Nach vielen Jahren

[229] Kai war seit sieben Jahren verheiratet. Seine kleine fünfjährige Tochter hieß Heilwig. Zu Anfang der neunziger Jahre hatte er auf seiner letzten Reise nach Ceylon an Bord des Ozeandampfers die Familie eines Gesandten kennen gelernt, der auf dem Wege nach dem Osten war. Er verlobte sich mit einer der drei mitfahrenden Töchter und heiratete sie ein Jahr später. Das war nun seine Herrin auf Tangbüttel.

Er hatte diese Reise, nachdem er fast zwei Jahrzehnte nicht mehr das Weltmeer gesehen, wie in großer Sehnsucht gemacht: um noch einmal Ceylon zu besuchen. In den fünf, sechs Jahren, die auf seine erste große Ausfahrt achtzehnhundertzweiundsiebzig folgten, war er immer unterwegs gewesen von Erdteil zu Erdteil, rastlos. Auf seinem eigenen Ozeandampfer. Auf allen seinen Ausflügen, nur auf dem ersten nicht, hatte er geladne Gäste bei sich. Vor allem Klaus Klünder und Henning Smalstede. Diesen allerdings nur zweimal, weil Henning nicht so langen Urlaub nehmen konnte wegen seiner Dienstverhältnisse.

Endlich war er der ewigen Hin- und Herkreuzerei müde geworden. Doch hatte er sein Schiff behalten und stellte es viele Jahre lang Freunden und Bekannten zur Verfügung, bis auch dies Schiff den Weg allen alten Eisens gegangen war. Er selbst blieb von da an auf seinem Schloß Tangbüttel, nur noch Europa[229] bereisend. In Paris gehörte ihm sein ererbtes Palais im Faubourg St. Honoré. In Wien und London, in Berlin und Prag hatte er, wie die Franzosen es zierlich und bezeichnend nennen, sein pied-à-terre. Das deutsche Wort dafür: Absteigestätte oder Absteigestelle ist keine gute Übersetzung und klingt plump. In jedem Jahr hielt er sich wochenlang in seinen drei Lieblingsstädten auf: in Palermo, Prag und Ripen. In Ripen stets einen Monat nach Weihnachten. In diesem Monat sah er auch jedesmal seine jütländische Baronie.

Tangbüttel hatte er, abgesehen von einigen Ausbesserungsarbeiten, keinen Neuerungen unterzogen, weder im Schloß noch im Park. Nur auf dem großen Rasen vor dem Herrenhause, der noch immer von den kleinen Sandsteinfiguren, die er aus alter Anhänglichkeit stehen gelassen hatte, umstellt war, stand nun in der Mitte eine mächtige marmorne Schale, die von zwei kleineren, sich verjüngenden Becken überragt wurde. Diesen antiken Brunnen hatte er mit außerordentlichen Kosten und nach vielen Bemühungen und Weiterungen bei den italienischen Behörden mitgebracht. Er behauptete, daß Conrad Ferdinand Meyer ihn als Vorbild gebraucht habe für sein Gedicht: Der römische Brunnen:


Auf steigt der Strahl und fallend gießt

Er voll der Marmorschale Rund,

Die, sich verschleiernd, überfließt

In einer zweiten Schale Grund.


Die zweite gibt, sie wird zu reich,

Der dritten wallend ihre Flut.

Und jede nimmt und gibt zugleich

Und strömt und ruht.
[230]

Der Brunnen war von so ausgedehnten Verhältnissen, daß er zu der großen Rasenfläche paßte. Jeden Sommer plätscherte er Tag für Tag. Durch die warmen Nächte erzählte er der nordischen Stille von seinen italienischen Erlebnissen, was um ihn geschehen, wer um ihn gestanden sei und gelagert habe.

Mit seiner kleinen Familie lebte Kai glücklich. Die Gräfin war eine sanfte, kluge Frau, die seinem Herde Frieden und Ruhe gab. Henning und Klaus waren jahraus, jahrein wochenlang seine Gäste. Sein Generaldirektor, der Enewold den Vermehrer und Kai den Erhalter des unermeßlichen Vermögens nannte, stand heut wie gestern seiner Stelle mit größter Treue und Umsicht vor.

