Erster Teil

Ein heiterer Juniusnachmittag besonnte die Straßen der Residenzstadt. Der ältliche Baron Jaßfeld machte nach längerer Zeit wieder einen Besuch bei dem Maler Tillsen, und nach seinen eilfertigen Schritten zu urteilen, führte ihn diesmal ein ganz besonderes Anliegen zu ihm. Er traf den Maler, wie gewöhnlich nach Tische, mit seiner jungen Frau in dem kleinen, ebenso geschmackvollen als einfachen Saale, dessen antike Dekoration sich gar harmonisch mit den gewöhnlichen Gegenständen des Gebrauchs und der Mode ausnahm. Man sprach zuerst in heiterm Tone über verschiedene Dinge, bis die Frau sich in Angelegenheiten der Haushaltung entfernte und die beiden Herren allein ließ.

Der Baron saß bequemlich mit übereinandergeschlagenen Beinen im weichen Fauteuil, und indes die Wange in der rechten Hand ruhte, schien er während der eingetretenen Pause den Maler in freundlichem Nachsinnen mit der neuen Ansicht zu vergleichen, die sich ihm seit gestern über dessen Werke aufgedrungen. »Mein Lieber!« fing er jetzt an, »daß ich Ihnen nur sage, warum ich vornehmlich hieher komme. Ich bin kürzlich bei dem Grafen von Zarlin gewesen und habe dort ein Gemälde gesehen, wieder und wieder gesehen und des Sehens kaum genug gekriegt. Ich fragte nach dem Meister, der Graf ließ mich raten, ich riet und sagte: Tillsen! – schüttelte aber unwillkürlich den Kopf dabei, weil mir zugleich war, es könne doch nicht wohl sein; ich sagte abermals: Tillsen, und sagte zum zweitenmal: Nein!«

Bei diesen Worten zeigte sich eine Spur von Verdruß und Verlegenheit auf des Malers Gesicht; er wußte sie jedoch schnell zu verbergen und fragte mit guter Laune: »Nun! das schöne Wunderwerk, das meinen armen Pinsel bereits zweimal verleugnet hat – was ist es denn eigentlich?«

»Stellen Sie sich nicht, Bester«, erwiderte der Alte aufstehend, mit herzlicher Fröhlichkeit und glänzenden Augen, »Ihnen ist wohl bekannt, wovon ich rede. Der von Zarlin hat Ihnen[7] das Bild abgekauft und Sie sind nach seiner Versicherung der Mann, der es gemacht. Hören Sie, Tillsen«, hier ergriff er seine Hand, »hören Sie! ich bin nun einmal eben ein aufrichtiger Bursche, und mag, wo ich meine Leute zu kennen glaube, nicht übertrieben viel Vorsicht brauchen, also platzte ich Ihnen gleich damit heraus, wie mir's mit Ihrem Bilde ergangen; es enthält unverkennbar so manches Ihrer Kunst, besonders was Farbe was Schönheit im einzelnen, was namentlich auch die Landschaft betrifft aber es enthält – nein, es ist sogar durchaus wieder etwas anderes, als was Sie bisher waren, und indem ich zugebe, daß die überraschende Entdeckung gewisser Ihnen in minderem Grade eigenen Vorzüge mich irregemacht, so liegt hierin ein Vorwurf gegen Ihre früheren Arbeiten, den Sie immer von mir gehört haben, ohne darum zu zweifeln, daß ich Sie für einen in seiner Art trefflichen Künstler halte. Ich fand jetzt aber eine Keckheit und Größe der Komposition von Figuren, eine Freiheit überall, wie Sie meines Wissens der Welt niemals gezeigt hatten; und was mir schlechterdings als ein Rätsel erschien, ist die auffallende Abweichung in der poetischen Denkungsart, in der Wahl der Gegenstände. Dies gilt insbesondere von zwei Skizzen, deren ich noch gar nicht erwähnte und die Sie dem Grafen in Öl auszuführen versprochen haben.

Hier ist eine durchaus seltene Richtung der Phantasie, wunderbar, phantastisch, zum Teil verwegen und in einem angenehmen Sinne bizarr. Ich denke dabei an die Gespenstermusik im Walde und Mondschein, an den Traum des verliebten Riesen. Tillsen! um Gottes willen, sagen Sie, wann ist diese ungeheure Veränderung vorgegangen? wie erklären Sie mir sie? Man weiß und hat es bedauert, daß Tillsen in anderthalb Jahren keine Farbe angerührt; warum sagten Sie mir während der letzten zwei Monate nicht eine Silbe vom Wiederanfange Ihrer Arbeiten? Sie haben heimlich gemalt, Sie wollten uns überraschen, und wahrlich, teuerster, unbegreiflicher Freund, das ist Ihnen gelungen.« Hier schüttelte der feurige Redner den stummen Hörer kräftig bei den Schultern, schmunzelte und sah ihm nahezu unter die Augen.

»Ich bin wahrhaftig«, begann der andere ganz ruhig, aber lächelnd, »um den Ausdruck verlegen, Ihnen meine Verwunderung über Ihre Worte zu bezeugen, wovon ich das mindeste nicht verstehe. Weder kann ich mich zu jenem Gemälde, zu jenen Zeichnungen bekennen, noch überhaupt faß ich Ihre[8] Worte. Das Ganze scheint ein Streich von Zarlin zu sein, den er uns wohl hätte ersparen mögen. Wie stehen wir einander nun seltsam beschämt gegenüber! Sie sind gezwungen, ein mir nicht gebührendes Lob zurückzunehmen, und der Tadel, den Sie vergnügt schon auf die alte Rechnung setzten, bleibt wo er hingehört. Das muß uns aber ja nicht genieren, Baron, wir bleiben hoff ich, die besten Freunde. Geben Sie mir aber doch, ich bitte Sie, einen deutlichen Begriff von den bewußten Stücken. Setzen Sie sich!«

Jaßfeld hatte diese Rede bis zur Hälfte mit offenstehendem Munde, beinahe ohne Atemzug angehört, während der andern Hälfte trippelte er im Zickzack durch den Saal, stand nun plötzlich still und sagte: »Der Teufelskerl von Zarlin! Wenn ja der – aber es ist impossibel, ich behaupte trotz allen himmlischen Heerscharen, Sie sind der Maler, kein anderer; auch läßt sich nicht annehmen, daß es etwa nur zum Teil Ihre Produktion wäre; Sie haben sich in Ihrem Leben nie auf Fremdes verlegt.« Der Maler bat wiederholt um die Schilderung der befragten Stücke.

