Ein wenig aus der Dichterei

[263] Kai hatte sich bis in sein Alter die vornehme Gewohnheit bewahrt, früh aufzustehn und früh zu Bett zu gehn. Auch heut, am schönsten Frühlingstag, ritt er um fünf Uhr in den hellen Morgen hinein. Sein Ziel war, wie in der letzten Zeit immer öfter, die einsame Henstedter Haide. Da half er den paar armen, ganz vereinzelt wohnenden Kätnern. Die waren es froh. Immer besser ging es ihnen. Wenn sie wieder einen Haidestrich urbar gemacht hatten, gab Kai ihnen[263] jedes Mal ein Fest. Das nahe bei der Alsterquelle gelegene Gewese wollte Kai kaufen, um hier jährlich, in gänzlicher Abgeschlossenheit von allem, ein paar Tage allein zu leben. Selbst Postsachen sollten ihm nicht nachgebracht werden. Er wurde von Jahr zu Jahr menschenscheuer.

Diese Kate, mit ihren finstern Bäumen herum, hatte Christian Reimers gehört. Von hier aus hatte Wiebke Blunck ihr todgeborenes Kindchen in stummer Sternennacht in die Alsterquelle gelegt, um später, nach den merkwürdigsten Schicksalswegen auf der höchsten Flutwelle der großen Staatsumwälzung in Paris als Vive Blanc mit der Prinzessin von Lamballe in der Tür des Gerichtssaales ermordet zu werden. Ihr Kopf auf der Pike, als der Kopf der Prinzessin von Lamballe, war in die offenstehenden niedrigen Fenster des Tempels hineingehalten worden, damit die Königliche Familie ihn küsse. Plötzlich ging ihm auch der Name Mauthersdorf aus Steiermark durch seine Erinnerung: Schloß Cochem an der Mosel, Wiebke Blunck und der junge Graf auf der Burg. Welch ein rätselhaftes Zusammentreffen! Er fing an, die Stirn zu senken ... Aber frei und klar hob er sie wieder und ritt weiter in die Haide hinein. Der Gedanke wuchs in ihm: hierher zu ziehen, um mit dem Spaten in der Hand selbst sein Haideland, und wär es das kümmerlichste Fleckchen, zu Brotland zu machen. Er sann und sann: ob das nicht dennoch das Erstrebenswerteste im Leben sei.

Um ihn her entfaltete sich, auch auf diesem abgelegenen Teilchen der Erde, die hohe Freude des Frühlings[264] mit ihrem ganzen stürmischen Getümmel, ihrer ganzen Seligkeit.

In der Ferne sah er einen ihm bekannten Bauern. Er sah, wie ers mit ihm in den letzten Tagen besprochen hatte, daß er in mühsam gepflügten Boden Buchweizen säte. Sonst gediehen nur kärglich Roggen und Rüben, Hafer und Kartoffeln in der magern Haide. Er sah, wie er immer mit derselben Handbewegung den Samen der Erde gab. Unermüdlich ging der Säer seinen Weg, hin und zurück. Es war der erste Versuch, in die dürre Krume diese Saat auszustreuen. Endlich hielt Kai vor dem scheinbar menschenleeren Gewese. Einige hundert Schritte davon lag die Alsterquelle.

Auf dem Rückweg ritt er zu einem Stück Land, auf dem er eine Buschinsel angelegt hatte. Alles ohne forstwissenschaftliche Anordnung. Wild durcheinander. Sie sollte den Vögeln dienen, um hier in Ruhe, so gut das die Natur erlaubt, ihre Nester zu bauen. Und er hatte seine kindliche Freude dran, als er viel Lock- und Hochzeitsgezwitscher daraus hörte. Er kannte, als Vogelkundiger, die Stimmchen der verschiedenen Arten, die ihm aus dem Busch herausklangen. Er sah das neugierige Rotkehlchen und hörte sogar den Schlag der Nachtigall, die sonst wahrlich nicht die Haide aufsucht. Auch den flinken, drolligen Zaunkönig entdeckte er hier.

Auf dem Nachhauseweg kam er durch Hecken und Knicks, die ihm wieder die Nähe der gehegten und gepflegten Bebauung zeigten. Dicht vorm Park, wenn er von Wilstedt herlenkte, hielt er jedesmal an, um[265] eine aus dem Knick herausgewachsene, unbeschreiblich schöne Doppelbuche immer von neuem zu bewundern und sich ihrer zu freuen.

Als er am Ende der Haide war, drehte er noch einmal sein Pferd zurück und legte ihm die Zügel auf Sattel und Widerrist.


Tiefeinsamkeit, es schlingt um deine Pforte

Die Erika das rote Band;

Von Menschen leer, was braucht es noch der Worte,

Sei mir gegrüßt, du stilles Land.


Auf seinem Zimmer eingetroffen, fand er den gewöhnlichen Haufen Bücher und sonstige Postsachen vor, die ihm stets ein Grausen waren. Gottseidank erhielt er jeden Morgen so viel, daß es ihm längst zur Unmöglichkeit geworden war, die Bücher alle zu lesen oder auch nur einzusehn und die übrige Post ganz zu beantworten. Die Grenze der Unmöglichkeit kann kein Mensch überspringen.