Seine gesellschaftlichen Pflichten und Verpflichtungen in der Provinz und in Hamburg erfüllte Kai gewissenhaft. Erscholl früher aus seinem gastfreien Hause Fröhlichkeit und lustiger Lärm, so gab er später seine großen Mittagessen bei Pfordte in Hamburg, um seinen Gästen die lange Hin- und Zurückfahrt nach und von Tangbüttel zu ersparen.

Immer blieb es dieselbe Stunde in Tangbüttel: Um sechs Uhr wurde zu Tisch gegangen, ob er allein oder mit seiner Frau oder mit Besuch aß. Und immer, wie es stets gewesen, in Frack und Lack. Daran hielt er unverbrüchlich fest. Nach wie vor ging er um neun Uhr zur Ruhe und stand um halb fünf Uhr auf.

Allmählich waren ihm Gesellschaften, Konzert und Theater zur Last geworden. Er wurde mit den Jahren einsamer und einsamer. Ein einsamer Mensch war er durch sein ganzes Leben geblieben. Hatte er auch ehemals,[231] namentlich in seiner frischen Leutnantszeit, getobt und sein Leben genossen – mehr und mehr zog er sich zurück und lebte in seinen Zimmern.

Die russischen Güter und spanischen Erzgruben waren nach endlosen Verhandlungen verkauft worden. Er hatte, weil er es des unabänderlichen Vermächtnisses wegen mußte, seine dänische Baronie Lillehammer und Mariagerhuus in Jütland behalten. Sein Gütchen La Dorette in der Provence und sein Stadthaus in Paris waren ihm nur als dänischem Grafen geblieben. Er hatte viele Umständlichkeiten deshalb durchmachen müssen. Einen Deutschen wollten die Franzosen durchaus nicht in ihrem Lande haben, besonders nicht in der ersten Zeit nach dem Kriege.

Seine sonderbaren, wenn man es drollig nennen will: Beziehungen zum Aldebaran waren noch dieselben wie früher. Er hatte den roten Stern zum erstenmal im Stormarnschen Landstädtchen Ahrensburg, in der Nähe von Tangbüttel, durch das große Fernglas von Doktor Flögel, dem dort wohnenden berühmten Astronomen, gesehn. Die namhaften Sternwarten der Erde kennen den bescheidenen Gelehrten und stehn mit ihm in Verbindung. Naturforscher aller Länder besuchen ihn mit Scharen von Schülern, um seinen Vorträgen zu lauschen.

Er erinnerte sich eines Besuches, wo ihm der Doktor die Krätzmilbe des Fuchses gezeigt und dabei lächelnd gesagt hatte: Jaja, Cäsar und die Krätzmilbe. Durchaus derselbe Saft und Grundstoff.

Als er zum erstenmal im Riesenfernglas den Aldebaran sah, brach er, wie geblendet, aufs höchste erregt,[232] sofort ohnmächtig vorm Rohr zusammen. Mit einer solchen glitzernden, herrischen Herrlichkeit hatte der Stern ihn angeblitzt. Als er sich wieder besonnen hatte und ihn nun mit ruhigen Augen beobachtete, sah er auch den sogenannten Begleiter des Aldebarans; der sehr selten nur, in klarsten Nächten, zu sehn ist. Durch sein ganzes späteres Leben trug Kai das Bild mit sich: unter dem Aldebaran, handbreit, schimmerte dieser kleine Stern. Es kam ihm vor, als wenn er das Blatt eines sonst unsichtbaren Pendels gewesen sei: einer über ihm (dem Sternchen) hängenden stillstehenden Uhr, dem Aldebaran.

Damals hatte er die ganze folgende Nacht nicht schlafen können: mit der größten Sehnsucht dachte er immer an seinen Stern und wollte zu ihm hinauf. Alle Menschen und irdischen Dinge waren ihm tief zuwider in dieser Nacht. Doch am andern Morgen beruhigte er sich und ging frisch und mutig wieder in den Tag hinein, dem er nicht feige entrinnen wollte.

