Zwölftes Capitel.

Die Flucht.

[700] Ohne weitere Zwischenfälle verstrich der Tag; die beiden Wärter wurden durch einen einzelnen abgelöst, und erst gegen Abend übernahmen wieder zwei Leute die Wache, die bereits mehrere Nächte bei mir zugebracht hatten.

Dieselben hatten indeß nie eine Ahnung in mir erweckt, daß sie vielleicht um meine beabsichtigte Befreiung wüßten oder gar zur Betheiligung an derselben auserloren gewesen wären. Ich benahm mich daher mit unverminderter Vorsicht; nur hin und wieder richtete ich Fragen über gleichgültige Gegenstände an sie, und dann auch mehr, um meine Unruhe und Spannung zu besiegen, als daß ich das Bedürfniß gefühlt hätte zu sprechen. Um acht Uhr erklärte ich endlich, daß ich eine unüberwindliche Müdigkeit empfinde und zu schlafen wünsche; nachdem ich meine Wärter gebeten, mich auf keinen Fall zu stören und, wenn ich auch bis zum hellen Tage schlafen sollte, mich nicht mit Arzneien zu quälen, was außerdem noch gegen die Vorschrift des Arztes sei, drehte ich mich auf die Seite, und gleich darauf athmete ich so tief und regelmäßig, als ob ich den jüngsten Tag habe verschlafen wollen.

Eine Viertelstunde verraun in tiefem Schweig Die Wärter dehnten und reckten sich auf ihren knarrenden Stühlen; offenbar langweilten sie sich, aber erst nachdem der Schließer seinen gewöhnlichen Abendbesuch gemacht, sich von meiner Sicherheit überzeugt und ihnen die größte Wachsamkeit anempfohlen hatte, fiel ihnen ein, sich durch ein Gespräch die Zeit zu verkürzen.

»Es ist doch ganz anders, wenn reicher Leute Kinder bestraft werden, als wenn unsereins in's Gefängniß gesteckt wird,« begann der Eine, der mir zu Häupten faß, mit etwas gedehnter Stimme.[700]

»Wie so?« fragte der Andere ebenso gedehnt.

»Hm, mit einem Lumpen, der nicht ein paar Kreuzer zuzusetzen hat, würden sie wahrhaftig nicht so viel Umstände machen und ihn hier wie einen vornehmen Herrn bedienen lassen.«

»Mir ganz gleichgültig, so lange ich keinen Profit von seiner Vornehmheit habe.«

»Ich habe meinen Profit schon davon gehabt,« versetzte der Erste wieder, indem er meine Decke etwas zurückschob und mich prüfend betrachtete; »aber schlafe Du und der Teufel, ich glaube ein Kanonenschuß wurde ihn nicht wecken; wir werden eine ruhige Nacht haben.«

»Profit?« fragte der zu meinen Füßen Sitzende. »Ja, Profit, sieh nur her, diesen blanken Thaler hat mir ein fremder Herr geschenkt, mit der Bitte, den jungen Mann recht sorgfältig zu pflegen.«

»Wovon mir von Rechtswegen die Hälfte gebührt.«

»Hahaha! wäre ich doch ein Narr, wollte ich mit Dir theilen! Aber tröste Dick, Du sollst nicht ganz leer ausgehen, und schaffst Du nur etwas zu trinken herbei, so wollen wir eine lustige Nacht feiern.«

»Wenn Du das Geld dazu hergiebst, wird sich das Andere schon finden.«

Nach dieser Einleitung flüsterten und lachten die beiden Gefährten eine Weile; ich vernahm das Klingen von kleinen Geldmünzen, und nachdem sie mir, um sich von der Festigkeit meines Schlafes zu überzeugen, das Licht ganz dicht vor die Augen gehalten, entfernte sich der Eine auf den Zehenspitzen.

Die Thür knarrte leise, ich hörte, daß der sich Entfernende, bevor er die Thür hinter sich zuzog, mit dem auf der Vorflur patrouillirenden Wachtposten murmelnd einige Worte wechselte, und dann war Alles still.

Nach zehn Minuten trat der Bote wieder ebenso leise ein, und ich errieth aus dem Geräusch, daß er eine gefüllte Flasche lustig in der Luft schwenkte. Gleich darauf knirschte der Pfropfen, und nach einem herzlichen: »Profit Bruder« ertönte das eigenthümliche Gurgeln, mit welchem von dem Inhalt der Flasche in eine durstige Kehle hinabrieselte.

»Ha, das thut wohl,« sagte der Trinker sodann, die Flasche dem Gefährten darreichend, »möchten wir unfern Patienten noch recht lange zu bewachen haben.«

»Du hast wohl schon unterwegs getrunken, denn das ist doch nicht für einen halben Gulden?« grollte der neben meinem Bett sitzende Wärter.

»Für einen halben Gulden, nicht mehr und nicht weniger, habe nur die Qualität geprüft und dann dem Posten ans der Straße und dem auf der Hausflur n'en Schluck gegeben.«

»Um so besser,« versetzte der Andere, nachdem er einen mäßigen Zug aus der Flasche gethan, »haben sie mitgetrunken, werden sie sich hüten, uns zu verrathen, und der da?« fuhr er lachend fort und, wie ich vermuthete, auf meine regungslose Gestalt weisend, »der da? schlafe Du und der Teufel!«

»Bis an den jüngsten Tag und möge die Flasche nie leer werden,« ergänzte der zweite Wärter, sich seinerseits wieder durch einen gehörigen Trunk stärkend.