»Ich beschreibe Ihnen also, weil Sie es verlangen, Ihr eigen Werk«, hub der alte Herr, sich niedersetzend, an, »aber kurz, und korrigieren Sie mich gleich, wenn ich wo fehle. – Das ausgeführte Ölgemälde zeigt uns, wie einer Wassernymphe ein schöner Knabe auf dem Kahn von einem Satyr zugeführt wird. Jene bildet neben einigen Meerfelsen linker Hand die vorderste Figur. Sie drückt sich, vorgeneigt und bis an die Hüften im Wasser, fest an den Rand des Nachens, indem sie mit erhobenen Armen den reizenden Gegenstand ihrer Wünsche zu empfangen sucht. Der schlanke Knabe beugt sich angstvoll zurück und streckt, doch unwillkürlich, einen Arm entgegen; hauptsächlich mag es der Zauber ihrer Stimme sein, was ihn unwiderstehlich anzieht, denn ihr freundlicher Mund ist halb geöffnet und stimmt rührend zu dem Verlangen des warmen Blicks. Hier erkannte ich Ihren Pinsel, Ihr Kolorit, Ihren unnachahmlichen Hauch, o Tillsen, hier rief ich Ihren Namen aus. Das Gesicht der Nymphe ist fast nur Profil, der schiefe Rücken und eine Brust ist sichtbar; unvergleichlich das nasse, blonde Haar. Bei der Senkung einer Welle zeigt sich wenig der Ansatz des geschuppten Fischkörpers, in der Nähe schlägt der tierische Schwanz aus dem grünen Wasser, aber man vergißt das Ungeheuer über der Schönheit des menschlichen Teils und der Knabe vergeht[9] in dem Liebreiz dieses Angesichts; er versäumt das leichte, nur noch über die Schulter geschlungene Tuch, das der Wind als schmalen Streif in die Höhe flattern läßt. Eine Figur von großer Bedeutung ist der Satyr als Zuschauer. Die muskulose Figur steht, auf das Ruder gelehnt, etwas seitwärts im Schiffe, und überragt, obgleich nicht ganz aufrecht, die übrigen. Eine stumme Leidenschaft spricht aus seinen Zügen, denn obgleich er der Nymphe durch den Raub und die Herbeischaffung des herrlichen Lieblings einen Dienst erweisen wollte, so straft ihn jetzt seine heftige Liebe zu ihr mit unverhoffter Eifersucht. Er möchte sich lieber mit Wut von dieser Szene abkehren, allein er zwingt sich zu ruhiger Betrachtung, er sucht einen bittern Genuß darin. Das Ganze rundet sich vortrefflich ab und mit Klugheit wußte der Maler das eine leere Ende des Nachens rechter Hand hinter hohe Seegewächse zu verstecken. Übrigens ist vollkommene Meeraussicht und man befindet sich mit den Personen einsam und ziemlich unheimlich auf dem hülflosen Bereiche. Ich sage Ihnen nichts weiter, mein Freund. Ihre gelassene Miene verrät mir eine hinlängliche Bekanntschaft mit der Sache, Sie dürften übrigens, wenn keine Verwunderung, doch wahrlich ein wenig gerechten Stolz auf ihr Werk blicken lassen, wofern nicht eben in diesem Anscheine von Gleichgültigkeit schon der höchste Stolz liegt.«

»Die Skizzen, wenn ich bitten darf!« erwiderte der andere; »wie verhält es sich damit? Sie haben mich sehr neugierig gemacht.«

Der Baron holte frisch Atem, lächelte und begann doch bald ernsthaft: »Federzeichnung, mit Wasserfarbe ziemlich ausgeführt, nach Ihrer gewöhnlichen Weise. Das Blatt, wovon jetzt die Rede ist, hat einen tiefen, und besonders als ich es zum zweitenmal bei Lichte sah, einen fast schauderhaften Eindruck auf mich gemacht. Es ist nichts weiter als eine nächtliche Versammlung musikliebender Gespenster. Man sieht einen grasigen, etwas hüglichten Waldplatz, ringsum, bis auf eine Seite, eingeschlossen Jene offene Seite rechts läßt einen Teil der tiefliegenden, in Nebel glänzenden Ebene übersehen; dagegen erhebt sich zur Linken im Vordergrunde eine nasse Felswand, unter der sich ein lebhafter Quell bildet und in deren Vertiefung eine gotisch verzierte Orgel von mäßiger Größe gestellt ist; vor ihr auf einem bemoosten Blocke sitzt im Spiele begriffen gleich eine Hauptfigur, während die übrigen teils ruhig mit[10] ihren Instrumenten beschäftigt, teils im Ringel tanzend oder sonst in Gruppen umher zerstreut sind. Die wunderlichen Wesen sind meist in schleppende, zur Not aufgeschürzte Gewande von grauer oder sonst einer bescheidenen Farbe gehüllt, blasse mitunter sehr angenehme Totengesichter, selten etwas Grasses, noch seltener das geschälte häßliche Totenbein. Sie haben sich, um nach ihrer Weise sich gütlich zu tun, ohne Zweifel aus einem unfernen Kirchhof hieher gemacht. Dies ist schon durch die Kapelle rechts angedeutet, welche man unten in einiger Nähe, jedoch nur halb, erblickt, denn sie wird durch den vordersten Grabhügel abgeschnitten, an dessen eingesunkenem Kreuze von Stein ein Flötenspieler mit bemerkenswerter Haltung und trefflich drapiertem Gewande sich hingelagert hat. Ich wende mich aber jetzt wieder auf die entgegengesetzte Seite zu der anziehenden Organistin. Sie ist eine edle Jungfrau mit gesenktem Haupte; sie scheint mehr auf den Gesang der zu ihren Füßen strömenden Quelle, als auf das eigene Spiel zu horchen. Das schwarze, seelenvolle Auge taucht nur träumerisch aus der Tiefe des inneren Geisterlebens, ergreift keinen Gegenstand mit Aufmerksamkeit, ruht nicht auf den Tasten, nicht auf der schönen runden Hand, ein wehmütig Lächeln schwimmt kaum sichtbar um den Mundwinkel und es ist, als sinne dieser Geist im jetzigen Augenblicke auf die Möglichkeit einer Scheidung von seinem zweiten leiblichen Leben. An der Orgel lehnt ein schlummertrunkener Jüngling mit geschlossenen Augen und leidenden Zügen, eine brennende Fackel haltend; ein großer goldenbrauner Nachtfalter sitzt ihm in den Seitenlocken. Zwischen der Wand und dem Kasten scheint sich der Tod als Kalkant zu befinden, denn eine knöcherne Hand und ein vorstehender Fuß des Gerippes wird bemerkt. Unter den Gestalten im Mittelgrunde zeichnet sich namentlich eine Gruppe von Tanzenden aus, zwei kräftige Männer und ebensoviel Frauen in anmutigen und kunstvollen Bewegungen, mit hochgehaltener Handreichung, wobei zuweilen nackte Körperteile edel und schön zum Vorschein kommen. Indessen, der Tanz scheint langsam und den ernsten, ja traurigen Mienen derjenigen zu entsprechen, welche ihn aufführen. Diesen zu beiden Seiten und dann mehr gegen den Hintergrund entfaltet sich ein vergnügteres Leben; man gewahrt muntere Stellungen, endlich possenhafte und neckische Spiele. Etwas fiel mir besonders auf. Ein Knabengerippe im leichten Scharlachmäntelchen sitzt da und wollte sich gern[11] von einem andern den Schuh ausziehen lassen, aber das Bein bis zum Knie ging mit und der ungeschickte Bursche will sich zu Tode lachen. Hingegen ein anderer Zug ist folgender: Vorn bei dem Flötenspieler befindet sich ein Gesträuche, woraus eine magere Hand ein Nestchen bietet, während ein hingekauerter Greis sein Söhnchen bei der hingehaltenen Kerze bereits einem Vogel in die verwundert unschuldigen Äuglein blicken läßt; der Bursche hat übrigens schon eine zappelnde Fledermaus am Fittich. Es gibt mehrere Züge der Art; es gäbe überhaupt noch gar vieles anzuführen. Die Beleuchtung, der wundervolle Wechsel zwischen Mond- und Kerzenlicht, wie dies einst beim Ölgemälde, besonders in der Wirkung aufs Grün, sich zauberisch darstellen wird, ist überall bereits effektvoll angedeutet und mit großer Kenntnis behandelt. Doch genug! der Henker mag so was beschreiben.«