Jeden Winter wohl, aber nur wenn Schnee lag und im hellen Sternenschein, kam er ein- oder zweimal in den Garten hinterm Schloß, um auf den Stern zuzugehen. Er drang nie über die Rasenfläche hinaus. Nach hundert Schritten kniete er nieder und sah mit schmerzlichen, sehnsüchtigen Augen in den Stern. Die Dienerschaft hatte ihn zuweilen beobachtet, aber keiner wagte es, ihn zurückzuhalten. Auch die Gräfin, als sie von dieser merkwürdigen Sucht ihres Mannes durch andre verständigt worden war, suchte ihm nicht entgegenzuwirken. Immer nur von seinem[233] Arbeitszimmer aus geschahen diese Seltsamkeiten. Wenn er eine Minute gekniet hatte, sprang er schauernd auf und ging eilends, wie beschämt, ins Herrenhaus zurück. Waren die Türen verschlossen, machte er sie ruhig auf, wie im wachen Zustand; stets trug er die Schlüssel, die klein und fein gearbeitet waren, bei sich. Nach wie vor erzählte er keinem Menschen, selbst seiner Frau und Klaus und Henning nicht, von diesen Abweichungen seines gewöhnlichen täglichen Lebens. Er schien sich selbst dieser Regelwidrigkeit nicht recht bewußt zu sein. Sonst dachte er nüchtern und klar, wenn er auch ein Stück Romantik, das er vorsichtig in sich verbarg, mit sich herum trug. Alles, was Okkultismus, Spiritismus, Geisterseherei, Gesundbeterei oder wie immer genannt wurde, mit denen sich seine Zeit stark beschäftigte, nannte er derb: Schwindel. Ihm mußten diese Dinge zuwider sein.

Von seinen langjährigen Reisen hatte er zwei Errungenschaften mitgebracht. Viele Vorurteile waren von ihm abgefallen, und er hatte gesehen, daß alle, wilde oder gesittete Völker, gleich seien in ihren Tugenden und Lastern, daß es überall »gute und böse« Menschen gäbe, daß, wenn auch Erziehung, Umgebung und Gewohnheit vieles übertünchen, immer wieder die Grundeigenschaften, mit denen wir geboren werden, durchdringen und bis zur Sterbestunde nicht von uns lassen.

Seine Richtschnur waren Kaiser und Reich, das Vaterland. Davon wich er niemals fingerbreit ab.

An die Lösung der vielen unendlich wichtigen Fragen seiner Zeit, an alle die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen[234] Rätsel, die mehr und mehr in seinen Lebenstagen in den Vordergrund traten, hat er mit seinem starken Herzen, so gut er folgen konnte, teilgenommen.

Seine Gedanken über den Begriff Wohltätigkeit hatten sich im Laufe der Jahre anders gestaltet. Er wußte, und wußte es freudig, daß er mit seinem ungeheuern Vermögen der Erde und ihren Geschöpfen einfach verpflichtet war. Wie er diesen Verpflichtungen nachzukommen habe, das lag nur an und in ihm. Durch Schiltings sichere Verwaltung hatte sich sein Reichtum erhalten. Er sowohl wie Kai waren zu achtsam und besonnen, um sich in kühne Unternehmungen einzulassen, die vielleicht das Vermögen hätten verdoppeln, verzehnfachen, oder es hätten vernichten können. Um solche Unternehmungen zu wagen, dazu fehlte ihm der große kaufmännisch-schöpferische Geist Enewolds.

Kai galt nach wie vor in der Provinz und in Hamburg für geizig. Das hatte nun mal Schilting getan: weil er immer die vielen, vielen Anbettelungen jeder Art und aus jedem Stande an Kais Geld sorgsam prüfte und gewisse Summen nicht überstieg. Dadurch fanden sich die meisten enttäuscht und nannten Kai einen Harpagon. Denn alle diese Bittsteller, wie viele andere Menschen, hatten nicht den leisesten Begriff davon, was für Ansprüche von allen Seiten jahraus, jahrein, Tag für Tag, an ein großes Vermögen gestellt werden. Sie alle hielten sich, wie in einer dumpfen Meinung vermummt, für die einzigen, die ihren Gesuchen Geltung zu verschaffen glaubten. Und waren deshalb verwundert und erbost, wenn sie[235] abschlägig beschieden oder nur mit einem Bruchteil des gewünschten Geldes bedacht wurden, der ihnen nicht viel helfen konnte. In den meisten Fällen bekamen sie überhaupt keine Antwort. Weshalb? Weil es in der Unmöglichkeit lag. Ultra posse nemo obligatur.

