arme geworfen, und sein Zustand war in diesem Augenblicke von der Art, daß der Caplan vor allen Dingen daran denken mußte, ihm körperliche Hülfe zu leisten. Denn als der Freiherr sich erhoben hatte, schien ein Schwindel ihn zu befallen. Er schloß die Augen, griff mit der Hand tastend nach des Freundes Arm und sagte, während dieser ihn umschlang, um ihn zu unterstützen: Rufen Sie Jemanden herbei, ich befinde mich sehr übel!

Aber der Ruf des erschrockenen Greises verhallte ungehört. Die Feierstunde war angebrochen, die Handwerker hatten ihre Arbeit bereits verlassen, die Leute waren schon vom Felde nach ihren Wohnungen zurückgekehrt. Der Caplan und der Freiherr waren auf dem Kirchhofe ganz allein, und unfähig, den Zusammenbrechenden mit seinen Armen aufrecht zu erhalten, ließ der Caplan ihn langsam zur Erde niedergleiten, daß er mit[95] dem Rücken gegen das Standbild lehnte, welches einst Anlaß zu dem Tode der Kammerjungfer gegeben hatte.

Mein Freund, mein theurer Freund! rief der Caplan, indem er die Hände des mühsam Athmenden erfaßte und ihm die Halsbinde zu lösen versuchte. Aber der Freiherr antwortete dem Rufe nicht mehr. Sein Auge hob sich schwer und suchend zu der Kirche empor, als wolle er sich noch mit dem letzten Blicke an dem Denkmale halten, das er sich und seinem Geschlechte aufgerichtet hatte, dann streifte es an dem Antlitze des alten Freundes hin und senkte sich, um sich nicht wieder zu erheben.

So schnell seine wankenden Füße ihn trugen, eilte der Caplan nach seinem Hause, Beistand herbeizuholen; aber alle Mittel, die man anzuwenden wußte, erwiesen sich als unfruchtbar. Der Freiherr Franz von Arten-Richten hatte zu leben aufgehört.

Einsam, auf grünem Rasen, unter freiem Himmel war das stolze, müde Herz gebrochen, während das Kreuz auf dem Kirchthurme im Golde des Sonnenunterganges flammte und über der Margarethen-Höhe leicht und fröhlich die hellen, rosigen Sommerwölkchen, im Lichte schimmernd, vorüberzogen.

Auf die Nachricht von dem Unglücksfalle strömten aus allen Häusern die Leute herbei.

Es hat ihn hieher gezogen! sagte eine der Frauen. Es hat ihm schon lange keine Ruhe mehr gelassen! meinte eine andere. Niemand klagte um ihn.

Schrecken und Neugier, das waren die Empfindungen, mit denen sie die Leiche des Gutsherrn umstanden. Er war ihnen lange fremd geworden, sie hatten nicht mehr die Liebe zu ihm, wie ihre Eltern und Großeltern sie für die Herrschaft einst gefühlt hatten. Kein Auge weinte über ihn.

Nur von den greisen Wimpern des Caplans tropften die Thränen nieder, als er das Zeichen des Kreuzes über dem Entseelten[96] machte. Einst war er des Jünglings Führer auf dem Lebenswege gewesen, nun hatte er ihn auf seinem letzten Gange zu geleiten, und rückblickend auf das geendete Dasein seines Freundes, wie in sein eigenes Herz, betete er: Herr, gehe nicht ins Gericht mit uns und vergib uns unsere Schuld!

Der Justitiarius fuhr eilig in das Schloß, dort die Todesbotschaft zu verkünden. Es dunkelte schon, als man die Leiche des Freiherrn auf einer Bahre nach Richten trug, und leise verhallend riefen die letzten Klänge des Ave Maria auch dem Gestorbenen ihr: »Ruhe in Frieden!« nach.[97]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 6, Berlin 1871, S. 86-98.
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