Die beiden Freunde rückten nunmehr dichter zusammen; der Genuß des Branntweins, oder vielmehr[701] vorläufig erst der Geschmack desselben hatte sie gesprächiger gemacht, und indem die Flasche munter zwischen ihnen hin und her wanderte, führten sie eine so heitere, harmlose Unterhaltung, wie in einer Krankenstube, in welcher der Genuß einer Pfeife Tabak auf's Strengste untersagt ist, nur immer möglich.

Sie sprachen vom Wetter und von ihren Frauen, die, nach ihren Aeußerungen zu schließen, nicht zu den friedfertigsten Naturen gehörten; sie sprachen von der Güte des Branntweins und in wie hohem Grade derselbe dem herben Wein vorzuziehen sei. Auch erwähnten sie, daß die Zeiten recht schwer und der Verdienst geringe, daß sie wohl reich sein möchten, um sich von ihren Ehehälften scheiden zu lassen und dann ein so recht lustiges Leben führen zu können. Doch welcher Art die Betrachtungen, die sie anstellten, auch immer sein mochten, sie kamen stets darauf zurück, daß der Branntwein eine vorzügliche Erfindung sei und nicht wenig zur irdischen Glückseligkeit der Männerwelt beitrage.

Ich lag unterdessen schwer athmend und mit geschlossenen Augen da. Das Blut pulsirte mir in den Schläfen und Ohren, wie das Rauschen und Brausen rasch aufeinander gegen das Ufer brandender Wellen. Der Schweiß perlte mir von der Stirn, die Zunge klebte mir am Gaumen, und besorgt lauschte ich aus das Benehmen der beiden Trinker, die mir gerade nicht die rechten Persönlichkeiten zu sein schienen, einen Fluchtversuch zu begünstigen,

»Wenn es nicht die rechten wären?« fragte ich mich mit wachsender Angst; »wenn Alles schon entdeckt wäre!« marterte ich mich weiter, und nur schwer beruhigte ich mich dadurch einigermaßen wieder, daß ich mir das zutrauenerweckende Benehmen des Arztes und seine ermuthigenden Worte in's Gedächtniß zurückrief.

So verrann eine Stunde und noch eine, und die Uhr schlug zehn, als die beiden Zecher noch immer gemüthlich bei einander saßen. Aber ihre Stimmen waren lebhaft geworden und in geräuschvollerer Weise sprachen sie ihren Unmuth über das schnelle Leerwerden der Flasche aus.

Nach einigem Hin- und Herrechnen kamen sie endlich überein, das zweite Drittel des Thalers, der doch so leicht verdient war, zu vertrinken, und abermals brach derselbe, der die erste Flasche hatte füllen lassen, auf, um noch schnell, eh' die Läden geschlossen wurden, eine neue Auflage zu erstehen.

Er ging, jedoch nicht mehr leise und auf den Zehenspitzen, sondern hart auftretend und sich an Stühlen und Wänden stützend.

Auf der Hausflur wurde er mit schadenfrohem aber unterdrücktem Gelächter empfangen, doch ließ man ihn ungehindert passiren, wahrscheinlich weil man errieth, zu welchem Zwecke er nach der Straße hinausschwankte.

Noch unbeholfener und schwerfälliger, als er gegangen war, kehrte er zurück. Es war ersichtlich, daß er sich mit Mühe aufrecht erhielt und nur noch ein geringes Maaß des berauschenden Trankes dazu gehörte, ihn vollständig zu betäuben. Sein Gefährte schien ihm kaum noch etwas nachzugeben, und eine für mich weniger ergötzliche Unterhaltung ist kaum denkbar, als die beiden Menschen führten, indem sie sich gegenseitig zum Trinken nöthigten.[702]

Meine Person und den Zweck, zu welchem sie sich bei mir befanden, hatten sie vergessen; sie tranken und tranken, bis sie zuletzt nicht mehr konnten und der Mann, der den Branntwein herbeigeschafft hatte, zuerst auf seinem Stuhl laut zu schnarchen begann und demnächst polternd auf die Erde sank, wo er sich lang ausstreckte und ruhig weiter schlief.

Der Anblick seines betäubten Gefährten schien den ersten Wärter wieder etwas zu ernüchtern und an die Strafe zu erinnern, die seiner als des Anstifters im Entdeckungsfalle harrte. Ich schloß es wenigstens daraus, daß er leise zur Thür schlich, dieselbe öffnete und die Schildwache herbeirief.

»Da liegt das unmäßige Vieh,« sagte er trotz seiner Trunkenheit in unverkennbar besorgnißvollem Tone, »da liegt er, und wenn ich meinen Posten verliere, ist es seine Schuld.«

»Könnt Ihr ihn nicht heimlich fortschaffen und hinterher melden, er sei krank geworden?« fragte der Soldat lachend.

»Ja, wollt Ihr ihn vielleicht nach seiner Wohnung tragen?« lautete die Gegenfrage.

»Ich nicht,« lachte der Soldat wieder.

»Wenn er nur auf der Straße wäre, möchte meinetwegen aus ihm werden, was da wolle. Aber hört, Freund, Ihr könnt mich retten; wir lassen ihn nämlich eine Stunde schlafen, – denn vor Mitternacht ist keine Gefahr, daß der Patient erwacht, – und dann suche ich ihn so weit zu ermuntern, daß ich ihn wenigstens aus der Thür bringe. Es bleibt Euch dann weiter nichts zu thun übrig, als ihn, im Falle er sich verlaufen sollte, etwas in den rechten Weg hineinzustoßen, so daß er die Hausthür nicht verfehlt.«

Der Soldat gab lachend seine Zustimmung, bat sich als Belohnung für feine Dienste im Voraus einen wärmenden Trunk aus, der ihm auch bereitwillig verabreicht wurde, worauf er langsam davonschritt.