Keiner wußte, welche freigebige Hand Kai zeigte, oder besser: nicht zeigte, denn bei allen seinen Schenkungen mußten ihm die Beschenkten einen Schein ausstellen, worin sie sich mit ihrem Wort verpflichteten, niemand und niemals davon zu erzählen oder zu schreiben. Er hatte sich mit der Zeit einen eigenen Wohltätigkeitsplan gemacht. Er gab einzelnen Menschen, namentlich Künstlern und Dichtern, wenn sie es bedurften, große Summen, damit sie reisen und sich ausbilden konnten. Merkwürdigerweise scheinen in Deutschland die Dichter nicht zu den Künstlern gerechnet zu werden, denn stets wird gesagt und geschrieben: Künstler und Dichter. Kai glaubte, er leiste damit bessere Hilfe, als daß er an die zahlreichen Wohltätigkeitsvereine sein Geld gäbe. Auf jegliche Art Dank hatte er von Haus aus verzichtet. Dadurch blieb ihm manche Verdrießlichkeit erspart.

Als er in der ersten Zeit, er stand in der Mitte seiner dreißiger Lebensjahre, von einer seiner überseeischen Fahrten auf kurze Wochen nach Tangbüttel zurückgekehrt war und Bilder von seinen alten Kameraden in die Hand nahm, schrieb er mit tiefer Bewegung einen Vers auf die Rückseite eines dieser Bilder. Von dem Augenblick an schrieb er oft, wie gezwungen, seinen Schmerz und seine Freude in Vers und Prosa.

Was mochte ihn so spät zum Dichter gemacht[236] haben? Er wußte es nicht und konnte es nicht sagen und enträtseln. Vielleicht trug eins dazu bei: sein steter Ärger über so manches deutsche Gedichtbuch, worin er nur laue und schwach ausgedrückte Gefühle gefunden hatte. Nichts von Natur, von echter Qual und echter Lust war drin. Außer Goethe, den er auf allen seinen Reisen mit sich geführt hatte und den er fast auswendig wußte, kannte er von den neueren nur Storm und Mörike, später Conrad Ferdinand Meyer und Keller. Von seinen Schleswig-Holsteinischen Landsleuten Klaus Groth. Und unsere beiden großen Dramatiker Kleist und Hebbel.

Diese Dichter, vor allen Goethe, las er immer und immer wieder. In den frühen und frühsten Morgenstunden fand er, wenn er sich nicht in Wald und Flur erging oder seine Pferde rührte, jene köstlichen, reichen Stunden, sich in seine Dichter zu vertiefen.

Ehrgeiz und Eitelkeit fehlten ihm ganz und gar. Ehrgeiz und Eitelkeit, wenn sie übermächtig werden, töten jede andere Äußerung des Lebens. Fehlen sie aber gänzlich wie bei Kai, reizen sie zu nichts, tritt manche Freude, mancher tüchtiger Wille nicht in Erscheinung.

Gegen alle Anthologieen, namentlich in seiner Zeit, empfand er einen heftigen Widerwillen. Die süßlichen Namen, wie Blüten und Blätter, Perlen im Tau und zahlreiche ähnliche, ekelten ihn an. Auch fand er meistens nur Gedichte darin, die aller Kraft und Natürlichkeit entbehrten. Es lag wie eine Furcht in allen diesen »Blumenlesen«, daß sie ja nicht die abscheuliche Zimperlichkeit[237] der Deutschen verletzen könnten. Da versenkte er sich in die paar großen Lyriker und in Kleist und Hebbel.

