Im Süden

[199] Der erste März, der Tag seiner Abreise, kam näher. Kaum war es ein Jahr, daß der große Krieg geendet hatte.

Abschied zu nehmen hatte er nur von zweien. Von seiner Mutter und vom alten Schilting. Der alte Schilting war übrigens nur elf Jahre älter als Kai. Das Wort alt wird oft in Dänemark und Schleswig-Holstein wie eine Liebkosung gebraucht, die man denen sagt, die man gern hat.

In der Frühe des ersten Märztages fuhr er ab. Eine tiefe Schneedecke, mürrische Wolken, krächzend ziehende Krähen sagten ihm Lebwohl. In der Haupttür standen die Generalin und sein Generaldirektor und winkten mit den Taschentüchern, bis er aus dem Hoftor verschwunden war. Wieder fiel sein letzter Blick auf die spaßhaften Sandsteinmännchen.

Sein ihn nach dem Bahnhof begleitender Packwagen[199] führte auserlesene Gepäckstücke mit; darauf hatte er immer gehalten. Nur einen Kammerdiener nahm er mit sich, den alten erprobten Hein Eggers, der schon viele Jahre Enewolds Vertrauen gehabt hatte; den er, wie es schon Enewold getan, zuweilen als Quartiermacher vorausfahren lassen wollte.

Sein Reiseweg ging über Berlin, München, Verona, Rom, Neapel nach Palermo, wo er sich einige Wochen aufzuhalten gedachte. Rom und Neapel sollten diesmal nur flüchtig besucht werden. Das erste, was er in Italien mit allen Sinnen aufnahm, war das leuchtende Licht und der durchdringend blaue Himmel und die Heiterkeit und Lebhaftigkeit, die ihn überall empfingen. Von Palermo wollte er nach Marseille, das ihn besonders anzog, und, unerkannt, nach La Dorette in der Provence. Wenn er nach Tangbüttel zurückgekehrt wäre, sollte sich gleich darauf die Fahrt nach Jütland anschließen, wo er Ripen sehen und sich vor allem seiner Baronie Mariagerhuus und Lillehammer zeigen mußte.

Eigentlich war es auch seine Absicht gewesen, am Schluß seiner Reise nach Paris zu fahren. Paris muß man sehen, wenn die Syringen blühn. Einzig ist es in diesen Wochen. So kannte er Paris aus früheren Jahren, wenn er Urlaub dahin genommen und im Vorbrüggenschen Stadthaus gewohnt hatte, in der Vorstadt St. Honoré. Man riet ihm für diesmal ab. Das große Paris zitterte noch zu sehr in seiner mächtigen Erregung wie ein schwingender Kolossos, der sich erst beruhigen und ins Gleichgewicht bringen muß.[200]

In Rom fuhr er sofort durch den Corso und über die Piazza Colonna nach der Fontana Trevi, wo er, ohne daß es ihm klar wurde: weshalb, einen äußerst malerischen Eindruck empfand. Alle die hier lagernden und herumlungernden Bettler und Bummler und Kinder ergötzten ihn. Es war ein so ganz andres, fremdes Bild; wie mans im Norden niemals trifft. Schon wollte er in der nächsten Nacht weiter. Doch es fiel ihm ein Wort ein, das man einem alten Nordschleswiger, der zum erstenmal nach Rom gekommen war, nachsagte. Man hatte ihn gefragt, als er über Italien, das er durcheilt hatte, schalt: »Nun, in Rom, in der ewigen Stadt, da blieben Sie doch eine Zeitlang?« »Nein, durch diesen Oart kam ich bei Nacht.«

In Neapel begegnete ihm gleich zu Anfang ein lustiges Abenteuer: Ein ihm langsam vorbeifahrender Droschkenkutscher sprang ab, ging hinter ihm her, hob die gespreizten fünf Finger seiner rechten Hand und flüsterte ihm zu: Cinque Lire, Signor; Tarantella. Das Pferd duselte ruhig weiter. Kai dachte: Schön, sehn wir uns die vielgerühmte Tarantella an. Er setzte sich in den Wagen. Der Kutscher schuckelte in verhaltner Fahrt seinen Weg durch unzählige Plätze und Straßen und hielt endlich in einer sehr engen Gasse vor einem wie es schien verschlossenen Hause. Er glitt vom Bock und forderte nicht fünf, sondern zehn Lire. Kai gab sie ihm, um den lärmenden, wüst auf ihn einredenden und lebhafte Gebärden machenden Menschen los zu werden. Nun ging der Kutscher an die Tür und trommelte mit seinen Fingern ein Zeichen.[201] Die Tür öffnete sich, und ein altes Weib bedeutete Kai, einen Augenblick zu warten. Nach kurzer Zeit kam sie wieder und ließ ihn in einen Saal hinein, wo ihn vier splitternackte Mädchen empfingen, die alle eine Weinflasche zwischen den Knieen hielten, um sie aufzuziehen. Das alte Weib schrie: Quaranta Lire, Signor. Kai übersah sofort alles, behielt seine Geistesgegenwart, zahlte auf der Stelle die geforderten vierzig Lire und begab sich an die Haustür, die ihm willig von der Alten aufgemacht wurde. Er stand auf der Straße und hörte hinter sich, so glaubte er fest, ein nicht endenwollendes Gelächter. Zum Glück sah er zwei Schutzleute, von denen der eine französisch radebrechte. Sie führten ihn nach einer Droschke, die ihn nach seinem Gasthof zurückbrachte.

Palermo. Ein Paradies auf Erden. Kai stieg im Hôtel des Palmes ab. Ehe er noch von der unbeschreiblichen, ihn verwirrenden Fremdheit Palermos überwältigt worden war, besuchte er im Dom die Gräber Friedrichs des Zweiten und Heinrichs des Sechsten in ihren Porphyrsärgen, und sah die Sarkophage der beiden Konstanzen. Die beiden Hohenstaufen beschäftigten von jeher seine Phantasie. Der furchtbare Heinrich der Sechste! Dessen stärkster Charakter- und Herzenszug, in all seiner Grausamkeit, doch einzig nur Deutschlands Größe war. Was auch dieser merkwürdige Kaiser unternahm, bis an seinen Tod blieb ihm immer im letzten Gedanken haften: Deutsch und Deutschland über alles!

