6.

[113] (Einsamer Baum.)


Funkelt dort die Säulenfronte,

Ueberdacht von einer Pinie?

Einsam, fern am Horizonte,

Fern am Deich, der blassen Linie,

Steht ein Bäumchen, krank und ruppig,

Ohne Blätter, ohne Nest,

Schwarz vom Seesalz, kraus und struppig,

Arg zerzaust vom ewigen West.


Einmal ist er grün geworden,

Als ein heißes Land im Süden

Sandte seinen Gruß nach Norden,

Kuß und Trost dem Lebensmüden.

Einmal blühten seine Zweige,

Einmal zog ein Cymbelzug,

Als in roter Sonnenneige

Dort ein Herz am andern schlug.


Leise kam die Flut gezogen,

Trümmer hob sie von den Watten,

Dunkle Halligwerften trogen,

Todesfeuchte Kasematten.

Durch die Luft, wie müde Greise,

Schleppt ein weiß Gewölke sich,

Abgemattet von der Reise,

Marsch aus fremdem Himmelstrich.
[114]

Bleicher Stern im Wolkenspalte,

Wild phantastische Gebilde,

Menschen, nordisch nüchtern kalte,

Odins Schwert und Asenschilde.

Hohe Flut, gelispellose,

Spielt heraus zu Deich und Baum.

Meine blasse Küstenrose

Lehnt an mir, ein süßer Traum.


Nun von meinem Fenster seh' ich

Oft den Baum mit toten Zweigen.

Unter seinen Ästen steh' ich

Oft im tiefen Winterschweigen.

Oft, ich halt' des Hutes Krempe,

Freut mich dort der Wetterstreit,

Singt der Sturm, der rasche Kämpe,

Grenzenloser Einsamkeit.

Quelle:
Detlev von Liliencron: Adjudantenritte und andere Gedichte, Leipzig 1883, S. 113-115.
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