Ebenso konnte er nicht an gegen die Vorleser. Denn er hörte immer nur dieselben Gedichte; wahrscheinlich Gedichte, die diesen Vorlesern am besten lagen, Prunkstücke, mit denen sie die größte Wirkung zu erzielen wußten. Sowohl in den Anthologieen wie bei den Vorlesern schienen ihm grade die schlechtesten Gedichte ausgewählt zu sein. So mochte es in ihm gären und gegärt haben, trotzig die Stirn zu zeigen, damit sich die Dichtkunst wieder zu ihren alten Ehren emporsiegen könne. Deshalb kehrte er sich auch nicht daran, als seine Gedichte von allen Seiten stark angegriffen wurden. Er war sich bewußt, daß später von ihm nichts bleiben würde, außer dem einen, daß er den Dichtern in seinem Vaterlande wieder Mut gemacht habe, sich zu besinnen, Frische und Ursprünglichkeit zu zeigen, sich wieder auf sich selbst zu stellen.


* * *


Im Anfang des Jahres neunzehnhundert wurde Kai ein Sohn geboren, den er Wittekopp nannte. Allerdings konnte er ihm diesen Namen erst geben, als er sich nach seines Söhnchens Geburt überzeugt, daß das Kindchen nicht seine schwarzen Haare und seine schwarzen Augen, sondern die weißblonden Haare und blauen Augen seiner Mutter mitgebracht hatte.

Der Mann ist von der Natur zur Vielweiberei geboren. Dennoch ist es für jeden Mann und jede[238] Frau das größte, vielleicht das einzige Erdenglück, wenn sie, eins im andern, unausgesetzt einträchtig miteinander leben können. Eine solche Ehe führten Kai und seine Frau. Des Lebens grobe Schläge und Anschläge, rohe Angriffe und fortwährende Peinigungen hielten sie tapfer zusammen aus.

Seine Mildtätigkeit blieb dieselbe.

Wenn er auch mehr als früher gab für das öffentliche Wohl. War die Not da, so blieben ihm stets die Nebenumstände gleichgültig. Er gab. Sei es für eine arme, verlassene, unter Andersgläubigen wurzelnde Kirche, sei es für ein Heim zum Mutterschutz oder für Mütter, die unehelich gebären mußten, sei es für eine abgebrannte oder vom Sturm zerstörte Seiltänzerbude, – niemals fragte er nach Moral oder Religion und nach all den tausend Wenn und Aber, mit denen wir uns erst plagen, wenn wir irgend eine nützliche Einrichtung für unsere Nächsten treffen wollen; er gab. Er gab: sei es an einen verarmten Fürsten, sei es an den ärmsten Bettler, den er verfroren auf der Landstraße fand. Er gab und gab, so lang er es seiner Familie gegenüber verantworten konnte. Wenn er für manches Gutestun manche Unannehmlichkeit erntete, bald dachte er nicht mehr dran und gab weiter, als wäre nichts geschehn.

Während seiner ersten fünf, sechs Ozeanjahre, wie er sie nannte, war er immer, jedes Jahr, einige Wochen oder Monate auf Tangbüttel gewesen. Nur einmal war er fast zwei Jahre weggeblieben, ohne sich auf seinem Schlosse zu zeigen. Keiner, außer Schilting[239] wußte damals, wo er sich aufhielt. Einige wollten ihn in London gesehen haben und behaupteten, daß er mit einer Engländerin verheiratet sei und eine Villa in Bayswater oder am Hyde Park besitze und bewohne. Andere wollten ihm in diesen beiden Jahren in Wien und Bukarest begegnet sein. Er selbst wußte es aber doch am besten, wo er diese Zeit gewesen war.

Kurz vor seiner Hochzeit entnahm er seinem Schreibtisch ein Paketchen, auf dem der Name Lady Esther stand. Er öffnete es: ein Bildchen, das er sich auf Elfenbein hatte malen lassen, trotzdem die Elfenbeinmalerei längst vorbei war, griff er heraus und besah es lange, lange. Dann löste er aus dem Paketchen Briefe und Aufzeichnungen, las sie und verbarg sie wieder, küßte das Päckchen, steckte es in die Flammen und verbrannte alles. Er stierte minutenlang auf die erlöschenden Funken. Das, was er eben vernichtet hatte, war teilweise wie aus einem Räuberroman gewesen: ein solches Durcheinander: Schüsse klangen und Messer blitzten, Flucht und Verborgenheit auf Schiffen und in fremden Ländern. Zum Schluß knarrte der Tod mit seiner Jahrmarktsrassel heran.