Der alte Schilting, der nun wirklich der alte genannt werden konnte, denn er hatte sein siebzigstes Lebensjahr um geraume Zeit überschritten, hatte tatsächlich Mittel und Wege gefunden, daß Kai nach wie vor geschützt war gegen die vierhundert, fünfhundert Briefe, die täglich an ihn einliefen mit ihren Bitten um Geld, Bürgschaft, kurz, um die ewige Münze des menschlichen Lebens. Freilich mußten Verwechselungen vorkommen, aber im allgemeinen gelang doch eine ziemlich sichre Trennung. Nur einmal am Tage, des Morgens, ließ sich Kai die Post nach Tangbüttel holen.[266] Der Postreiter war längst abgeschafft; ein Kraftwagen brachte sie in den letzten Jahren.

Kai hatte sich gestern einige Aufzeichnungen gemacht für einen Aufsatz über die Wandlungen in der Literatur seit fünfundzwanzig Jahren. Diese Wandlungen hatte er selbst miterlebt. Er wollte sich in einer Abhandlung, so gut es ging, klar darüber werden. Zuerst schrieb er, gewissermaßen als Einleitung, einige Goethische Aussprüche nieder:

Ein gutes Kunstwerk kann und wird zwar moralische Folgen haben, aber moralische Zwecke vom Künstler fordern, heißt ihm sein Handwerk verderben.

Und so schnurrt denn durch die ganze, halbwahre Philisterleierkastenmelodie, daß die Kunst die Moralgesetze anerkennen und sich ihnen unterordnen soll. Das erste hat sie immer getan und muß sie tun; täte sie das zweite, so wäre sie verloren, und es wäre besser, man hinge ihr einen Mühlstein um den Hals und ertränkte sie, als daß man sie langsam durch das Nützlich-Flache krepieren ließe.

Was der Künstler nicht geliebt hat, nicht liebt, soll er nicht schildern, kann er nicht schildern. Ihr findet Rubensens Weiber zu fleischig? Ich sage euch, es waren seine Weiber! Und hätt er Himmel und Hölle, Luft, Erd und Meer mit Idealen bevölkert ... es wäre ein kräftiges Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein geworden.

Vom Dilettantismus sagt Goethe:

Alles Vorliebnehmen zerstört die Kunst, und der Dilettantismus führt Nachsicht und Gunst ein. Er[267] bringt diejenigen Künstler, die dem Dilettantismus näher stehen, auf Unkosten der echten Künstler in Ansehn. Der Dilettantismus befördert das Gleichgültige, Halbe und Charakterlose, und deshalb ist der Schade bei ihm immer größer als der Nutzen.

Kai schrieb weiter:

Wohin sind die Zeiten, als ich gleichsam wie ein Wütender dichtete:


Der Genius in Flammen.

Kühner, Glühender, Schrecklicher!

Dringt in den Schwarm ein dein Schwert,

Stürzen, wie Kinder

An die Schürzen ihrer Mütter,

Die Philister in den Tempel

Und schreien:

Der Teufel kommt!


Kühner, Glühender, Schrecklicher!

Laß mich bekränzen dein Schwert.

Reit ich, ein Lehnsmann,

Im Gefolge dir, lärm ich laut,

Schwing ich freudig deine Farben,

Und rufe:

Sanct Jürgen kommt!


Kai fand einen Merkzettel, den er zu Ende der achtziger Jahre geschrieben hatte:

Eine der schwersten Peinigungen mehr oder minder aller Menschen ist die unbefriedigte und verletzte, oft tödlich verletzte Eigenliebe. Ich glaube, daß in erster Linie die Künstler darunter zu leiden haben. Sie sollten sich, wie überhaupt fürs ganze übrige Leben,[268] unempfindlich dagegen machen, wenigstens so gut es geht. Nubecula est, transibit.

Ich hatte die Absicht, mich entmannen zu lassen damit es mir dadurch endlich gelänge, in die Familienblätter zu kommen. Können wir unsre Geschichten und Verse und Skataufgaben, Rätsel und Rösselsprünge dort unterbringen, sind wir gerettet. Außerdem seh ich keinen Ausweg mehr. Und doch: die Rettung ist da! Sie hat schon seit fünf, sechs Jahren begonnen, ausgegangen von einigen wenigen tapfern Männern.

Wir sind mitten im Sieg, jetzt schon mitten drin. Die Zukunft wird ihn krönen. Immerhin noch »sachte mit die jungen Pferde,« wie mein Unteroffizier zu sagen pflegte. Dieser Sieg ist erst der »kleinen Gemeinde« bekannt. Das »Volk«, ob Fürst, ob Bettler, weiß von dem neuen Aufstieg der Dichtung in Deutschland noch nichts. Es liest nur die Bilderbücher, die Werke der Ausländer, die Bücher der Modeschriftsteller und die, die ihm vom Leihbibliothekar und in den Buchhandlungen in die Hand gesteckt werden. Aber wie mir geschrieben wird, ist schon in einigen großen Städten der Umschwung zu bemerken: Die kleine Gemeinde vergrößert sich.