Sein Sohn, der geniale Friedrich der Zweite, der[202] Ketzer, der Freigeist, der seinen Lebenstagen weit voraus war, der sich bis an seine Sterbestunde herumschlagen mußte, nicht nur mit den übrigen geistigen Einflüssen und geistlichen und weltlichen Mächten seiner Zeit, sondern auch mit seinen leiblichen Söhnen, war für Kai der merkwürdigere von diesen beiden deutschen Kaisern. Friedrich, der Sohn der normannischen Prinzessin Konstantia, der Erbtochter Siziliens – nun, gleichviel: der Sohn einer Normannin. Da hatte er doch das Blut der Nordmänner in sich, die sich in den Fjorden und Felsen ihres arktischen Landes herumgebalgt hatten, um später mit ihren Langbooten in England, in Frankreich, in Sizilien die Überschüsse ihrer Bärenkräfte zu landen. Nichts von dieser rauhen Nordlandsnatur ist in ihm flüssig geworden: er blieb der Südländer, der Sizilianer, mochte unter allen Weibern der Erde am liebsten umsungen und umtanzt sein von arabischen Houris, fand sein bißchen menschliches Glück, das ihm übrig blieb in allen seinen Kämpfen, in sarazenischer Umgebung.

Kai ging erschüttert von den Truhen dieser beiden großen Menschen in sein Hôtel zurück, wo er schon am nächsten Tage bekannt wurde mit dem österreichischen Kavalleriegeneral a.D. Grafen Mauthersdorf und seiner Familie.

Der Graf war mit seinen vier Töchtern in Sizilien, um diese Insel noch vor seinem Tode zu sehen: Das sei der Wunsch seines Lebens gewesen. Die drei ältesten Töchter, die Marquise Belleville, die dänische Gräfin Lilleborg und die mecklenburgische Baronin[203] Tremplin waren mit ihren Männern hier. Es traf sich, daß der Marquis eine Besitzung in der Provence hatte, und daß Graf Lilleborg in Jütland ein Nachbar von Kai war.

Die vierte Tochter, die siebzehnjährige Komteß Philomena, die eigentlich Philomele getauft werden sollte, war ledig. Als sie zum erstenmal in Kais schwarze Augen, die schwärzer noch dunkelten als sizilianische Augen, sah, erschrak sie so, daß sie sich an ihren Vater lehnen mußte. Kai wurde von ihrer Schönheit so angezogen, daß er fast vergaß, ihr seine Verbeugung zu machen, daß er vor ihr stand wie ein tumper Schäferjunge, mit offnen Lippen.

Gleich für den andern Tag wurde ein Ausflug nach dem Monte Pellegrino, nach der Grotte der Heiligen Rosalie beschlossen. In der Nacht konnten weder Kai noch Mena schlafen vor Sehnsucht nach einander: Die Liebe war mit südländischer Heftigkeit über sie gekommen. Als sich die Reisegesellschaft am nächsten Morgen in der Nähe von Santa Rosalia in einem kleinen Tempel mit einem verstümmelten Standbild aufhielt, von wo aus das Meer vor ihr in glitzernder Unendlichkeit lag, fanden sich die Hände Kais und Menas, die hinter den andern standen, zum ersten Liebesdruck. Der erste leise, gegenseitige Händedruck des Verständnisses bleibt, was auch für Wonne und Glück später winken, der seligste Augenblick.

Die Verlobung zwischen Kai und Mena wurde schon nach acht Tagen in der Familie im Hôtel des Palmes gefeiert, eigentlich, oder gradezu gesagt, mit[204] nicht sehr schicklicher Eile. Daran war Graf Lilleborg schuld, dem sich Kai stürmisch genähert hatte. Keinen bessern als Lilleborg gab es, der genauer seinen Schwiegervater hätte mit Kais Verhältnissen bekannt machen können. Zwischen Mutter und Sohn wurden die zärtlichsten Depeschen gewechselt.

Lilleborg war mit Enewold und Enewolds Leben gut vertraut gewesen. Er erzählte Kai, daß man überall ein ähnliches Ende, wie er es gefunden, jede Stunde erwartet habe.

Gleich nach der Verlobung dampfte Kai, wie durch ein Meer von Rosen, nach Marseille ab. Es war verabredet worden, daß sich Mauthersdorfs nach acht Tagen auf ihrem Schloß Mauthersdorf nicht fern von Graz in Steiermark einfinden wollten. Dort sollte Kai nach zwei Wochen auch erscheinen, nach dem Besuch seines Gütchens La Dorette in der Provence.

Kai wurde in Marseille auf der Promenade de la Corniche verhaftet. Erst als er hinter Schloß und Riegel saß, verkündete man ihm, daß man ihn für einen Spion halte. Zwei lange Tage dauerte es, bis er auf diplomatischem Wege – Kai hatte das ganze Triebwerk der Deutschen Botschaft in Paris und des Auswärtigen Amtes in Bewegung gesetzt – unter vielen Entschuldigungen wieder entlassen wurde. Er drehte Marseille den Rücken und eilte in die Provence. Einen Augenblick war es ihm durch den Kopf geschossen, daß sein zukünftiger Schwager Belleville seine Einsperrung veranlaßt haben könne. Aber er verwarf den Gedanken als abgeschmackt. Freilich kam ihm ein[205] kleiner Streit in Palermo in Erinnerung, den er dort mit ihm gehabt hatte: Der Marquis behauptete, daß es ganz unmöglich sei, daß ein Deutscher in Frankreich auch nur den kleinsten Besitz sein nennen könne; wenn er aus der Zeit vor dem großen Kriege herrühre, wäre ein solcher Besitz nach dem großen Kriege einfach aufgehoben. Es half nichts, daß sich Kai dagegen mit allen Mitteln wehrte, denn: das könne er doch selbst am besten wissen und hätte es an seiner eignen Haut erfahren müssen. Nichts sei weder vor noch nach dem Kriege vorgekommen, das auch nur leise darauf hingedeutet habe. Die französische Regierung ...