Lady Esther. Kai hatte in Kanada einen hohen Staatsbeamten und seine Frau kennen gelernt, die ihn auf ihr Schloß in Schottland einluden. Die Lady, aus einem englischen Herzogshaus, war wohl dreißig Jahre jünger als der Lord. Er: ein bartloser, strengdreinschauender, ernster Mann, den nur seine Regierungsobliegenheiten anzugehen schienen. Sie: ein zartes, blasses Geschöpfchen mit dem Haupt einer[240] Künstlerin, der die schwarzen kurzen Haare um die Stirn fielen.

Gleich in der ersten Nacht im Castle in Schottland trat, wie ein Gespenst, die Lady in Kais Zimmer ein und flehte ihn an, mit ihr zu fliehen; sie könne nicht mehr mit ihrem Manne zusammenleben. Die Flucht. Auf Kais Schiff, das in Hull lag. Nach Hamburg. Gleich wieder weiter. Als sie bei Blankenese vorbeifuhren, kam mit einemmale aus einem Versteck an Deck der Lord zum Vorschein. Er schoß unverzüglich auf seine Frau und Kai, die er beide verfehlte, und erschoß sich dann vor ihren Augen. Darüber ein maßloses Aufsehen in England und auf dem Festland. Zwei Jahre der Verborgenheit in Frankreich, in Siebenbürgen, wo viel liebe deutsche Menschen wohnen, zuletzt in Bukarest, der heißesten Stadt Europas, auf der Schwelle des Orients, wo die Lady im Hôtel an einem glühenden Tage in den Armen Kais starb, während unter ihrem Fenster die unzähligen Ausrufer und Warenanbieter, wie in einem Chaos durcheinander schreiend und lärmend, vorbeigingen.

Das alles hatte Kai eben noch einmal durchgelebt, als er die Aufzeichnungen las. Das Feuer hatte sie gefressen. Vorüber. Wie ein gespenstischer Schattenzug war alles verflüchtigt. Wie ein Bild war es gewesen, das auf einer weißen Wand schnell, mit schwachen Umrissen, mit kaum erkennbaren Farben, hingemalt wird, um ebenso schnell zu verlöschen.

Nach dieser Zeit war er einsamer geworden, wenn er es nicht schon immer gewesen war.[241]

In der Umgegend Tangbüttels kannte er und kannten ihn alle Menschen. Zuweilen war er, in früheren Zeiten, im Wirtshaus Pukaff oder in Opendör (Zur offnen Tür) oder in de Luus (Laus) oder in Trillup (Treidel auf) oder in de Schäfe Kachel (Schiefen Kachel). Gern gab er einen aus, wie es in seiner Heimat heißt. Es machte ihm immer ein Vergnügen, wenn er Freude und Heiterkeit unter den Gästen verbreiten konnte. Wohl war er gewarnt worden und hatte sich selbst gewarnt: vorsichtig zu sein. Denn im Wirtszimmer saßen zuweilen Leute, die er nicht kannte, die aber von ihm und seinem Reichtum wußten. Richtig: einmal, als er seinen Wagen nach Tangbüttel geschickt hatte, um an dem schönen Sommerabend zurückzugehen, waren ihm zwei Gauner nachgeschlichen. Es wäre um ihn geschehen gewesen, wenn er nicht durch die beiden Zigeuner Asiaticus und Silesius beschirmt worden wäre in dem Augenblick, als die Mörder ihn überfallen und berauben wollten. Weiß der Himmel, woher die beiden just in dieser Stunde gekommen waren.

Kai war vor kurzem Ehrenritter des Ordens des Heiligen Johannes vom Gebet zu Jerusalem geworden. Er hatte für die edel-menschlichen und nützlichen Ziele dieser Gemeinschaft viel getan.