Tillsen hatte schon seit einer Weile zerstreut und brütend gesessen. Jetzt da das Schweigen des Barons ihn zu sich selbst gebracht, erhob er sich rasch mit glühender Stirn vom Sessel und sprach entschlossen: »Ja, mein Herr, ich darf es sagen, von meiner Hand ist, was Sie gesehen haben, doch« – hier brach er in ein gezwungenes Gelächter aus. »Gott sei Dank!« unterbrach ihn der Baron, entzückt aufspringend, »nun hab ich genug; lassen Sie sich küssen, umarmen, Charmantester! die anderthalb Jahre Fastenzeit, worin Sie die Palette vertrocknen ließen, haben Wunder an Ihnen gereift, eine Periode entwickelt, über deren Früchte die Welt staunen wird. Nun geht es Schlag auf Schlag, geben Sie acht, seitdem der neue, starke Frühling für Ihre Kunst durchbrochen hat, und in dieser Stunde prophezei ich Ihnen die Fülle eines Ruhmes, der vielleicht Hunderte begeistern wird, das ganze Mark der Kräfte an die edelste Kunst zu wen den, aber auch Tausende zwingen muß, in mutlosem Neide sie abzuschwören. Ach lieber, bescheidener Mann, Sie sind bewegt, ich bin es nicht weniger von herzlicher Freude. Lassen Sie uns in diesem glücklichen Moment mit einem warmen Händedruck auseinandergehen, und kein Wort weiter. Ich gehe zum Grafen. Leben Sie wohl! auf Wiedersehen.« Damit war er zur Türe hinaus.

Der Maler, unbeweglich, sah ihm nach. Es wollte ihn jetzt fortreißen, dem Baron zu folgen, ihm eine plötzliche Aufklärung zu geben, aber ein unwillkürlicher trockener Entschluß hielt ihn wie an den Boden gefesselt. Erst nach einer langen[12] Stille brach er, beinahe schmerzlich lächelnd, in die Worte aus: »O betrogener redlicher Mann! wie hast du dich unnötig über mich verjubelt, mir arglos meine ganze Blöße gezeigt! Ich mußte ein Lob anhören, das nicht mir, sondern einem andern gehört und das just alles das heraushob, was mir zum rechten Maler abgeht, ewig abgehen wird!« Es ist wahr, fuhr er in Gedanken fort, die Ausführung jener Kompositionen ist mein und ist nicht das Schlechteste am Ganzen; sie dient, jenen Erfindungen die rechte Bedeutung zu geben; ohne mein Zutun wären vielleicht die Skizzen des armen Zeichners gleichgültig übersehen worden. Aber nur auf der Spur seines Geistes stärkte, belebte sich der meinige, und nur von jenem ermutigt konnte ich sogar auf eine Höhe des Ausdrucks kommen, bis zu welcher ich mich nie erhoben hatte. Wie arm, wie nichts erschein ich mir diesem unbekannten Zeichner gegenüber! Wie würf ich mit Freuden alles hin, was sonst an mir gerühmt wird, für die Gabe, solche Umrisse, solche Linien, solche Anordnungen zu schaffen! Ein Crayon, ein dürftig Papier ist ihm genug, damit er mich über den Haufen stürze. Wüßten nur erst die Herren, daß es die Werke eines Wahnsinnigen sind, welche sie bewundern, eines unscheinbaren verdorbenen Menschen, ihr Staunen würde noch größer sein, als da sie in mir den Meister gefunden zu haben glauben. Noch kennt außer mir niemand den wahren Erfinder, aber gesetzt, ich wollte auf die Gefahr, daß dieser sein eigensinniges Inkognito brechen kann, mir dennoch den Ruhm seiner Schöpfung erhalten, ich fände einen weit stärkeren Grund dagegen in dem eigenen innern Bewußtsein. Darum muß es an den Tag, lieber heute als morgen, ich sei keineswegs der Rechte.

Das waren ungefähr die Gedanken des lebhaft aufgeregten Mannes. Indessen war er, was den letzten Punkt betrifft, noch nicht so ganz entschieden. Hatte er bisher die Meinung der Freunde so hinhängen lassen, ohne sie eben zu bestärken, ohne zu widerlegen, indem er sich mit zweideutigem Scherz in der Mitte hielt, so dachte er jetzt, er könne unbeschadet seines Gewissens noch eine Zeitlang zuwarten mit der Enthüllung, und er wolle sein Benehmen nachher, wenn es nötig sei, schon auf ehrenvolle Art rechtfertigen.