Der Marquis war erregt aufgesprungen ...

Nun fuhr Kai durch den schönsten Frühling in die Provence hinein, wo sich ihm Syringen und Goldregen in voller Blüte entgegenstreckten. Er dachte an Tangbüttel, daß dort jetzt kaum schon ein Marienblümchen, kaum ein Schneeglöckchen zu finden sei, daß dort der Wald noch starr und stumm, noch blätter- und knospenleer stehe.

Im Lande der Provenzalen! Wo die Wurzel seines Stammbaumes in der Erde lag, von wo aus sich die Zweige nach Norden gewandt hatten. Es war ein uraltes Geschlecht; und wenn schon der Troubadour Raimon devant le Pons, ein goldnes Stirnband um das nachtschwarze Haar geschlungen, um die Wette gesungen hatte mit Bernhard von Ventadour, so muß es schon im zwölften Jahrhundert geblüht haben, in der Zeit der Hohenstaufen. Kai hatte nach dem Tode Enewolds in seinem Nachlaß eine Menge Bücher[206] und Schriften über die Provence und über den provenzalischen Adel und den provenzalischen Minnesang gefunden. Ihm schwirrten im Kopf die Namen der Troubadours durcheinander, die Raimbaut von Orange, Guiraut von Bornelh, Arnaut von Mareuil, Peire Vidal, Bertran de Born.

Noch zu Lebzeiten Enewolds hatte ihm dieser gesagt, daß das meiste über die Vorbrüggen in der Bibliothek und Manuskriptensammlung in Avignon zu finden wäre. Darum wollte Kai einige Wochen in Avignon bleiben. Jetzt freilich hatte er seine Pläne geändert und trachtete nur darnach, so schnell wie möglich nach Mauthersdorf zu seiner Braut zu eilen. Doch er mußte sich so lange gedulden, bis der verabredete Tag gekommen war, wo er bestimmt wußte, daß Graf Mauthersdorf und die Seinen zu Hause angekommen seien und sich wieder in die alte Gewohnheit eingelebt und auf seinen Besuch eingerichtet hätten. Auf diese Weise fand er Zeit, La Dorette, das früher Le Torelet gehießen, und Avignon flüchtig zu besuchen. Von Avignon schrieb er den ersten langen Brief an seine Braut.


Avignon, den 6. April 1872.


Mein Herz, o mein Herz!

Könnt ich alle Blumen raffen, die in diesem Augenblick in der Provence blühen, um Dir meine Liebe zu zeigen. Nein, um Dir meine Liebe zu zeigen, möchte ich Dich jetzt hier haben im hohen Bibliothekszimmer, in dem ich sitze. Weißt Du, was ich dann täte? Ich würfe Dich wie einen Ball an die Decke, und finge Dich auf, und immer wieder,[207] und jedesmal wenn ich Dich auffinge, bedeckte ich Dich, Deinen Mund, Deine Stirn, Deine Augen mit unzähligen Küssen. Halt ein, halt ein, rufst Du, mir schwindelt.

Du wirst alle meine vielen Briefchen und Depeschen, die ich Dir täglich, wo ich auch war, sandte, vorgefunden haben in Mauthersdorf, oder findest sie da bei Deiner Ankunft. Heute erst kann ich Dir den ersten langen Brief schreiben. Vor unserm Zusammentreffen den ersten und letzten. Ich halte es gar nicht mehr aus vor Sehnsucht und reise deshalb schon morgen nach Wien ab, wo ich Deinen ersten Brief, den ich stürmisch aufreißen werde, antreffe. Er wird mir sagen, zu welchem Zuge ihr mich in Kronleithen empfangen werdet. Denke Dir, ich habe eine tolle Idee, denn Du hast mich nüchternen Menschen zum Romantiker gemacht. Also ich schlage vor: Seid alle zu Pferde auf dem Bahnhof, und habt ihr nicht Pferde genug für die Schwäger, so mögen die Dragoneroffiziere aus euerm Nachbarstädtchen, von denen Du und die Deinen mir so viel erzählt haben, aushelfen. Ein Gedanke: Du und ich voran, und hinter uns der ganze Reiter- und Reiterinnenzug, ziehen wir in die Voralpen und durchs Tor von Mauthersdorf. Als Kind war ich schüchtern und scheu und versteckte mich oft vor den Menschen. Das hat sich in meiner Soldatenzeit geändert. Obgleich mir jede Öffentlichkeit auch heute noch ein Greuel ist. Mit Pauken und Trompeten galoppieren wir ins Leben.

Ich bin in Avignon. Hier wollte ich mich, nach[208] meinem Plan, wochenlang aufhalten, um nach dem Ursprung meines Hauses zu forschen. Dazu fehlt mir nun jede Geduld. Deshalb bin ich jetzt in Avignon, daß ich meinen kurzen Aufenthalt ausnutze, um mich nach den provenzalischen Troubadours und ihren Minnesängern umzusehen. Das sagte ich auch den Behörden, und bin mit größter Liebenswürdigkeit von der Bibliothek aufgenommen worden.

Hier hast Du ein Verslein von Bernard von Ventadour:


Mi dons soi hom et amic e servire,

E non l'enquier nuill autras amistatz,

Mas c'a selat los sieus belz villz me vire,

Que gran be – m fai l'esgartz quan soi iratz.


Du möchtest wissen, wie das deutsch heißt:

Ich steh zu ihr in Dienst- und Freundespflichten, und bitte sie nur um die eine Huld, geheim den schönen Blick auf mich zu richten, denn der besänftigt meine Ungeduld.