Je älter er wurde, je einsamer und scheuer hielt er sich zurück. Wenn er Gesellschaften geben oder besuchen mußte – das verdammte ewige Rücksichtnehmenmüssen, eins der größten Leiden des menschlichen Lebens, begleitet uns, bis wir die Augen schließen – ersehnte[242] er mit jeder Faser die Stunde der Befreiung. Wurde auf ihn eine Tischrede gehalten, so war ihm das das denkbar unangenehmste. Während dieser Rede zwang er sich, mit aller Macht, an alles andere auf Erden zu denken, statt auf die mehr oder weniger schönen Sätze des Sprechers zu hören.

Er ging gleichsam wieder in sein Kindesalter zurück: versteckte sich vor den Leuten und lief vor ihnen weg. Seine sehr gute Menschenkenntnis wurde dadurch gelähmt, daß er sie nicht auszunutzen verstand, wohl zum Teil aus der zu großen Gutmütigkeit seines Herzens.

Der Drache Tod, der fort und fort das arme Lämmlein des Lebens überfällt, flößte ihm keine Angst ein.

Sein Wahlspruch hieß: Nubicula est, transibit. (Ein Wölkchen nur, es wird vorüberziehn). Das war ihm das liebste Wort seines Lebens.

Die Sonne befiehlt, und was sie befiehlt, geschieht auf Erden. Dem beugte er sich und wäre am liebsten Sonnenanbeter geworden.

Seine größte Freude blieb ihm bis ins Alter treu: Allein durchs Land zu reiten oder zu gehen, zu jeder Jahres- und Tageszeit. Nach wie vor war die Naturgeschichte der Vögel sein Steckenpferd: er kannte sie alle, große und kleine. Oft dachte er dabei an seinen ersten Lehrer, an den greisen Wallmeister. Dem hatte er auf seinem Grabe in der kleinen Festung ein Steinbild gesetzt nach seinem Entwurf; da stand der alte Herr in Lebensgröße. Die rechte Hand mit dem Daumen im Koppel trug ein schweres Schlüsselbund[243] und auf seiner erhobenen Linken saß, wie dem Falkner der Falke, ein Vögelchen.

Durch alle Jahre hindurch blieb das oft erneute Zelt im Knick bei der Mühle. Von dort aus sah er, wohl gar in der Luft, den anrückenden Feind und versenkte sich in Schlachtenbilder, seiner alten Kriegskameraden gedenkend.

Dahin er am liebsten sein Pferd lenkte oder zu Fuß ging, das waren die endlose Haide und die Moore von Henstedt, wo die Alsterquelle liegt. Hier kannte er die wenigen Besitzer, die dort vereinzelt auf ihren kleinen Stellen in der vor aller Welt verborgensten Abgeschiedenheit wohnten. Da half er, ließ ihnen allerlei gute Gaben hinbringen, schenkte diesen paar abseits wohnenden Kätnern mit Freuden, begleitete ihren Fleiß und freute sich mit ihnen, wenn sie sich ein Kornfeldchen aus Haide und Moor erobert und erarbeitet hatten. In irgend einem dieser abgelegnen Häuser schlief er auch von Zeit zu Zeit, im Winter und im Sommer, um den Sonnenaufgang in seiner Pracht und Herrlichkeit auf der Ebne zu erleben. Diesen armen, ruhigen, nichts vom Dasein als eine gute Ernte wünschenden Bauern traute er; hier fühlte er sich sicher. Wenn er sein ihm vom Schicksal beschiedenes Leben hätte austauschen können, hier hätte er Spaten und Pflug in die Hand genommen, um sich mühselig durch den Tag zu helfen, durch seine eigene Kraft, durch seinen Fleiß und Schweiß.

An diese geringe Landschaft wurde er erinnert durch ein Sendschreiben, das er in der Urkundensammlung[244] Tangbüttels vor einigen Tagen unversehens gefunden hatte. Diese Bekanntmachung, mit ihren verschnörkelten Rokoko-Buchstaben, trug die Benennung: Communiqué.

Quelle:
Detlev von Liliencron: Leben und Lüge, in: Sämtliche Werke, Band 15, Berlin [o. J.], S. 229-245.
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