Soeben trat die junge Frau wieder ins Zimmer: sie bemerkte die auffallende Bewegung an ihrem Manne, sie fragte erschrocken, er leugnete und herzte sie mit einer ungewohnten Inbrunst. Dann ging er auf sein Zimmer.[13]

Es verstrichen mehrere Wochen, ohne daß unser Maler gegen irgend jemanden sich über den wahren Zusammenhang der Sache erklärte, seinen Schwager, den Major v. R., ausgenommen, dem er folgende auffallende Eröffnung machte. »Es mag nun bald ein Jahr sein, als mich eines Abends ein verwahrloster Mensch von schwächlicher Gestalt und kränklichem Aussehen, eine spindeldünne Schneiderfigur, in meiner Werkstätte besuchte. Er gab sich für einen eifrigen Dilettanten in der Malerei aus. Aber die windige Art seines Benehmens, das Verworrene seines Gesprächs über Kunstgegenstände war ebenso verdächtig, als mir überhaupt der ganze Besuch fatal und rätselhaft sein mußte. Ich hielt ihn zum wenigsten für einen aufdringlichen Schwätzer, wo nicht gar für einen Schelmen, wie sie gewöhnlich in fremden Häusern umherschleichen, die Leute zu bestehlen und zu betrügen. Hingegen wie groß war meine Verwunderung, als er einige Blätter hervorzog, die er mit vieler Bescheidenheit für leichte Proben von seiner Hand ausgab. Es waren reinliche Entwürfe mit Bleistift und Kreide voll Geist und Leben, wenn auch manche Mängel an der Zeichnung sogleich ins Auge fielen. Ich verbarg meinen Beifall absichtlich, um meinen Mann erst auszuforschen, mich zu überzeugen, ob das alles nicht etwa fremdes Gut wäre. Er schien mein Mißtrauen zu bemerken und lächelte beleidigt, während er die Papiere wieder zusammenrollte. Sein Blick fiel inzwischen auf eine von mir angefangene Tafel, die an der Wand lehnte, und wenn kurz vorher einige seiner Urteile so abgeschmackt und lächerlich als möglich klangen, so ward ich jetzt durch einige bedeutungsvolle Worte aus seinem Munde überrascht, welche mir ewig unvergeßlich bleiben werden, denn sie bezeichneten auf die treffendste Weise das Charakteristische meiner Manier und lösten mir das Geheimnis eines Fehlers, den ich bisher nur dunkel empfunden hatte. Der wunderliche Mensch wollte mein Erstaunen nicht bemerken, er griff eben nach dem Hute, als ich ihn lebhaft zu mir auf einen Sitz niederzog und zu einer weiteren Erörterung aufforderte. Es übersteigt jedoch alle Beschreibung, in welch sonderbarem Gemische des fadesten und unsinnigsten Galimathias mit einzelnen äußerst pikanten Streiflichtern von Scharfsinn sich der Mensch in einer süßlich wispernden Sprache nun gegen mich vernehmen ließ. Dies alles zusammengenommen und das unpassende Kichern, womit er sich selber und mich gleichsam zu verhöhnen schien, ließ keinen Zweifel übrig, daß ich hier das seltenste[14] Beispiel von Verrücktheit vor mir habe, welches mir je begegnet war. Ich brach ab, lenkte das Gespräch auf gewöhnliche Dinge und er schien sich in seinem stutzerhaft affektierten Betragen nur immer mehr zu gefallen. Dies elegante Vornehmtun machte mit seinem notdürftigen Äußern, einem abgetragenen, hellgrünen Fräckchen und schlechten Nankingbeinkleidern einen höchst komischen, affreusen Kontrast. Bald zupfte er mit zierlichem Finger an seinem ziemlich ungewaschenen Hemdstrich, bald ließ er sein Bambusröhrchen auf dem schmalen Rücken tänzeln, indem er zugleich bemüht war, durch Einziehung der Arme mir die schmähliche Kürze des grünen Fräckchens zu verbergen. Mit alle diesem erregte er meine aufrichtige Teilnahme. Mußt ich mir nicht einen Menschen denken, der mit seinem außerordentlichen Talente, vielleicht durch gekränkte Eitelkeit, vielleicht durch Liederlichkeit, dergestalt in Zerfall geraten war, daß zuletzt nur dieser jämmerliche Schatten übrigblieb? Auch waren jene Zeichnungen, wie er selbst bekannte, aus einer längst vergangenen, bessern Zeit seines Lebens. Auf die Frage, womit er sich denn gegenwärtig beschäftige, antwortete er hastig und kurz: er privatisiere; und als ich von weitem die Absicht blicken ließ, jene Blätter von ihm zu erstehen, schien er trotz eines preziösen Lächelns nicht wenig erleichtert und vergnügt. Ich bot ihm drei Dukaten, die er mit dem Versprechen zu sich steckte, mich bald wiederzusehen. Nach vier Wochen erschien er abermals und zwar schon in merklich besserem Aufzuge. Er brachte mehrere Skizzen mit: sie waren womöglich noch interessanter, noch geistreicher. Indessen hatt ich beschlossen, ihm vorderhand nichts weiter abzunehmen, bis ich über die Rechtmäßigkeit eines solchen Erwerbs völlig ins reine gekommen wäre, etwa dadurch, daß er veranlaßt würde, gleichsam unter meinen Augen eine Aufgabe zu lösen, die ich ihm unter einem unverfänglichen Vorwande zuschieben wollte. Ich hatte meine Gedanken hiezu schriftlich angedeutet, erklärte mich ihm auch mündlich darüber, und er eilte sogleich mit der Hoffnung weg, mir seinen Versuch in einigen Tagen zu zeigen. Aber wer schildert meine Freude, als schon am Abende des folgenden Tages die edelsten Umrisse zu der angegebenen Gruppe aus dem Statius vor mir lagen, in der ganzen Auffassung des Gedankens weit kühner und sinnreicher als der Umfang meiner Imagination jemals reichte. Manche flüchtige Bemerkung des närrischen Menschen bewies überdies unwidersprechlich,[15] daß er mit Leib und Seele bei der Zeichnung gewesen. Auch dieser Entwurf und in der Folge noch der eine und andere ward mein Eigentum; allein plötzlich blieb der Fremde aus und eigensinnigerweise hatte er mir weder Namen noch sonstige Adresse zurückgelassen. Nach und nach fühlte ich unwiderstehliche Lust, drei bis vier der vorhandenen Blätter vergrößert in Wasserfarbe aufs neue zu skizzieren und sofort in Öl darzustellen, wobei denn bald die liebevollste wechselseitige Durchdringung meiner Manier und jenes fremden Genius stattfand, so daß die Entscheidung so leicht nicht sein möchte, wenn nunmehr bei den völlig ausgemalten Tableaus ein zwiefaches und getrenntes Verdienst gegeneinander abgewogen werden sollte. Vor einem Freunde und Schwager darf ich dieses selbstgefällige Bekenntnis gar wohl tun, und vielleicht wird das Publikum mir nicht mindere Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn ich ihm demnächst bei der öffentlichen Ausstellung jene Bilder vorführen werde, ohne ihren doppelten Ursprung im mindesten zu verleugnen; denn dies war längst mein fester Entschluß.«

»Das sieht dir ähnlich«, erwiderte hierauf der Major, welcher bisher mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört hatte; »es bedarf, dünkt mich, bei einem Künstler von deinem Rufe nicht einmal großer Resignation zu einer solchen Aufrichtigkeit, ja man wird in dem ganzen Unternehmen eine Art Herablassung finden, wodurch du jenes unbekannte Talent zu würdigen und zu ehren dachtest. Aber, um wieder auf den armen Tropfen zu kommen, hast du ihn denn auf keine Weise ausfindig machen können?«