Der Wärter schloß die Thür und lauschte eine Weile. Als das Geräusch des sich entfernenden Soldaten endlich auf dem andern Ende der Flur verhallte, schob er den Riegel des Schlosses vor und hastig aber leise trat er zu mir an's Lager.

»Herr Wandel,« flüsterte er mir dringend zu und zwar mit dem Ausdruck eines vollkommen nüchternen Menschen.

Blitzschnell richtete ich mich empor, den Wärter fragend anstarrend.

»Schnell, schnell,« fuhr dieser dringend fort, »wir haben keine Minute Zeit zu verlieren; stehen Sie auf und helfen Sie mir.«

»Aber ich bin ja ohne Kleider,« bemerkte ich, von einem jähen Schrecken befallen.

»Richtig, damit Sie nicht entlaufen sollen; aber warum zögern Sie? Vollen Sie mich und sich selbst in's Unglück stürzen? Hier, fassen Sie an; Sie brauchen nicht zart mit ihm umzugehen; er hat nicht mehr Gefühl, als der Pfosten Ihres Bettes.«

So sprechend lichtete er den betrunkenen Wächter auf, und indem ich nach besten Kräften Beistand leistete, gelang es uns, wenn auch nicht ohne Mühe, ihn zu entkleiden. Aber ebenso schnell, wie wir ein Stück von seinen schlaffen Gliedern streiften, zog ich dasselbe an, und kaum zehn Minuten waren nach unserm ersten Beginnen verronnen, da lag der Trunkenbold[703] sorgfältig zugedeckt in dem Bett, während ich noch Dieses und Jenes an dem mir ziemlich passenden, aber unbequemen Anzug ordnete.

»So weit wären wir fertig,« sagte der Wärter, mich zufrieden von allen Seiten musternd, »aber nun Haare und Bart; setzen Sie sich und halten Sie eine Minute still.«

Mit klopfendem Herzen und vor Aufregung keines Wortes mächtig setzte ich mich auf den nächsten Stuhl nieder, der Wärter trat hinter mich, eine Scheere knirschte nach allen Richtungen über meinen Kopf hin, und bald darauf lagen meine braunen, verwirrten Locken auf einem über das Bett ausgebreiteten Taschentuch.

»Sie müssen die ganze Geschickte mitnehmen,« sagte er, indem er auch meinen Bart, so gut es eben gehen wollte, abschor und zu dem Haupthaar warf; »hier dienen sie nur als Mittel, Ihnen auf die Spur zu kommen. Schade, daß lein Spiegel bei der Hand ist, Sie würden sich selbst kaum wiedererkennen; Jesus. Maria Joseph! wie ist es möglich, daß der Mensch sich so verändern kann!«

Dergleichen Bemerkungen vor sich hinmurmelnd, beeilte sich der brave Mann, die auf den Fußboden gefallenen Haare zu entfernen, und nachdem er sodann das meine Locken enthaltende Bündel in die Brusttasche meiner weiten wollenen Jacke geschoben und eine alte, gerade nicht sehr einladende Mütze tief über meinen Kopf gezogen, erklärte er, daß ich nunmehr zur Flucht fertig sei.

»Noch haben wir eine Viertelstunde Zeit,« sagte er, auf das Schlagen der Thurmuhren lauschend, »Sie dürfen ebenso wenig zu früh, wie zu spät von hier aufbrechen; aber hören Sie, sind Sie jemals in Ihrem Leben betrunken gewesen? Ich meine, was man so recht ordentlich betrunken nennt?«

»Das dürfte ich gerade nicht behaupten, doch bezweifle ich nicht, daß ich einen schwer Betrunkenen sehr täuschend nachahmen kann.«

»Das meine ich eben, das sollen Sie auch nur – aber Maria Joseph! was ist das?« fragte er plötzlich erbleichend, indem er nach der Thür hinlauschte.

Sein Schlecken theilte sich mir augenblicklich mit, und ein ohnmachtähnliches Wehgefühl ergriff mich, als ich auf der Hausflur die Tritte von mehreren Männern vernahm, die sich langsam der Thür näherten und vor derselben stehen blieben.

»Also nur ein Kranker?« fragte eine befehlende Stimme.

»Der wachhabende Offizier,« flüsterte der Wärter bebend, und Todesangst prägte sich auf seinen Zügen aus.

»Nur einer, und der schläft,« lautete die Antwort der Schildwache.

»So wollen wir ihn nicht weiter stören,« hieß es, und ich glaubte vom Rande des Grabes zurückgerissen zu sein, als Schritte und Stimmen, nach einer erneuerten Warnung, scharfe Wache zu halten, sich entfernten.

Meine Besorgniß begann wieder zu schwinden, aber noch hatten wir es nicht gewagt, miteinander zu sprechen, da klopfte es leise an die Thür.

»Legen Sie sich genau so hin, wie mein Kamerad[704] gelegen hat,« rieth der Wärter und zugleich ergriff er eine Decke, »um sie nachlässig über mich hinzuwerfen, worauf er laut fluchend nach der Thür hintaumelte, den Riegel zurückschob und öffnete.«

»Was ist los?« fragte er rauh und mit dem Benehmen eines Berauschten.