Nein, nein, das ist eine recht zage Strophe: Ich bitte sie nur um die eine Huld, geheim den schönen Blick auf mich zu richten, denn der besänftigt meine Ungeduld. Nein, nein, das tut er nicht. Du sollst mich ansehen mit Deiner ganzen Liebesglut.

Eine Strophe von Gaucelm Foidit:


Can li baisei dousanen

Son bel col blanc avinen,

Adonc frais

Lo dous bais

Mo marrimen.
[209]

Auf deutsch:


Als ich einen Kuß entzückt

Auf den weißen Hals gedrückt,

Fühlte ich

Wonniglich

All mein Leid entrückt.


Das klingt schon anders.

Eine heiße Strophe von Peire Vidal:


Mehr Hab ich an einem Band

Aus Raymdaudas eigner Hand,

Als der König an Poitou

Und an Tour und an Anjou.


Du hältst mich wohl für einen Gelehrten. Um Gottes Willen, das bin ich nicht. Ich fand nämlich hier auch das Buch vom alten Diez: Die Poesie der Troubadours. Ich hatte es schon unter den Büchern Enewolds gefunden und war erfreut, es hier wieder zu sehen.

Nun muß ich Dir von meinem Ausflug nach La Dorette erzählen. Es liegt nicht weit von Avignon. Ich fuhr in kurzer Fahrt nach einer kleinen Stadt mit der Bahn und ging von dort aus an die Durance. Ich gab an, daß ich aus Nordfrankreich sei. Alles ging gut. Der wilde Fluß hat vor seiner Mündung in die Rhône (bei den Franzosen heißt der Fluß der Rhône) sein Ungestüm gemäßigt. Ich ging und ging. Plötzlich sah ich hart am Ufer in einem Park ein Schlößchen im Mansardenstil. Mein Herz klopfte. Vorm Garten lag auf einer Anhöhe ein Wirtshaus. Dort kehrte ich[210] ein und ließ mir Wein und Brot auf eine Bank vorm Kruge (würde ich in Holstein sagen) bringen. Es gesellte sich zu mir ein Greis, der mir vieles von dem Gütchen erzählte, auch daß es einem dänischen Grafen, dessen Namen er Fourbruges aussprach, gehöre. Ich gab mich nicht zu erkennen, schon um politischen Bitterkeiten aus dem Wege zu gehen. Ich fragte ihn wegen des Namens aus, von wann an das Schlößchen La Dorette heiße, da es doch früher den Namen Le Torelet gehabt habe. Er gab mir verwirrte Antworten, aus denen ich zu erraten glaubte, daß der Marschall Brune es umgetauft habe. Der Marschall sei achtzehnhundertundfünfzehn in Avignon ermordet worden. So muß ich mich denn weiter begnügen, bis ich endlich genaueres erfahre. Enewold schien auch nicht darüber Bescheid zu wissen.

Ich fragte den Greis, ob es erlaubt sei, den Park zu besuchen. Er bot sich mir ohne weiteres als Begleiter an, und ich betrat mit ihm mein Eigentum. Ein seltsames Gefühl, wie ein Geächteter durch seine Wege und Wiesen gehen zu müssen.

Als wir durch den gutgepflegten Garten gingen, kam die Dämmerung. Während wir in einem Tannengebüsch waren, hörte ich die Drossel. Ich war gleich in der Heimat. Auf die Veranda des Hauses trat eine schon weiße Dame. Ich zog meinen Hut und mein Wegweiser sagte: Frau Faydard. Da bemerkte ich, daß er ihr Mann sein müsse, was er mir lachend zugab. Ich hatte auch von Enewold und Schilting oft den Namen gehört. Schon wollte ich mich zu[211] erkennen geben, doch ich unterließ es abermals. Herr Faydard führte mich nun ins Haus und stellte mich seiner Frau vor. Auf meine Bitte, die Zimmer sehen zu dürfen, gingen die beiden alten Leute mit großer Freundlichkeit ein. Im Obergeschoß hatte sich Enewold seine Räume vorbehalten. Es standen höchst geschmacklose Möbel drin aus den vierziger Jahren, die er damals aus Paris hatte kommen lassen; ich hätte bald gesagt, Möbel des Krinolinenstils der Kaiserin Eugenie, obgleich die Kaiserin in den vierziger Jahren noch nicht in Paris gewesen ist. Von Bildern fand ich einen guten Napoleon von Horace Vernet, leider in einem scheußlichen goldenen Rahmen. Die übrigen Bilder waren aus der Empirezeit, noch in ihren alten Rahmen. Vier davon waren aus der kaiserlichen Bibliothek achtzehnhundertundfünf: La petite Savoyarde, Le Berger complaisant, Le Départ pour la chasse und Le Retour de la chasse. Die Menschen darauf vorzüglich; die Tiere (Pferde, Hunde, Schafe) steif und hölzern. Ich werde mir diese Bilder später nach Tangbüttel schicken lassen. Weiß Gott, wie Enewold zu ihnen gekommen ist. Herr Faydard konnte mir darüber keine Auskunft geben. Als ich in Enewolds Schlafzimmer trat und das breite französische Bett sah, fragte ich, ob ich diese Nacht hier zubringen dürfe. Das wurde mir verweigert mit ebenso großer Entschiedenheit wie Höflichkeit.

Herr Faydard wußte natürlich, daß Enewold im vorigen Jahr gestorben sei; sein Nachfolger sei noch nicht in La Dorette gewesen. Er habe gehört, daß[212] er als Offizier gegen Frankreich gekämpft habe, und da möchte er ihn lieber nicht sehen.

Ich dankte meinem gütigen Führer, ging ins Wirtshaus zurück, wo ich übernachtete, und fuhr am anderen Morgen früh nach Avignon.

Morgen reise ich auf einem Umwege über Frankfurt nach Wien, wo ich an dem Tage eintreffe, an dem ich von Dir Deine Ankunft erfahren habe und den Zug, mit dem ich zu Dir eilen kann. Hätte er die Flügel des Gedankens: um Dich so rasch wie möglich in meinen Armen zu halten.