»Auf keine Weise. Einmal glaubte mein Bedienter seine Spur zu haben, allein sie verschwand ihm wieder.«

»Es wäre doch des Teufels«, rief der Major aus, »wenn meine Spürhunde mich hier im Stiche ließen! Schwager, laß mich nur machen. Die Sache ist zu merkwürdig, um sie ganz hängen zu lassen. Du magst mich vor aller Welt nur selbst für den geheimnisvollen Narren ausgeben, wenn ich dir ihn nicht binnen vierundzwanzig Tagen aus irgendeiner Spelunke, Dachstube oder dem Narrenhause selbst hervorziehe!«


Diese vierundzwanzig Tage waren noch nicht um, so geschah es, daß Tillsen über die wahre Bewandtnis der Sache auf einem ganz anderen Wege aufgeklärt wurde, als er je vermuten konnte.[16]

In seiner Abwesenheit meldete sich eines Morgens ein wohlgekleideter junger Mann im Tillsenschen Hause an, und die Frau führte ihn indes in ein Seitenzimmer, wo er ihren Gemahl erwarten möchte. Sie selbst, obgleich durch seine sehr vielversprechende und auffallend angenehme Gesichtsbildung nicht wenig interessiert, entfernte sich sogleich wieder, weil die zerstreute Unruhe seiner Miene ihr hinlänglich sagte, daß eine weitere Ansprache hier nicht am Platze sein würde. Nach einer Viertelstunde erst trat der Maler in das bezeichnete Kabinett. Er fand den jungen Mann nachdenkend, den Kopf in beide Hände gestützt, auf einem Stuhle sitzen, den Rücken ihm zugewandt und dem großen Gemälde gegenüber, das, bis auf die breit goldene Rahme, verhüllt an der Wand dahing. Der Maler, einigermaßen verwundert, trat stillschweigend näher, worauf dann der andere erschrocken auffuhr, indem er zugleich hinter einer angenehmen, verlegenen Freundlichkeit die Tränen zu verstecken suchte, worin er sichtbar überrascht worden war. »Ich komme«, fing er jetzt mit heiterem Freimute an, »ich komme in der wunderlichsten und zugleich in der erfreulichsten Angelegenheit vor Ihr Angesicht, verehrter Mann! Meine Person ist Ihnen unbekannt, dennoch haben Sie, wie ich weiß, mein eigentliches Selbst bereits dergestalt kennengelernt und bis auf einen gewissen Grad sogar liebgewonnen, daß ich mich nun mit unabweislichem Vertrauen unter Ihre Stirne dränge. Doch, lassen Sie mich deutlich reden. Ich heiße Theobald Nolten und studiere in hiesiger Stadt ziemlich unbekannt die Malerei. Nun fand ich gestern in der aufgestellten Galerie unter andern ein Gemälde, das Opfer der Polyxena vorstellend, das mir auf den ersten Blick als eine innig vertraute Erscheinung entgegentrat. Es war, als stünde durch Zauberwerk hier ein früher Traum lebendig verkörpert vor meinem schwindelnden Auge. Diese schmerzvolle Königstochter schien mich so schwesterlich bekannt zu grüßen, ihre ganze Umgebung deuchte mir so gar nicht fremd, und doch, über das Ganze war ein Licht, ein Reiz gegossen, der nicht aus meinem Innern, der von einer höhern Macht, von den Olympischen selbst herabgestrahlt schien; ich zitterte, bei Gott! ich –«

»Was?« unterbrach ihn Tillsen, »Sie wären – ja Sie sind der wunderbare Künstler, dem ich so vieles abzubitten –«

»Nicht doch«, entgegnete jener feurig, »nein! der Ihnen Unendliches zu danken hat. O edelster Mann! Sie haben mich mir[17] selbst enthüllt, indem Sie mich hoch über mich hinausgerückt und getragen. Sie weckten mich mit Freundeshand aus einem Zustande der dunkeln Ohnmacht, rissen mich auf die Sonnenhöhe der Kunst, da ich im Begriffe war, an meinen Kräften zu verzweifeln. Ein Elender mußte mich bestehlen, damit Sie Gelegenheit hätten, mir in Ihrem klaren Spiegel meine wahre, meine künftige Gestalt zu zeigen. So empfangen Sie denn Ihren Schüler an das väterliche Herz! Lassen Sie mich sie küssen, die gelassene Hand, welche auf ewig die verworrenen Fäden meines Wesens ordnete – mein Meister! mein Erretter!«

So lagen sich beide Männer einige Sekunden lang fest in den Armen und von diesem Augenblicke an war eine lebhafte Freundschaft geschlossen, wie sie wohl in so kurzer Zeit zwischen zwei Menschen, die sich eigentlich zum ersten Male im Leben begegnen, selten möglich sein wird.

»Erlauben Sie, mein Lieber«, sagte Tillsen, »daß ich erst zur Besinnung komme. Noch weiß ich nicht, bin ich mehr beschämt oder mehr erfreut durch Ihre herzlichen Worte. Ich werde Sie in der Folge noch besser verstehen. So sagen Sie fürs erste nur, wie verhält sich's denn mit dem diebischen Schufte, dem wenigstens das Verdienst bleiben muß, uns zusammengeführt zu haben?«

»Wohl! Hören Sie! Nach meiner Rückkehr aus Italien, es ist nun über ein Jahr, traf ich auf der Reise hieher, wo ich völlig fremd war, einen Hasenfuß, Barbier seiner Profession – er nannte sich Wispel –, der mir seine Dienste als Bedienter antrug, und ich nahm ihn aus einem humoristischen Interesse an seiner Seltsamkeit um so lieber auf, da er neben einem, daß ich so sage, universal-enthusiastischen Hieb, neben einem badermäßigen Hochmut, immer eine gewisse Gutmütigkeit zeigte, die in der Folge nur der borniertesten Eitelkeit weichen konnte; denn so wollt ich darauf schwören, er hatte mit jenen entwendeten Konzepten anfangs keine andere Absicht, als vor Ihnen den Mann zu machen.«

»Allein er nahm doch Geld dagegen an?«

»Und wenn auch; diese Spekulation ward sicherlich erst durch Ihr Anerbieten bei ihm erweckt.«

»Aber er stellte sich völlig närrisch!«

»Ich zweifle sehr, daß er es darauf anlegte, oder gesetzt, er legte es darauf an, so geschah es nur, nachdem er Ihnen bereits den interessanten Verdacht abgelauscht. Seiner Dummheit kam[18] übrigens die List beinahe gleich; so wußte er mich unter einem ausgesuchten Vorwande zu einer Zeichnung aus dem Stegreife zu bewegen, die ohne Zweifel auch für Sie bestimmt war, und wozu ich mich selbst durch den angenehm proponierten Gegenstand angereizt fühlte. Wenn er Sie ferner durch den Schein eigener Bildung irregeführt hat, so begreif ich nur um so besser, warum er sich bei den Unterhaltungen, welche gelegentlich zwischen mir und einem Freunde vorkamen, immer viel im Zimmer zu schaffen machte. Er mag Ihnen auf diese Art manchen schlecht verdauten Brocken hingeworfen haben.«