Doch es ist heute ein zu schöner Frühlingstag, als daß ich mich länger mit Literatur beschäftigen könnte. Ich will meinen Braunen Höger rup satteln lassen und an die Elbe reiten. Schon bin ich im Sattel. Ich halte bei Blankenese an. Hier erweitert sich der Strom, und hier spür ich jedesmal den ersten wilden Kraftgeruch der Nordsee. Mein Pferd bläht[269] die Nüstern, und ich sperre das Maul auf; wir ziehen gierig die strenge, herbe Frische ein. Es kommt mir ein Lustgefühl: Ich stelle mich in die Bügel und werfe meine Mütze hoch, und ich rufe ein Hurra dem Siege der neuen deutschen Dichtung. Alles flitzt und blitzt und leuchtet um mich her: Das ist die Zukunft.

Als Kai diesen etwas wüsten Ausruf gelesen hatte, schleuderte er den Unsinn lachend in den Papierkorb.

Von seinen eignen dichterischen Erzeugnissen hielt Kai nicht viel; er war der Meinung, daß sie, das meiste wenigstens, mit seinem Tode vergehen würden. Nur von einer Dichtung, die jetzt noch kaum recht verstanden sei, glaubte er, daß sie die Zukunft ertragen könne: von seinem Buch Krötenkrieg, dem kunterbunten Epos in neunundzwanzig Kantussen. Hierin, meinte er, müßte man die Ironie des Lebens erkennen, und eine spätere Zeit würde manches darin finden, was die damalige erlebt habe: Die philiströse Erbärmlichkeit des Alltagstreibens, die soziale, moralische und religiöse Heuchelei, die feige Bekrittelung aller starken Triebe, den trotzdem unhemmbaren Flug der persönlichen Phantasie, die unausrottbare Freude am natürlichen Dasein, an den Abenteuern der Liebe, des Krieges und des Weltverkehrs, vor allem aber den unumschränkten Humor des ganz auf sich selbst gestellten Weltmanns, der zu jeder Gemeinheit des menschlichen Schicksals schließlich doch immer sagt: Je m'en fiche! Deswegen, glaubte er, würde man Poggfred einst als ein Wahrzeichen tapferer Ironie anerkennen.[270]

Nur von einem einzigen Dichter seiner Zeit war Kai ohne einen Zweifel überzeugt, daß er in die Jahrhunderte hineingehen würde: von Richard Dehmel. Kai schrieb folgendes über ihn in sein Tagebuch:

Wenn ein Dichter wie Richard Dehmel, auch als Mensch ein stolzer, liebenswerter, feiner, wahrer, starker Charakter, unablässig mißverstanden und mißdeutet, von seinen Feinden immer wieder angegriffen wird – nun, das ist wahrlich der beste Leumund, den ein Künstler bei Lebzeiten haben kann. Denn dann wird und darf und muß er sich sagen: Ich bin ein Künstler von steter Entwicklungskraft. Nur das Übliche wird sofort verstanden.

Man hat Richard Dehmel vorgeworfen, daß er zu viel in sein Dichten »hineingrüble«. Welch ein törichter Vorwurf! Seine Schöpfungen beweisen das Gegenteil: er dichtet immer nur aus dem Gefühlserlebnis heraus. Wenn man ihm einen Vorwurf machen wollte, so wäre es der, daß er manchmal zu klug ist, in einem Teil seiner Lyrik nämlich. Ein Lyriker darf nicht »zu klug« sein. Aber wie kann man einem Dichter, dessen Wesen durchaus nicht bloß lyrisch ist, eine hohe geistige Eigenschaft als etwas nicht für seine Kunst günstiges anrechnen, wenn diese Eigenschaft (die Klugheit) eine der besten aller Lebensäußerungen bedeutet?

Jeder Künstler, jeder Schöpfer ist ein Geheimnis. In Dehmel findet sich das immerwährend fesselnde Rätsel: bei einem grenzenlosen Freiheitsdrang jenes unbedingte Pflichtgefühl, wie man es vorbildlich am altpreußischen[271] Staatsbeamten antrifft. Aber ist das nicht eine köstliche Mitgabe ins Leben hinein?

Richard Dehmel ist frei; er gehört keiner Partei an, welcher Richtung es auch sei. Er ist sich selbst genug; aber er kennt seine Gebundenheit ins Ganze. Und das macht ihn zum großen Dichter und zum großen Menschen. Sein Mitgefühl ist ebenso stark wie sein Selbstgefühl. Nur der scheele Dünkel ist ihm verhaßt; und deshalb hält er sich die Macher und Streber, die Maulhelden und Musterknaben, mit unwillkürlicher Verachtung fern. Er ist der treuste Freund, wo er wirklich vertraut, und er bleibt auch als Feind ein grader Gegner. Mit keinem habe ich so herzlich lachen können wie mit ihm. Seine Kunst ist Gestaltung der Menschlichkeit.

Quelle:
Detlev von Liliencron: Leben und Lüge, in: Sämtliche Werke, Band 15, Berlin [o. J.], S. 263-272.
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