Ich mache Pläne über Pläne, wie ich Dir, wie ich uns das Leben einrichten möchte.

In Avignon fand ich postlagernd ein eingeschriebenes Paket vor, worin auch Briefe von meiner Mutter und von meinem Generaldirektor lagen. Schilting hatte die Vorsicht gebraucht, das Paket vom französischen Generalkonsulat in Hamburg abschicken zu lassen. Wenngleich meine Papiere, durch die ich mich auf der Post ausweisen mußte, in bester Ordnung waren, dauerte es eine ziemliche Zeit, bis mir das Paket ausgeliefert wurde. Ich glaube, die Post hat erst telegraphisch beim Generalkonsulat in Hamburg angefragt. Du ahnst nicht, wie erregt noch alles in Frankreich ist nach dem letzten Kriege.

Ich hatte mir von meiner Mutter noch eine kleine Ansicht von Tangbüttel mitsenden lassen, die im vorigen Sommer gemalt ist. Sie folgt hiermit. Da siehst du das alte würdige Schloß mit seinen beiden mehreckigen, efeuumsponnenen Halbtürmen, zwischen denen der[213] Haupteingang liegt. Trotz seinem Alter, es ist vor zweihundertunddreißig Jahren gebaut, und trotz der ein wenig gedrückten Vorderansicht hat es ein durchaus, sagen wir mal französich, distinguiertes An- und Aussehen. Ein alter feudaler Herrensitz.

Wie wirst Du Dir drin gefallen? Das ist meine immerwährende Frage. Der Park ist ausgedehnt und einigermaßen angelegt, mit viel Bäumen drin. Doch die Umgebung. Namentlich nach Osten viel Haide und Moor. Meine Liebe, was wirst Du dazu sagen?

Meine Baronie in Jütland kenne ich noch nicht. Vielleicht paßt es uns, dort zu wohnen.

Du erzähltest mir, daß Du gern auf der See wärest. Es soll mein erstes sein, daß ich mir auf einer Hamburger Werft einen Ozeandampfer bauen lasse. Dann nehmen wir uns einen deutschen Kapitän und auserlesene deutsche Matrosen und fahren hin, wohin wir wollen. Gräfin vielleicht eine Reise nach China und Japan gefällig? oder nach den Feuerländern? oder zu den Molukken? oder nach Kamtschattka? nach Indien? nach Tunis? Zuerst fahren wir nach Ripen, im Westen Jütlands. Das muß eine köstliche Nordmännerstadt sein. Ich schwärme für sie, ohne daß ich sie gesehen habe. Von da nach Palermo. Da zuerst der Monte Pellegrino und der Fleck, wo das Tempelchen steht mit dem sonderbaren Standbild, dem der Kopf fehlt, wenn ich mich recht erinnere. Da, da, da drückten wir uns zuerst die Hände, von keinem bemerkt.[214]

O mein Herz, mein süßes Herz, was fasele ich Dir für dummes Zeug vor. Leb wohl, leb wohl. Ich habe eine rasende Sehnsucht nach Dir. Gestern träumte ich nur von Dir in der Bibliothek, zwischen all den Troubadours. Ich träumte, daß ich Dich neben mir im Jagdwagen hätte: Wir fuhren in lachendster Sonne durch meine Felder. Vorn vier nickende Pferdeköpfe, neben mir zwei blonde Frauenzöpfe (verzeih, als Frau darfst Du wohl keine Zöpfe mehr tragen), hinten der Groom mit wichtigen Mienen, an den Rädern Gebell. In den Dörfern windstillen Lebens Genüge, auf den Äckern fleißige Spaten und Pflüge, alles das von der Sonne beschienen, so hell, so hell – ja, das träumte mir von uns. Nun ab nach Wien. Auf baldiges, baldiges Wiedersehen. Dein Kai.


* * *


Kai war in Wien angekommen und hatte im Matschakerhof die Antwort seiner Braut erhalten. Immer wieder las er den Brief, und küßte tausend und tausendmal die Zeilen.

Zur bestimmten Empfangsstunde fuhr er nach dem kleinen Bahnhof ab, nach Krohnleihten, nicht fern von Graz. Da war er. Als er seine schöne Verlobte sah, vergaß er alles um sich und drückte sie an sein Herz und küßte sie. Und die junge Gräfin vergaß alles um sich und wollte ihn nicht lassen, und preßte ihn an sich: Alles war wie ein Sturm, der die Welt zusammenbrechen will.[215]

Der alte Graf, die Schwestern und Schwäger, alle in Reitanzügen, empfingen Kai mit großer Herzlichkeit. Als sie aus dem Empfangsgebäude traten, klang ein Tusch und ein Reitermarsch, und, weiß Gott, da hielten die Dragoneroffiziere vom Regiment Erzherzog Xaver Emanuel zu Pferde und riefen Hurra. Das war eine Überraschung.

Kai hatte kaum mehr an seinen Vorschlag gedacht und war deshalb ohne Sporen und Stege gefahren. Rasch band ihm ein Diener mit Bändern unten die Hosen fest, wie wir es zuweilen bei den Radlern sehen. In diesem nicht grade sehr ritterlichen Anzug stieg er in den Sattel.

Alles ritt ab, er und Mena an der Spitze.

Das war die alte österreichische Fröhlichkeit, wie sie sich zu solchem Ausdruck wohl nie in einem andern Lande offenbaren könnte.

Wo sie vorbeikamen, traten die Leute aus den Türen. Die Kinder liefen und jubelten hinterher und warfen die Mützen in die Luft. Fast war es wie auf einem Schwindschen Bilde. Einmal bog sich Kai zu seiner Braut und flüsterte ihr glückselig zu: »Es gibt auf Erden keinen Schmerz mehr. Wär ich dein Page, den verkappten Falken auf dem Finger, ritt ich hinter dir und sähe nur meine Königin!« Sie lächelte ihm zu, und das Glück lag ohne Schatten in ihren Augen.