»Ach«, sagte Tillsen nicht ohne einige Beschämung, »freilich, dergleichen Äußerungen sahen mir dann immer verdächtig genug aus, wie Hieroglyphen auf einem Marktbrunnenstein, ich wußte nicht, woher sie kamen. Aber ein abgefeimter Bursche ist es doch! Und wo steckt denn der Schurke jetzt?«

»Das weiß Gott. Seit einem halben Jahre hat er sich ohne Abschied von mir beurlaubt; etliche Wochen später entdeckt ich die große Lücke in meinem Portefeuille.«

»Ich will sie wieder ausfüllen!« erwiderte Tillsen mit Heiterkeit, indem er den Freund vor das verhängte Bild führte. »Ich wollte es diesen Morgen noch zur öffentlichen Ausstellung wegtragen lassen; doch, es ist nun Ihr Eigentum. Lassen Sie sehen, ob Sie auch hinter diesem Tuche Ihre Bekannten erkennen.«

Nolten hielt die Hand des Malers an, während er das Geständnis ablegte, daß er vorhin der Versuchung nicht widerstanden, den Vorhang um einige Spannen zurückzustreifen, daß er ihn aber, wie von dem Gespenste eines Doppelgängers erschreckt, sogleich wieder habe fallen lassen, ohne die Überblickung des Ganzen zu wagen.

Jetzt schlug Tillsen mit einem Male die Hülle zurück und trat seitwärts, um den Eindruck des Stückes auf den Maler zu beobachten. Wir sagen nichts von der unbeschreiblichen Empfindung des letztern und erinnern den Leser an das wunderliche Geisterkonzert, wovon ihm der alte Baron früher einen Begriff gegeben. Bewegt und feierlich gingen die Freunde auseinander.


Die umständlichere Erzählung dieser Begebenheit mußte vorangeschickt werden, um die rasche und erfreuliche Entwicklung desto begreiflicher zu machen, welche es von nun an mit der ganzen Existenz des jungen Künstlers nahm. War es ein[19] gewisser Kleinmut oder Eigensinn, grillenhafter Grundsatz, was ihn bisher bewegen mochte, mit seinem Talente unbeschrieen hinter dem Berge zu halten, bis er dereinst mit einem höhern Grade von Vollendung hervortreten könnte: soviel ist gewiß, daß die Behandlung der Ölfarbe ihm bisher große Schwierigkeiten entgegensetzte, jedoch, wie Tillsen fand, nicht so große, als unser bescheidener Freund sich gleichsam selbst gemacht hatte. Vielmehr entdeckte jener auch diesfalls an den Versuchen des letztern die überraschendsten Fortschritte, und gerne faßte er den Entschluß zur förderlichen Mitteilung einzelner Vorteile. In kurzem stand Nolten, was Geschicklichkeit betrifft jedem braven Künstler gleich, und in Absicht auf großartigen Geist hoch über allen. Seine Werke, sowie seine Empfehlung durch Tillsen, verschafften ihm sehr schätzbare Verbindungen, und namentlich erwies der Herzog Adolph, Bruder des Königs, sich gar bald als einen freundschaftlichen Gönner gegen ihn.

War Theobald auf diese Weise durch die rasche und glänzende Veränderung seines bisherigen Zustandes gewissermaßen selbst überrascht und anfänglich sogar verlegen, so verwunderte er sich in der Folge beinahe noch mehr über die Leichtigkeit, womit er sich in seine jetzige Stellung gewöhnte und darin behauptete. Allerdings brauchte er die Achtung, durch die er sich vor andern ausgezeichnet sah, nur als etwas Verdientes hinzunehmen, so kam sie ihm auch ganz natürlich zu.

Durch die Vermittlung des Herzogs erhielt er Zutritt im Hause des Grafen von Zarlin, der sich ohne eigene Einsichten, und wie mehrere behaupteten, aus bloßer Eitelkeit als einen leidenschaftlichen Freund jeder Gattung von Kunst hervortat, und dem es wirklich gelang, einen Zirkel edler Männer und Frauen um sich zu versammeln, worin geistige Unterhaltung aller Art, namentlich Lektüre guter Dichterwerke vorkam. Die lebendig machende Seele des Ganzen jedoch war, ohne es zu wollen, die schöne Schwester des Grafen, Constanze von Armond, die junge Witwe eines vor wenigen Jahren gestorbenen Generals. Ihre Liebenswürdigkeit wäre mächtig genug gewesen, den Kreis der Männer zu beherrschen und Gesetze vorzuschreiben, aber die angenehme Frau blieb mit der sanften Wirkung zufrieden, welche von ihrer Person auf alle übrigen Gemüter ausging, und sich allgemein in der erwärmteren Teilnahme an den Unterhaltungsgegenständen offenbarte; ja, Constanze schien ihrer natürlichen Lebendigkeit öfters einige Gewalt anzutun,[20] um die Huldigung von sich abzuleiten, womit die Herren sie nicht undeutlich für die Königin der Gesellschaft erklärten. Auch Theobald fühlte sich insgeheim zu ihr hingezogen, und während der anderthalb Monate, worin er jede Woche drei Abende in ihrer Nähe zubringen durfte, entwickelte sich dies heitere Wohlgefallen zu einem stärkeren Grade von Zuneigung, als er sich selbst eingestehen durfte. Die Reize ihrer Person, die Feinheit ihres gebildeten Geistes, verbunden mit einem lebhaften, selbst ausübenden Interesse für seine Kunst, hatten ihn zu ihrem leidenschaftlichen Bewunderer gemacht, und wenn sein Verstand, wenn die oberflächlichste Betrachtung der äußern Verhältnisse ihm jeden entfernten Wunsch niederschlugen, so wiederholte er sich auf der andern Seite doch so manche leise Spur ihrer besondern Gunst mit unermüdeter Selbstüberredung, wobei er freilich nicht vergessen durfte, daß er in dem Herzog einen sehr geistreichen Nebenbuhler zu fürchten habe, der ihm überdies, was Gewandtheit und schmeichelhaften Ton des Umgangs betrifft, bei weitem überlegen war. Die Leidenschaft des Herzogs war Theobalden desto drückender, je inniger sonst ihr beiderseitiges Verhältnis hätte sein können, dagegen nun der letztere seinem arglosen fürstlichen Freunde gegenüber eine heimliche Spannung nur mit Mühe verleugnete.