»Dankt Eurem Schöpfer, daß es mir gelang, die Ronde von Euch fern zu halten,« antwortete der Wachposten vertraulich. »Und was nun?«

»Na, ich denke der Dienst, den ich Euch leistete, wäre wohl einen Trunk werth.«

»Bei allen Teufeln, den sollt Ihr haben,« entgegnete der Wärter, schwankenden Schrittes die Flasche herbeiholend und sie mit unsichern Bewegungen dem Soldaten einhändigend.

Er hatte die Thür weit aufgelassen, so daß der Soldat mich sehen konnte.

»Der ist gut,« bemerkte dieser, indem er mit der entkorkten Flasche auf mich wies.

»Hol ihn der Teufel,« grollte mein Freund schluchzend.

»Aber auch Ihr scheint etwas schief geladen zu haben,« fuhr der Soldat spöttisch fort; »übrigens will ich Euch den guten Rath ertheilen, Eurem Kameraden recht bald auf die Strümpfe zu helfen, wenn er überhaupt während meiner Wache fort soll. Noch eine halbe Stunde und ich werde abgelöst.«

»Ja ja ja,« antwortete der Wärter, die Thür hinter dem Davonschreitenden zudrückend.

Bei diesem Geräusch sprang ich empor, aber bevor ich noch eine Frage an meinen Freund richtete, zog dieser mich neben sich auf den Rand der Bettstelle. Nachdem er mich noch einmal dringend zur größten Vorsicht ermahnt, bezeichnete er mir nicht nur aufs Genaueste den einzuschlagenden Weg, sondern er schrieb mir auch ebenso genau das den mir etwa begegnenden Leuten gegenüber zu beobachtende Verfahren vor. Sobald er mich dann hinlänglich instruirt und auf alle Fälle vorbereitet glaubte, begleitete er mich noch bis an die Thür.

»Möge Gottes und aller Heiligen Segen Sie begleiten,« sagte er mitleidig, »ich hoffe das Glück wird Ihnen günstig sein; ein junges Blut, wie Sie, paßt schlecht in die Gefängnißräume.«

Tief ergriffen preßte ich die Hand meines Retters, meinen Dank aber wies er zurück.

»Mir gebührt lein Dank,« versetzte er ausweichend, »ich werde für meine Dienstleistung hoch bezahlt; denn hätte ich auch Neigung verspürt, Ihnen zu helfen, mir allein wäre es nicht möglich gewesen, und ohne für meine Zukunft einigermaßen sicher gestellt zu sein, durfte ich es nicht darauf ankommen lassen, für grobe Versehen im Dienst meines Postens enthoben zu werden.«

Noch wollte ich fragen, von wem meine Befreiung ausginge, da öffnete er schon die Thür, und mit einem leise geflüsterten: »Gott geleite Sie,« gab er mir einen Stoß, daß ich wohl fünf Schritte weit in den vor mir liegenden Gang hineintaumelte.

Der Weg, den ich zu verfolgen hatte, war nur spärlich erleuchtet, dabei aber breit und bequem. Eingedenk meiner Aufgabe, stellte ich mich aber, als ob für mich daselbst die undurchdringlichste Finsterniß[705] herrsche und meine Füße bei jedem Schritt an ein schwer zu besiegendes Hinderniß stießen. Bald aus der einen, bald auf der andern Seite mich an den Wanden hintastend, aber jederzeit die Augen unter der tief über die Stirne gezogenen Nütze offen, gelangte ich langsam weiter. Da bei jeder Biegung des Ganges eine düstere Laterne brannte, so wurde mir das Auffinden des mir so genau bezeichneten Weges erleichtert, und nur einmal, als ich über einen kleinen dunkeln Hof kam, war ich zweifelhaft, in welche der gegenüberliegenden, stets von selbst wieder zufallenden Thüren ich einzutreten habe.

Aber gerade hier in der Dunkelheit war es, wo mir die bekannte und zufällig in der Nähe befindliche Schildwache Hülfe leistete. Mit einem schadenfrohen Lachen mich im Genick fassend, stieß der Mann mich nämlich mit solcher Gewalt gegen die rechte Thür, daß ich mit derselben in's Haus hineinflog und auf der andern Seite zu Boden stürzte.

»Immer geradeaus!« rief er mir zu, »immer gerade aus der Nase nach. Hahaha! so'n Vergnügen! Bin Viehtreiber geworden! Warte, Freundchen, Mutter wird Dir den Kopf so lange waschen, bis Dir vor Verwunderung die Augen übergehen, Hahaha!«

Was ich empfand, als der durch den Genuß des Branntweins aufgeheiterte Soldat in den düsteren Gängen seine brutalen Scherze gelegentlich mit einem nicht allzu fünften Stoß begleitete und mich gleichsam der Hausthür zutrieb, vermag keine Feder zu schildern. Doch bei aller Scham und aller Furcht vor einer Entdeckung, vergaß ich keinen Augenblick, der übernommenen Rolle treu zu bleiben. Den Kragen meiner Jacke zog ich mir, wie fröstelnd, bis über die Ohren hinauf, und indem ich die wenig ehrenvolle Behandlung ohne zu murren hinnahm, taumelte und stolperte ich meines Weges, vorsichtig darauf achtend, daß ich nicht in den vollen Schein der matt brennenden Laternen gelangte.

Endlich lag die Hausthür vor mir. Auf der Straße war es dunkel, denn die beiden nächsten Laternen vermochten in der nebeligen Atmosphäre leine große Helligkeit zu verbreiten. Gereichte mir dies zum Trost, so erfüllte es mich auf der andern Seite wieder mit wahrem Entsetzen, eine Schildwache zu bemerken, die mit geschulterter Muskete kaum zwei Schritte weit vom Hause gerade mitten vor der offenen Doppelthür stand.