Die Dragonermusik trabte nach vorn und blies schmetternde Stücke. Das alte finstre Schloß Mauthersdorf trat wie ein Kastell aus den Bäumen heraus. Sie hielten vor der Rampe. Kai half seiner Braut[216] aus dem Sattel und fand jetzt erst Gelegenheit, den Offizieren seinen Dank auszusprechen.

Der Park in Mauthersdorf dehnte sich zehnmal weiter als der von Tangbüttel. Lenôtre selbst soll ihn in seinem Stil von Versailles angelegt haben. Die Reste waren noch zu erkennen. Trotzdem ihn ein späterer Besitzer im achtzehnten Jahrhundert in den englischen Garten verwandelt hatte, waren die langen, breiten Buchenalleen aus dem siebzehnten Jahrhundert stehen geblieben. In diesen Alleen, die so lang waren, daß es aussah, als wenn sie am Ende spitz zuliefen, gingen unterm ersten, hellgrünen Laub Kai und seine Braut spazieren. Sie gingen, wie alle Liebesleute, wenn sie allein sind, dicht aneinandergeschmiegt und tuschelten sich die seligsten Geheimnisse zu. Kleine Gruppen von Sandsteinfiguren aller Art, die oft stark abgebröckelt schienen, standen in Verstecken, zuweilen auch von Linden umgeben, die in Sechs- und Achtecken gepflanzt waren. Unter einem Hollunderbusch entdeckte man ein Standbild: einen Gott, der mit sei nem gewaltigen, langen Bart wie Vater Rhein aussah. Diesen gewaltigen Bart schob der Biedere äußerst geziert mit seiner linken Hand nach seiner linken Seite. Er war noch gut im Stande. Nur bemerkte man Spuren von Pistolenkugeln auf seiner Brust. Wahrscheinlich hatte er der Jugend des Schlosses als Ziel gedient.

Von Mauthersdorf aus wurden zwei Ausflüge unternommen: der eine nach dem Semmering, der andere auf zwei Tage nach Graz, wo sie im Stadtschloß der Mauthersdorf einkehrten, einem unvergleichlichen[217] Barockbau in italienischem Stil. Einmal aßen sie da zu Mittag, das andere Mal im vorzüglichen Erzherzog Johann. In Graz interessierten Kai besonders die vielen langen Höfe der Häuser mit ihren Lauben und mit ihren vielen schmiedeeisernen Gittern und Türen.

Die Abschiedsstunde war herangekommen. Es war allerlei beredet: Im Juni wollten sich der Graf und seine Tochter der greisen Exzellenz auf Tangbüttel vorstellen. Im September sollte auf Schloß Mauthersdorf die Hochzeit sein. Man hoffte bestimmt auf die Anwesenheit von Frau von Vorbrüggen. Kai wollte sich auf seiner Rückreise einen Tag in Prag aufhalten und zwei bis drei Tage die Schlachtfelder von Sechsundsechzig in Böhmen aufsuchen. Darauf rasch über Berlin nach Hamburg. In Tangbüttel erwartete ihn sicher ein ganzer Haufe von Briefen und Depeschen aus Mauthersdorf. Wie er sich schon jetzt darauf freute.

Auf dem Hinwege zum Bahnhof ritt, ohne die Dragoneroffiziere, das ganze Haus Mauthersdorf. Diesmal trug Kai Sporen und Reithosen, wenn sie ihm auch bis nach Wien, wo er sich umkleiden konnte, etwas unbequem sein mußten.

Der letzte Wink mit dem Taschentuch. Kai war auf der Heimreise nach Norden. Er lehnte sich in den Sitz zurück und liebe Erinnerungen aus der letzten Zeit zogen ihm durchs Herz.

Einen Tag blieb er in Prag und ging wie ein Träumender durch diese Wunderstadt mit ihren unzähligen geschichtlichen Plätzen, Straßen und Häusern und Sagenstätten. Das wußte er, daß er oft wiederkommen würde.[218]

Den nächsten Tag fuhr er weiter, um sich die Schlachtfelder von Nachod und Skalitz anzusehen. Nichts mehr erinnerte auf ihnen an den Krieg. Keine rauchenden Trümmer mehr, keine von Granaten durchwühlten Äcker. Überall Friede, Friede. Auf dem Bahnhof in Skalitz ging ein Zug ab, der frohe Menschen trug: Irgend eine Gesellschaft, ein Verein hatte sein Sommervergnügen. Junge Mädchen in weißen Kleidern lachten und lärmten und schauten aus den Wagen. Männer, mit Schleifen in den Knopflöchern, ordneten, so gut es gehen wollte. Ein Pfiff der Lokomotive, und mit Hurra dampfte der Zug ab nach dem bestimmten Ausflugsorte. Grade vor Skalitz hatte Kai die Schienen aufgerissen gesehen vor sieben Jahren. Dicht vor Skalitz hatte neben den Schienen der gefallene österreichische General von Fragnern gelegen.