Übrigens hatte er wohl Grund, sich über seine wachsende Neigung so gut wie möglich zu mystifizieren, denn eine früher geknüpfte Verbindung machte noch immer ihre stillen Rechte an sein Herz geltend, obwohl er dieselben mit einiger Überredung des Gewissens bereits entschieden zu verwerfen angefangen hatte Das reine Glück, welches der unverdorbene Jüngling erstmals in der Liebe zu einem höchst unschuldigen Geschöpfe gefunden, war ihm seit kurzem durch einen unglückseligen Umstand gestört worden, der für das reizbare Gemüt alsbald die Ursache zu ebenso verzeihlichem als hartnäckigem Mißtrauen ward. Die Sache hatte wirklich so vielen Schein, daß er das entfernt wohnende Mädchen keines Wortes, keines Zeichens mehr würdigte, ihr selbst nicht im geringsten den Grund dieser Veränderung zu erkennen gab. Mit unversöhnlichem Schmerz verhärtete er sich schnell in dem Wahne, daß der edle Boden dieses schönen Verhältnisses für immerdar erschüttert sei, und daß er sich noch glücklich schätzen müsse, wenn es ihm gelänge, mit der Bitterkeit seines gekränkten Bewußtseins jeden Rest von Sehnsucht in sich zu ertöten und[21] zu vergiften. In der Tat blieb aber dieser traurige Verlust nicht ohne gute Folgen für sein ganzes Wesen denn offenbar half diese Erfahrung nicht wenig seinen Eifer für die Kunst beleben, welche ihm nunmehr ein und alles, das höchste Ziel seiner Wünsche sein sollte. Vermochte er nun aber nach und nach über eine schmerzliche Empfindung, die ihn zu verzehren drohte, Herr zu werden, so war auf der andern Seite das Mädchen indessen nicht schlimmer daran. Agnes glaubte sich noch immer geliebt, und dieser glückliche Glaube ward, wie wir später erfahren werden, auf eine wunderliche Art, ganz ohne Zutun Theobalds, unterhalten, während er schon eine freiwillige Auflösung des Bündnisses von ihrer Seite zu hoffen begann, denn das Ausbleiben ihrer Briefe nahm er ohne weiteres für ein Zeichen ihres eigenen Schuldbewußtseins. In dieser halbfreien, noch immer etwas wunden Stimmung fand er die Bekanntschaft mit der Gräfin Constanze, und nun läßt sich die Innigkeit um so leichter begreifen, womit die gereizten Organe seiner Seele sich nach diesem neuen Lichte hinzuwenden strebten.


Im Spanischen Hofe, so hieß das bedeutendste Hotel der Stadt, war es am Abende des letzten Dezembers, wo die vornehme Welt sich bereits eifrig zur Maskerade zu rüsten hatte, ungewöhnlich stille. In dem hintersten grünen Eckzimmer leuchteten die beiden hellbrennenden Hängelampen nur zweien Gästen, wovon der eine, wie es schien, ein regelmäßiger, mit Welt und feinerer Gasthofsitte wohlvertrauter Besuch, ein pensionierter Staatsdiener von Range, der andere ein junger Bildhauer war, der erst vor wenig Stunden in der Stadt anlangte. Sie unterhielten sich, in ziemlicher Entfernung auseinander sitzend, über alltägliche Dinge, wobei sich Leopold, so nennen wir den Reisenden, bald über die zerstreute Einsilbigkeit des Alten heimlich ärgerte, bald mit einem gewissen Mitleiden auf die krankhaften Verzerrungen seines Gesichts, auf die rastlose Geschäftigkeit seiner Hände blicken mußte, die jetzt ein Fältchen am fein schwarzen Kleide auszuglätten, jetzt eine Partie Whistkarten zu mischen, oder eine Prise Spaniol aus der achatnen Dose zu greifen hatten. Das Gespräch war auf diese Weise ganz ins Stocken geraten, und um ihm wieder einigermaßen aufzuhelfen, fing der Bildhauer an: »Unter den Künstlern dieser Stadt und des Vaterlandes soll, wie ich mit Vergnügen höre, der junge Maler Nolten gegenwärtig große Aufmerksamkeit erregen?«[22]

Diese Worte schienen den alten Herrn gleichsam zu sich selber zu bringen. Seine Augen funkelten lebhaft unter ihrer grauen Bedeckung hervor. Da er jedoch noch wie gespannt stille schwieg und eine Antwort nur erst unter den schlaffen Lippen zurechtkaute, fuhr der andere fort: »Ich habe seit drei Jahren nichts von seiner Hand gesehen und bin nun äußerst begierig, mich zu überzeugen, was an diesem ausschweifenden Lobe, wie an den heftigen Urteilen der Kritiker Wahres sein mag.«

»Befehlen Sie«, sagte der Alte fast höhnisch, »daß ich nun mit einem hübschen Sätzchen antworte, wie etwa vielleicht in der Mitte liegt das fürtreffliche Talent, das seine bestimmte Richtung erst sucht – oder: es ist das Größte von ihm zu hoffen, wie das Schlimmste zu fürchten – und was dergleichen dünnen Windes mehr ist? Nein! ich sage Ihnen vielmehr geradezu, dieser Nolten ist der verdorbenste und gefährlichste Ketzer unter den Malern, einer von den halsbrecherischen Seiltänzern, welche die Kunst auf den Kopf stellen, weil das ordinäre Gehen auf zwei Beinen anfängt langweilig zu werden; der widerwärtigste Phantasie-Renommiste! Was malt er denn? eine trübe Welt voll Gespenstern, Zauberern, Elfen und dergleichen Fratzen, das ist's, was er kultiviert! Er ist recht verliebt in das Abgeschmackte, in Dinge, bei denen keinem Menschen wohl wird. Die gesunde, lautere Milch des Einfach-Schönen verschmäht er und braut einen Schwindeltrank auf Kreuzwegen und unterm Galgen; apropos, mein Herr!« (hier lächelte er ganz geheimnisvoll) »haben Sie schon Gelegenheit gehabt, eine der köstlichen Anstalten zu sehen, worein man die armen Teufel logiert, die so, verstehn mich schon, einen krummen Docht im Lichte brennen – nun? Kam Ihnen da nicht auch schon der Gedanke, wie es wäre, wenn sich etwa der Ideendunst, der von diesen Köpfen aufsteigen muß, oben an der Decke ansetzte, welche Figuren da in Fresko zum Vorschein kommen müßten? Was sagen Sie? Nolten hat sie alle kopiert, hä hä hä, hat sie sämtlich kopiert!«