Meine Lage wurde nämlich dadurch besonders gefährlich, daß der Posten auf der Straße, wenn er sich nach mir umwendete, sehr leicht einen Blick auf mein Gesicht erhaschen konnte. War derjenige aber, dessen Stelle ich vertrat, ihm nicht ganz fremd, was kaum anzunehmen war, indem er doch aus dessen Flasche getrunken hatte, so mußte ich befürchten, noch auf der Schwelle der Freiheit entdeckt und augenblicklich in meinen Kerker zurückgebracht zu werden.

Während ich langsam taumelnd mich der Thür näherte, fuhren diese Gedanken mir mit Blitzesschnelligkeit im Kopfe herum. In meiner Verzweiflung dachte ich schon daran, im Fall einer Entdeckung hinauszustürzen und der Schnelligkeit meiner Füße zu vertrauen, was mich indessen schwerlich vor dem Verderben bewahrt hätte, indem ich in den Straßen vollständig fremd war, als der Posten, der mir nachfolgte,[706] in seiner unbesiegbaren Neigung, sich über einen Betrunkenen zu belustigen, mich abermals rettete.

In demselben Augenblick nämlich, in welchem sein Kamerad auf der Straße sich umlehrte, setzte der Mann hinter mir, den Kolben seiner Muskete zwischen meine Schulterblätter, und mich dann vor sich herschiebend, rief er jenem lachend zu, sich nicht überfahren zu lassen.

Letzterer ging auf den Scherz ein, um so mehr, als er in mir den einen Wärter zu erkennen glaubte, und ebenfalls in ein unterdrücktes Lachen ausbrechend, trat er bis fast an sein Schilderhaus heran.

Ich mußte jetzt dicht bei ihm vorüber, und mehr einem unbestimmten Instinkt, als einem überlegten Plane folgend, strauchelte ich, wie dem auf mich ausgeübten gewaltsamen Drucke nachgebend, und in der nächsten Sekunde lag ich stöhnend auf der Straße.

»Verdammt!« rief mein Retter wider Villen mir nach, »in seiner Haut möchte ich nicht stecken, wird wohl nicht ohne Strafe davonkommen!«

»Ist ihm gesund, warum macht er solche Streiche,« antwortete der andere Soldat; »willst Du ihm nicht auf die Beine helfen?«

»Oder ihn gar nach Hause begleiten!« rief der Erstere höhnisch, »laß ihn nur liegen, er wird sich schon selbst emporhelfen« –

Was die Beiden noch weiter sprachen, entging mir, denn aus Furcht, daß der Eine oder der Andere von ihnen sich dennoch menschenfreundlicher zeigen würde, als ich es wünschen konnte, raffte ich mich, anscheinend sehr mühsam empor, und bald nach der linken, bald nach der rechten Seite der Straße hinüberschießend, gelangte ich schnell aus dem Bereich ihrer Stimmen.

Ehe ich die nächste Straßenecke erreichte, begegnete mir die Ablösung. Es war also die höchste Zeit gewesen.

Ohne weiteren Unfall traf ich auf der mir durch den Wärter bezeichneten Stelle ein. Ein in einen Mantel gehüllter Mann erwartete mich daselbst.

»Sind Sie es?« fragte mich derselbe, sobald ich mich ihm gegenüber befand.

»Doktor, ich bin frei!« war das Einzige, was ich hervorzubringen vermochte, indem ich ihm aus überströmendem Herzen beide Hände drückte.

»Ruhig, junger Mann,« entgegnete mein wohlwollender Freund, den ich sogleich an der Stimme erkannt hatte, jeden weiteren Ausdruck der Dankbarkeit von meiner Seite abschneidend; »noch dürfen Sie nicht triumphiren; folgen Sie mir in einiger Entfernung, die Straßen sind noch belebt,« und so sprechend, trennte er sich von mir, in die nächste Querstraße einbiegend.

Nachdem wir ungefähr eine Viertelstunde in dieser Weise fortgewandert waren, blieb mein Führer plötzlich vor einem großen und anscheinend sehr schönen Hause stehen, um mich zu erwarten. Sobald ich bei ihm eintraf, blickte er noch einmal scheu die Straße hinauf, hinunter, und dann schweigend meinen Arm ergreifend, zog er mich nach der Hausthür hin, die sich auf ein leises Klopfen mit dem Knopf seines Stockes geräuschlos öffnete. Wir schritten über eine dunkle, mit Decken belegte Hausflur und demnächst eine breite bequeme Treppe hinauf, auf deren oberster[707] Stufe wir von einer älteren Dame, der Gattin des Arztes, mit Licht empfangen wurden.

»Außer meiner Frau und meinem Sohne, der uns die Thür öffnete, weiß Niemand in diesem Hause um Ihre Anwesenheit und Ihre Flucht,« sagte der Arzt, nachdem er mir Zeit gelassen, der freundlichen Dame, die mich mit einem Ausdruck unaussprechlich trauriger Theilnahme betrachtete, statt jeder weitern Begrüßung die Hand zu küssen; »auch ich muß auf meiner Hut sein,« fuhr er fort, seiner voranleuchtenden Gattin nach dem Hinterhause hin nachfolgend, »und ebenso heimlich, wie Sie in mein Haus gekommen sind, müssen Sie dasselbe wieder verlassen. Bis dahin sind Sie selbstverständlich mein Gast, und ich stelle Ihnen nur die einzige Bedingung, deren genaue Beobachtung ich von Ihrer Ehre erwarte, nämlich nie nach Denjenigen zu forschen, welchen Sie Ihre Befreiung verdanken.«

»Es ist eine schwere Bedingung, nicht einmal den Namen meiner Wohlthäter wissen zu dürfen,« versetzte ich seufzend, indem ich mit meinen Gastfreunden in ein reich ausgestattetes Wohnzimmer trat. »Ich glaube es Ihnen,« versetzte der Arzt freundlich, »man muß sich indessen in das Unvermeidliche fügen; sprechen Sie daher nicht weiter von Dank. Dadurch, daß Sie der Kerkerhaft entrissen wurden, ist andern Leuten ein fast ebenso großer Dienst, wie Ihnen geleistet worden –«

»Mein Vormund vielleicht,« unterbrach ich den Arzt hastig.