Er nahm einen Wagen und ließ sich aufs Schlachtfeld bringen, zuerst nach dem Hügel (788). Hier war er verwundet worden; hier, ehe er ohnmächtig wurde, hatte er als letztes Bild die stürmenden Offiziere und Mannschaften seines Regiments im Auge festgehalten, die mit furchtbarer Willenskraft, mit äußerster Entschlossenheit die Höhe eroberten. Nun stand er ganz allein oben. Kein Blut, kein Tod, keine zerrissenen Menschen- und Pferdeleiber. Auf der Wiese vor ihm sah er ein paar Bauern, die mit ihren Mädchen scherzten. Der Friede küßte Baum und Strauch und Gras und dehnte sich auf Wegen und Wiesen. Dann ging es nach Nachod weiter, wo er am folgenden Tage die Wahlstatt besuchte: Zunächst Dorf Wenzelsberg und die Kirche,[219] dann das Wäldchen vorm Dorf. In diesem Wäldchen hatte er zuerst den Feind in seinen weißen Röcken herankommen sehen, im glitzernden, funkelnden Sonnenschein; alle österreichischen Regimentsmusiken spielten den Radetzkymarsch. Und wo er jetzt im ersten Frühling am Rand des Wäldchens stand und in die Ferne nach Westen sah, brach damals gegen ihn und sein Regiment im kühnsten Sturm ein weißes Meer, des Feindes wundervolles Heer. Er stützte, wie aus Erz gezeugt, sich auf den Säbel, vorgebeugt, mit weiten Augen, offnem Mund, als starrte er in den Höllengrund. Nun sind sie da! Und Mann an Mann, hinauf, hinab, und mancher sinkt in Graus und Grab. Zu Boden stürzt er, einer sticht und zerrt ihn, er errafft sich nicht. Um ihn, vor ihm, ein einzig Ringen, Gall und Gier. Und über diesem wüsten Knaul bäumt sich ein scheugewordner Gaul und zeigt der Vorderhufe Blitz, blutfestgetrockneten Sporenritz, den Gurt, den angespritzten Kot, der aufgeblähten Nüstern Rot. Und mitten drin mit Klang und Kling platzt der Granate Eisenring: Ein Drache brüllt, die Erde birst, einfällt der Weltenhimmelfirst. Es ächzt, es stöhnt, und Schutt und Staub umhüllen Tod und Lorbeerlaub.

Jetzt liegt vor ihm, um ihn ausgebreitet der harmlose Friede und trägt einen hellen Kranz von erstem Buchengrün auf den Locken.

Le temps se passe. Das ist schwer zu übersetzen: Die Zeit vergeht, ist nicht ganz richtig im Deutschen wiedergegeben; am besten könnte es noch im Plattdeutschen gesagt werden: Hol di ni up.[220]

Breslau, Berlin, Hamburg. In Hamburg traf Kai mit dem Nachtzuge von Berlin am ersten Mai in der Frühe ein. Sein Wagen wartete auf ihn vorm Bahnhof. Sowie er aus Hamburg hinaus war, ging es im raschen Trabe nach Tangbüttel. Überall das wiedererstandene und wiedererstehende Leben in der Natur. Nur die Eichen zeigten sich noch kahl.

Er umarmte seine Mutter, die ihn mit weinenden, lachenden Augen empfing. Es war einer der seltenen, ganz glücklichen Augenblicke, die es auf unsern Erdenwegen gibt. Halt, halt an!

Kai fragte gleich nach den eingelaufenen Depeschen und Briefen aus Mauthersdorf. Frau von Vorbrüggen überreichte ihm nur zwei Depeschen und einen schweren Brief, der gestern abend aus Mauthersdorf eingetroffen war.

Kai eilte mit ihnen hinauf, drei Stufen auf einmal nehmend. In seinem Zimmer warf er seinen Hut von sich und erbrach, an seinem Schreibtisch stehend, aufs Geratewohl zuerst die beiden Depeschen. In der ersten, die er aufriß, stand, daß Mena aufs schwerste erkrankt, in der zweiten, die eine Stunde später gekommen sein mochte, daß das schöne Mädchen gestorben sei.

Was? was stand da? Das alles ist ja eine Unmöglichkeit, ein Wahnsinn. Doch ohne noch einmal den Inhalt zu prüfen, sank Kai in einen Stuhl und stierte, als wenn er kindisch geworden wäre, vor sich hin. Die Lippen standen ihm offen. So blieb er eine ganze Zeitlang starr und stumpf sitzen. Mit einemmal[221] sprang er auf und rief, wie er es als Kind getan, als kleiner Knabe, dem eine plötzliche Angst die Seele raubt, schnell und ängstlich: »Mutter, Mutter!« Dann riß er die Tür auf und schrie, daß es über die ganze Erde zu hören war: »Mutter, Mutter.«

Die Mutter verstand den Ruf und kam, so rasch es ihre Jahre erlaubten, zu ihm. Sie sagte nichts, sondern schloß ihn nur an ihr Herz und lehnte seine Stirn an ihre Brust. Ohne zu wissen, was vorgefallen, wußte sie alles. O Mutterherz!

Sie führte ihren Sohn, der sich wie ein Schwerkranker, gänzlich Kraftloser ihr überließ, an sein Bett. Als er sich hingelegt hatte, legte sie ihm eine leichte seidene Decke über und verschwand leise aus der Tür.

Erst am Nachmittag öffnete sie, auf Kais Bitte, den Brief. Er war vom Grafen Lilleborg geschrieben. Nun erst erfuhren sie, welchen Tod die junge Gräfin erlitten hatte: Auf dem Heimweg nach Mauthersdorf, als Kai eben nach Norden abgefahren war, begegnete dem Reiterzug ein Landwagen, auf dem eine schwere, sehr hohe landwirtschaftliche Maschine festgebunden war. Menas Pferd scheute heftig und stieg kerzengrade. Die Komteß fiel aus dem Sattel zu Boden, und die lebhafte Stute ging durch, ihre Reiterin, die dem Bügel nicht entgleiten konnte, in rasendem Lauf mit sich schleifend. Das Pferd hatte erst aufgehalten werden können, als es endlich ausgerast hatte und von selbst stehen geblieben war.

Mena, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, war tot.[222]

Graf Lilleborg schrieb nach dem Beerdigungstag. Zum Schluß erwähnte er, daß man Depeschen auf Depeschen nach Prag, Skalitz und Nachod geschickt hatte, in der steten Hoffnung, daß doch eine wenigstens ihn treffen werde. Immer auch seien Telegramme von Kai an Mena angekommen: nur angefüllt mit glücklichen Worten und Scherzen, aus denen sie entnommen hätten, daß kein Telegramm von ihnen ihn erreicht habe. Schließlich hätten sie nach Tangbüttel telegraphiert, und Graf Lilleborg habe diesen Brief gleichfalls dorthin gerichtet. Alle herzlichen Drahtmitteilungen Kais seien Mena in den Sarg gegeben.