»Fragen Sie nicht,« antwortete dieser mit milder Strenge, »hegen Sie Dankbarkeit, so viel Sie wollen und gegen die ganze Welt, aber verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen die einzelnen Persönlichkeiten noch besonders bezeichnen soll. Sie haben ausschließlich nur noch mit mir zu thun; sogar die Sie betreffenden Vormundschaftsangelegenheiten sind in meine Hände niedergelegt worden, so daß, nachdem sie mein Haus verlassen haben, Sie nirgends anzukehren oder Erkundigungen einzuziehen brauchen, wodurch jedenfalls für Sie wie für uns Alle neue Gefahren heraufbeschworen würden.«

Begierig, Näheres über die mir eröffnete Zukunft zu erfahren, stand ich im Begriff, neue Fragen an meinen Wohlthäter zu richten, doch wurde ich durch seine Gattin daran verhindert, indem dieselbe' uns bat, uns zu dem in einem Nebengemach bereit gehaltenen Mahl niederzusetzen. Wir folgten der Einladung, worauf die Dame des Hauses sich leise zurückzog, im Scheiden mir aber wieder einen ihrer mir unvergeßlichen mitleidigen Blicke zusendend. –

Bis zu den eisten Morgenstunden saß ich mit dem Arzt in seiner Arbeitsstube, vertieft in die ernstesten Gespräche; und als er mir dann ein kleines Kabinet dicht neben seinem Schlafgemach zu meinem vorläufigen Aufenthalt anwies, war ich vertraut mit Allem, was nur im Entferntesten Bezug auf die Fortsetzung meiner Flucht hatte.

Demnach war das Endziel derselben Amerika, und zwar sollte ich, ohne mich unterwegs aufzuhalten, nach Havre gehen, um mich daselbst einzuschiffen.

Ueber Johanna erfuhr ich keine Silbe; ebenso von meinem Vormunde nur, daß er die Vormundschaft dem Arzte übertragen und diesem anheimgestellt habe,[708] den Rest meines kleinen Vermögens zur Erleichterung meiner Lage im Gefängniß zu verwenden. Danach mußte ich annehmen, daß der Oberstlieutenant nichts von der beabsichtigten Flucht wisse.

Als Grund der Niederlegung der Vormundschaft hatte er angegeben, mit einem Hochverräther keine Gemeinschaft mehr haben zu wollen, wodurch mein edler Gastfreund sich wieder veranlaßt fühlte, meinen Besuch auf der Oberförstern nicht nur als gefährlich darzustellen, sondern mir auch zu rathen, den Gefühlen meines Vormundes, wenn auch nicht meinetwegen, so doch seinetwegen Rechnung zu tragen und ihn nicht noch tiefer niederzubeugen.

Um Johanna's willen bat er mich ebenfalls, nicht von der mir vorgeschriebenen Reiseroute abzuweichen; und raubte er mir auch nicht die letzte Hoffnung, so bezeichnete er doch jeden Gedanken an eine Vereinigung mit ihr in den nächsten zehn Jahren als thöricht und unstatthaft.

»Sie sind ein Mann,« sagte er mit Entschiedenheit aber freundlich, »und werden den Schicksalsschlag, welcher Sie so hart betroffen, zu tragen wissen. Die Nichte Ihres Vormundes dagegen ist eine hinfällige, zarte Natur. Bedenken Sie, wenn sie eben begonnen hätte ihre Seelenruhe einigermaßen wieder zu gewinnen, welche nachtheilige Wirkung könnte Ihr unverhofftes und plötzliches Erscheinen auf sie haben? Und daß Sie sich nicht anmelden dürfen, wenn Sie, bei dem ausgebreiteten Polizeiwesen, nicht sehr bald zurückgebracht werden wollen, versteht sich Wohl ganz von selbst. Ich spreche als Arzt, und als Arzt rathe ich Ihnen,« schloß er, »vermeiden Sie, sich auf der Oberförsterei im Siebengebirge zu zeigen. Später, und wenn Jahre darüber hingehen sollten, werden Sie einsehen, wie recht ich hatte. Um des Oberstlieutenants willen, um seiner Nichte, ja, um Ihrer selbst willen, befolgen Sie meinen Rath; bedenken Sie, daß nicht persönliche Vortheile mich, wie die meisten unserer Helfershelfer, bestimmten, Ihre Befreiung zu erwirken, sondern andere, tiefer liegende Gründe. Meine Bekanntschaft mit Ihnen hat am allerwenigsten dazu gedient, Reue über mein Thun in mir zu erwecken, im Gegentheil, mich in meinem Vorsatz, Ihnen Beistand zu leisten, bestärkt; gönnen sie mir daher das wohlthuende Bewußtsein, meine Mühe nicht nutzlos verschwendet zu haben, und ziehen Sie hin in Frieden, um sich eine neue Heimath zu begründen.«

Nach dieser Erklärung verließ er mich; seine Worte schienen ein Geheimniß zu enthalten. Daß der Oberstlieutenant mit seinem starren Sinn mich nicht wiederzusehen wünschte, befremdete mich nicht; aber daß es mir nicht vergönnt sein sollte, von Johanna Abschied zu nehmen, aus ihrem Munde zu erfahren, wer durch die schrecklichen Mittheilungen über ihre Eltern das nie zu sühnende Unrecht an ihr, an mir und meinem greisen Vormund begangen habe, das war mehr, als ich zu enträthseln, zu begreifen vermochte.

Unter dem Druck solcher Gefühle suchte ich mein Lager; die ununterbrochene geistige Spannung der letzten Tage hatte mich erschöpft, doch der Schlaf blieb mir fern; ob wachend oder träumend, überall und zu jeder Zeit trauerte ich um meine Jugend, um mein verlorenes Paradies. –

Vier Tage später, als die erste Aufregung über[709] die unerklärliche Flucht des gefährlichen Demagogen sich bereits etwas gelegt hatte und man mich an jedem andern Punkte der Erbe eher vermuthet hätte, als in Frankfurt's Mauern, wanderte ich am hellen Tage frei und offen durch das Eschenheimer Thor, um auf einem Umwege in die nach Mainz führende Straße zu gelangen.

Auf meinen kurz geschorenen Haaren ruhte ein verbogener, weißer Filzhut; ein olivenfarbiger, sehr verschossener und mit mancherlei Flicken geschmückter Jagdrock umschloß meinen Oberkörper, alte gelbe Nankingbeinkleider und ein Paar schiefgetretener Stiefel bildeten den übrigen Theil meines Anzuges. Auf meinem Rücken hing ein alter Ranzen, der im Innern etwas grobe Wäsche und einen nicht mehr ganz modischen Anzug barg, während auf seiner Außenseite, in Nebentäschchen und unter den Riemen, eine Kleiderbürste, eine Stiefelbürste, ein Paar gestickte Morgenschuhe und ein Reservepaar von Stiefeln angebracht waren.

In meinem linken Mundwinkel hing eine kurze Pfeife mit langen Quasten und zusammengekittetem Porzellankopf, auf welchem ein in Dolche und Pistolen förmlich eingehüllter Rinaldo sehr gemächlich in den etwas zu feuerroth gerathenen Armen seiner schielenden Rosa ruhte, die aber für die Mängel an den Augen von des Künstlers Hand durch einen so kleinen Mund entschädigt worden war, daß derselbe sich nur als ein rothes Pünktchen auszeichnete. Am rechten Handgelenk hing an einem zähen Riemen ein keulenartiger Stock, der in seiner Jugend durch das Einwachsen einer Ranke eine seltsame Schraubenform erhalten hatte, und von dem einzigen noch nicht ausgerissenen Knopfloch meines Jagdrockes baumelte an fettig glänzenden, einst grün gewesenen seidenen Schnürchen eine mit rauchbarem Taback wohlgefüllte Schweinsblase nieder.

Mein Bart war, bis auf ein Streifchen unterhalb der Ohren glatt abgeschoren, ein durch Höllenstein hergestelltes Muttermaal schmückte meinen rechten Nasenflügel, und zum Ueberfluß waren meine Hände durch ätzende Mittel so braun gefärbt worden, daß ich auf den allerschwierigsten und wählerischsten Gerbermeister, der um einen Gehülfen verlegen, den Eindruck eines fleißigen und sehr arbeitsamen Gesellen hätte machen müssen.

Wenn ich nun in meinem Aeußern das Urbild eines wandernden Handwerksburschen zeigte, so waren meine Taschen nicht minder vorsichtig mit allen Emblemen des edlen Gerbergewerkes versehen worden.

Ein abgegriffenes Wanderbuch, auf den schönen Namen Peter Herpenhof lautend, ragte zur Hälfte aus der äußern Brustlasche meines Jagdrockes hervor, wie um den auf Legitimationen abgerichteten Gensdarmen das gestrenge Ausfragen zu ersparen. Eine kalbslederne Börse mit ungefähr fünf Thalern in Pfennigen, Silbergroschen, vereinzelten Kreuzern und Fünfgroschenstücken blähte meine linke Westentasche auf, während eine große Schnupftabacksdose, deren präparirter Inhalt meine Geruchswerkzeuge in einer beständigen aber schmerzlosen, meine Mäßigkeit sehr in Frage stellenden Entzündung erhielt, das Ebenmaß und Gleichgewicht der andern Westentasche wieder einigermaßen herstellte.

Ich reiste also als Handwerksbursche, als Peter Herpenhof, als derselbe Peter Herpenhof, der im Hause meines edlen Wohlthäters, des Arztes, so lange bleiben sollte, bis ich ihm sein Wanderbuch und seine[710] Pfeife – das Geschenk einer untreuen Geliebten, – wieder zurückgesendet haben würde; denn auf den Ranzen, sammt seinem Inhalt, und auf seine Reisekleider hatte er sich gegen eine angemessene Summe willig finden lassen, allen ferneren Ansprüchen zu entsagen.

Er selbst war im Entdeckungsfalle ebenso straffällig, wie wir andern Beide, was am sichersten für seine Verschwiegenheit bürgte; ich durfte daher so ruhig und unbesorgt der Grenze meines Vaterlandes zuwandern, als ob ich wirklich in Nürnberg beim Meister Hildebrand gelernt, in vierzehn verschiedenen Städten als Gesell gearbeitet hätte und nunmehr im Begriff stände, mein Heil in Brüssel zu versuchen und mich dort von einem reichen Onkel zu den Anverwandten von dessen ehrsamer Ehehälfte nach Paris empfehlen zu lassen.