Kai lag den Nachmittag unten bei seiner Mutter ausgestreckt in einem Sessel. Er blieb ganz ruhig, scheinbar teilnahmlos. Frau von Vorbrüggen tröstete ihn mit Bibelsprüchen und Gesangbuchversen. Kai schien es nicht zu berühren. Nur einmal sagte er ein wenig unwirsch: »Mutter, wenn der liebe Gott einen Menschen aus Todesgefahr rettet, ist es seine Gnade gewesen; wenn er ihn nicht gerettet hat, ist es des Allmächtigen unerforschlicher Ratschluß und Wille, dem wir uns fügen sollen. Ach, von dem Trost mag ich nichts wissen.« Ihre Exzellenz erschrak heftig. Sie erwiderte nichts, sondern legte ihm nur die Hand auf die Stirn und hielt sie dort so lange, bis Kai ein wenig einschlummerte.

Als er erwachte, hatte er seine Tatkraft wieder erlangt. Er beschloß, am nächsten Morgen nach Mauthersdorf zu reisen. In früher Stunde fuhr er nach Österreich ab. Nur seine Mutter hatte es sich[223] nicht nehmen lassen, beim Abschied an der Tür zu stehen und ihm nachzuwinken, bis er am Hoftor verschwunden war.

Am Bahnhof Kronleithen empfing ihn Lilleborg, der ihn kaum wiedererkannte, so gebrochen kam er an.

Schwer und bitter war der Empfang im Schloß. Als sich Kai eine Stunde ausgeruht hatte, nahmen ihn der alte Graf und Lilleborg zwischen sich und führten ihn nach der Kapelle, wo Menas hölzerner Sarg so lange vor dem Altar stehen sollte, bis ein bronzener ihn umschloß.

Vorm Altar angekommen, brach Kai zusammen. Zum erstenmal erlöste ihn ein Tränenstrom. Er warf sich auf die Truhe und umklammerte sie und wollte sich nicht davon trennen und loslösen lassen.

Als er nach Tangbüttel zurückgekehrt war, fand er seine Mutter im Bett. Gleich nach seiner Abfahrt war die alte Dame zusammengebrochen. Bis dahin hatte sie sich aufrecht gehalten und ihrem Sohne keine Schwäche gezeigt. Länger hatte sie es nicht getragen. Kai sandte sofort Eilboten zu Pferde an zwei bekannte Ärzte in Hamburg, die ihm nach der Beratung eröffneten, daß schon eine zu große Schwäche eingetreten sei und kaum eine Hoffnung auf Genesung angenommen werden könne. Schon nach zwei Tagen hatte Frau von Vorbrüggen den Weg zu Gott genommen, das ärgerliche irdische Leben mit dem himmlischen vertauscht, die Schuld der Natur bezahlt. Dies Wort: die Schuld der Natur bezahlt, wollte Kai auf ihrem Sarg eingraben lassen. Er bedachte noch[224] rechtzeitig, daß es an dieser Stelle eine arge Unschicklichkeit gewesen wäre, und unterließ es deshalb.

Einige Tage nach der Beisetzung hatte Kai eine lange Unterredung mit seinem Generaldirektor, der sich mit seiner Treue und Klugheit und Besonnenheit gleichmäßig bewährte. Kai teilte ihm mit, daß er entschlossen sei, eine Reise um die Erde zu machen, von Hamburg nach Mittel- und Südamerika, nach China, Japan, Indien, von da über Kapstadt nach Hamburg zurück. Er würde sich dazu einen Dampfer irgend einer Linie mieten. Vor seiner Abfahrt wolle er sich eine Ozeandampfjacht bestellen: aus Eichen, Teakholz und Polisander auf Stülckens Werft in Hamburg, um später mit ihr seine Fahrten zu machen. Diese solle höchstens dreißig Einzelkajüten für seine Gäste haben. Wie lange seine erste Reise dauern werde, könne er jetzt noch nicht angeben; vielleicht ein bis zwei Jahre. Seine erste Fahrt wolle er ganz allein machen, nur von zwei Dienern begleitet. Er sagte müde lächelnd, er dürfe sich auch mal etwas von seinem Reichtum erlauben.

Der Generaldirektor schluckte zuerst ein wenig seine Verwunderung hinunter und bat, Kai morgen seine Ansichten auseinandersetzen zu dürfen. Nur um das eine bäte er jetzt schon: Kai möge doch wenigstens auf seinen langen Reisen, die er vorhabe, jährlich einige Monate, wenns auch nur einige Wochen wären, auf Tangbüttel zubringen, um alle die dann vorliegenden Angelegenheiten mündlich mit ihm zu besprechen. Das sagte ihm Kai zu. Als sich Schilting empfehlen wollte, bat Kai ihn, vom ersten Oktober dieses Jahres an[225] einen jährlichen Gehalt von zweihunderttausend Mark statt hundertzwanzigtausend Mark annehmen zu wollen. Er sei ihm dankbar und verpflichtet für alle Treue, die er ihm gezeigt, so daß seine Bitte nur als ein kleines Entgelt dafür angesehen werden könne. Zugleich wolle er die Gehälter der Herren Schwensen und Linke verdreifachen vom ersten Oktober an; zum Dank für die harte Pflichterfüllung ihres schwierigen und schwerverantwortlichen Amtes.

Alles wurde nun geregelt. Am Ende des Sommers fuhr Kai mit dem Dampfer Rauenfels, unter Führung des altbewährten Kapitäns Oskar Kämpe ab. Als Reisebegleiter hatte er nur die Bibel, viel von Goethe und den ganzen Shakespeare mit an Bord genommen. Außer den zwei Dienern folgten ihm in die Ferne der würdige, vernünftige Bernhardinerhund Säntis und der kluge Pudel Piks.

Der erste Besuch galt Ripen in Jütland.

Hinaus in den Ozean!

Quelle:
Detlev von Liliencron: Leben und Lüge, in: Sämtliche Werke, Band 15, Berlin [o. J.], S. 199-226.
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