So trat ich meine Wanderung an, und wenn nur der hundertste Theil der Segenswünsche, welche der Arzt und seine Gattin mir mit auf den Weg gaben, in Erfüllung gegangen wäre, dann hätte binnen kurzer Frist der Friede in meine Seele zurückkehren müssen.

Die Segenswünsche nahm ich hin, als einen Beweis ihrer edlen, menschenfreundlichen Gesinnungen; einen tiefern Eindruck aber hatten die trauernden, mitleidvollen Blicke meiner Wohlthäterin auf mich ausgeübt, die mehr zu sagen schienen, als mir in Worten mitgetheilt wurde, und an den Ausdruck erinnerten, mit welchem man wohl einen zum Tode Verurtheilten zum Richtplatz führen sieht.

Außerdem, daß ich vollständig als Handwerksbursche ausgerüstet wurde, hatte mir der Arzt auch noch achthundert Thaler in Gold eingehändigt. Es war dies eine erheblich größere Summe, als ich zu empfangen erwartet hatte, zumal ich wußte, daß der Wärter, der mir zur Flucht verhalf, seines Postens enthoben worden war und daher verabredeter Maßen für seinen Verlust entschädigt werden mußte.

Das Gold trug ich in einem festen Gurt unter meinen Kleidern; es war die größte Summe, welche ich jemals in meinem Leben auf ein Mal besessen, und wer mich in dem dürftigen Aufzuge meiner Wege ziehen sah, der vermuthete gewiß nicht, daß der arme abgerissene Handwerksbursche sehr Wohl im Stande gewesen wäre, seine Reise mit Extrapost und Courierpferden fortzusetzen.

Doch welchen Reiz hatten jetzt noch blinkende Schätze für mich? Ich wanderte dahin, äußerlich das Bild eines leichtsinnigen, unordentlichen Gesellen, während ich innerlich mich zu verbluten meinte und zagend und erfüllt von den schwärzesten Ahnungen Johanna's gedachte.

Obgleich der Arzt mir bis zum letzten Augenblick dringend abgerathen hatte, meinen Weg durch das Siebengebirge zu nehmen, obgleich seine Gattin, während Thränen in ihren wohlwollenden Augen perlten, ihre Bitten mit denen des Doktors vereinigte und ich sogar versprochen hatte, ihre Rathschläge zu beherzigen, beschloß ich dennoch, Alles, selbst Freiheit und Leben daran zu wagen, noch einmal mit Johanna zusammenzutreffen. Ich mußte sie wiedersehen, und wenn mir auch weiter nichts vergönnnt sein sollte, als heimlich einen Blick auf ihr liebes, treues Antlitz zu erhaschen, und dann auf ewig von ihr zu scheiden.

Einestheils hoffte ich Alles von einer Zusammenkunft mit ihr, die mir so oft und so feierlich ewige Treue[711] gelobte, anderntheils hätte ich es nicht vermocht, mein Vaterland zu verlassen, ohne aus ihren Augen ihre Gemüthsstimmung herausgelesen zu haben. Mir auch in der Ferne ein wahres, ungeschminktes Bild von ihr entwerfen zu können, von ihr, die dereinst zu besitzen ich die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben hatte, war der tröstende Gedanke, der meine Schritte lenkte.

Und so wanderte ich denn dahin durch die herbstliche Landschaft dem Rhein zu und endlich an dem stolzen Strom hinunter. Die Sehnsucht trieb mich zur Eile, die Meilen schienen unter mir fort zu fliegen und wie ein wunderbar schönes Panorama glitten zu beiden Seiten die rebengeschmückten Ufer mit ihrem mittelalterlichen Schmuck an mir vorüber.

Mit jeder Strecke von wenig hundert Schrillen veränderte sich die Scenerie, hier den Charakter einer lieblichen Idylle annehmend, dort gleichsam in das graue sagenhafte Alterthum versetzend; doch was mich früher mit namenlosem Entzücken erfüllt hätte, das ließ mich jetzt kalt und theilnahmlos.

Das Laub der Reben und in den Waldungen war schon zum größten Theil gestorben und zum Abfallen bereit, die langen Ketten der Zugvögel wanderten dem wärmeren Süden zu. Allein der Anblick des allmäligen Entschlummerns der Natur war es nicht, was meinen Geist niederdrückte, nicht das Mißtrauen, mit welchem ich jeden mir Begegnenden betrachtete und nur in abgelegenen Schänken und Herbergen ein Obdach suchte, was mich blind für alles Schöne und Anmuthige machte. Meine unbesiegbare Schwermuth entsprang in meinem Herzen, in den trüben, schwarzen Ahnungen, die in demselben Maße, in welchem ich stromabwärts zog, den letzten schwachen Hoffnungsschimmer grausam erbleichten und endlich ganz verdrängten.

Wie war es anders früher, wenn ich der Oberförsterei zuwanderte und frischer Jugendmuth mir die Brust schwellte!

Jetzt war ich geächtet, verbannt und verfolgt; für mich gab es keinen Freund mehr, vor den ich unbesorgt hätte hintreten dürfen; und Johanna? O, ich durfte nicht daran denken – – –

Quelle:
Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. In: Deutsche Roman-Zeitung, 2. Jg., Band 2, Berlin 1865, S. 700-712.
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