»Sie scheinen«, erwiderte Leopold gelassen, »wenn ich Sie anders recht fasse, mehr die Gegenstände zu tadeln, unter denen sich dieser Künstler, nur vielleicht etwas zu vorliebig, bewegt, als daß Sie sein Talent angreifen wollten; nun läßt sich aber ohne Zweifel auf dem angedeuteten Felde so gut als auf irgendeinem das Charakteristische und das Rein-Schöne mit großem Glücke zeigen, abgeschmackte und häßliche Formen[23] jedoch, geflissentliches Aufsuchen sinnwidriger Zusammenstellungen kann man von Nolten nicht erwarten, ich kenne sein Wesen von früher und kam in der Absicht hieher, ihn mit einem gemeinschaftlichen Freunde, der auch Maler ist, zu besuchen und uns an seiner bisherigen Ausbildung zu erfreuen.«

Der alte Herr hatte diese Worte wahrscheinlich ganz überhört, denn er ging mit lautem Kichern nur wieder in den Refrain seines vorhin Gesagten über: »Hat sie sämtlich kopiert, ja ja, zum Totlachen! Ei, das muß er täglich von mir selber hören.«

In diesem Augenblicke trat Ferdinand, der Reisegefährte des Bildhauers, ein und rief diesem mit einem glänzenden Blicke voll Freude zu: »Er kommt! er folgt mir auf dem Fuße nach! Er ist der gute Nolten noch, sag ich dir! o gar nicht der achselblickende junge Glückspilz, wie man ihn schildern wollte. Stelle dir vor, er vergaß vorhin im Jubel über unsre Ankunft eine Einladung zum Herzog, mit dem er trefflichste hen muß, und eilte nur von der Straße weg, sich zu entschuldigen.«

Nach einiger Zeit erschien, in Begleitung eines andern, der Erwartete wirklich. Es war ein herzerfreuendes Wiedersehen, ein immer neu erstauntes trunkenes Begrüßen und Frohlocken unter den dreien. Wie ergötzten sich die Freunde an dem stattlichen Ansehen Theobalds, an dem reinen Anstande, den ihm das Leben in höherer Gesellschaft unvermerkt angehaucht hatte nur verbargen sie ihm nicht, daß die kräftige Röte seiner Wangen in Zeit von wenigen Jahren um ein Merkliches verschwunden sei. Er sah jedoch immer noch gesund und frisch genug neben seinem hageren Begleiter, dem Schauspieler Larkens, aus, den er soeben freundschaftlich produzieren wollte, als dieser sofort mit der angenehmsten Art sich selber empfahl und mit den Worten schloß: »Nun setz dich, liebes Kleeblatt! Ich werde mich mit eurer Erlaubnis bald auch zu euch gesellen, aber den ersten Perl- und Brauseschaum des Wiederfindens müßt ihr durchaus miteinander wegschlürfen! Ich sehe dort ein paar Spielerhände konvulsivisch fingern, das ist auf mich abgesehen.«

Damit setzte er sich zu dem alten Herrn in der Ecke, den unser Nolten erst jetzt gewahr wurde und nicht ohne Achtung begrüßte. »Sag mir doch«, fragte Leopold heimlich, »was für eine Art von Kenner das ist? Er hat die wunderlichsten Begriffe von dir.«

»Ach«, lächelte der Freund, »da kann ich dir wenig dienen. Das ist ein sehr kurioser Kauz, voll griesgrämischer Eigenheiten,[24] übrigens von viel Verstand, und mir immer ein lieber Mann. Er besitzt gute Kenntnisse von Gemälden, ist aber auf diesen Punkt von den einseitigsten Theorieen eingenommen. Aus einigen meiner Stücke soll er eine eigene Vorliebe und zugleich den unverhohlensten Widerwillen gegen mich gefaßt haben, den ich mir kaum zu enträtseln weiß. Denn daß ich es bloß als Künstler mit ihm verdorben habe, ist nicht wohl möglich, wenigstens täte er mir sehr Unrecht, indem der Vorwurf des Phantastischen, den er mir zu machen scheint, nur den kleinsten Teil meiner Erfindungen träfe, wenn es je ein Vorwurf heißen soll. Die meisten meiner Arbeiten bezeichnen in der Tat eine ganz andere Gattung. Ich vermute, der Mann hat irgendein geheimes Aber an meiner Person entdeckt, und ich muß ihn, ohne mir das geringste bewußt zu sein, mit irgend etwas beleidigt haben, das er mir nicht vergessen kann, so gern er möchte, denn es ist auffallend, sooft er mich ansieht, sträubt sich's auf seinem Gesicht wie Sauer und Süß.«

Auf diese Weise waren jene leidenschaftlichen Äußerungen einigermaßen erklärt, und es gab nun Veranlassung genug, sich gegenseitig über Geschäfte, Schicksale und mancherlei Erfahrungen auszutauschen. Sie durchliefen die Vergangenheit, erinnerten sich des Aufenthalts in Italien, wo sich vor drei Jahren ihre Bekanntschaft entsponnen hatte. Endlich fing Ferdinand an: »Du errätst wohl kaum, wo wir heute vor sechs Tagen um diese Stunde zu Gaste gesessen sind; in welchem Dörfchen, in welchem Stübchen und wer uns bewirtete?« »Nein!« sagte Nolten; aber ein aufmerksamer Beobachter würde in dieser kleinlauten Verneinung ein sehr schnell erratendes Ja gewittert haben. »Neuburg«, flüsterte Leopold freudig zuvorkommend und von der anderen Seite flog der Name »Agnes« über Ferdinands Mund. »Ich dank euch«, sagte Nolten, wie abbrechend, und verbarg eine unangenehme Empfindung.

»Was danken? du hast ja den Gruß noch nicht einmal in der Hand, den wir dir zu bringen haben!« – und hiemit sah er sich einen Brief entgegengehalten, den er mit erzwungenem Wohlgefallen zu sich steckte, indem er die beiden durch einen Vorsicht gebietenden Blick auf die Spieler für jetzt zum Stillschweigen zu vermögen suchte.

»So laß mich«, fuhr Ferdinand fort, »wenigstens des anmutigen Örtchens, laß mich des Försterhauses gedenken, wo du deine Knabenjahre bei einem zweiten Vater verlebtest, bis der[25] benachbarte Baron auf dem Schlosse, der gute lebendige Mann, für die Förderung deines Talents sorgte. Er lebt noch in frischem Marke, der ehrliche Veteran, er und der fromme Förster erinnerten sich mit Herzlichkeit jenes glücklichen Tages, da du mich, es sind nun drei Jahre her, nach unserer Rückkunft von der italienischen Reise, bei ihnen einführtest. Wahrlich, es hätte wenig gefehlt, so hätten die Alten geweint wie die Kinder bei deinem Namen, ein Paar anderer Augen nicht zu gedenken, die auch dabeistanden, und von denen es schien, als wollten sie sich im voraus recht satt sehen an mir und meinem Gefährten, an unsern Kleidern und Bündeln, weil das alles in fünf Tagen mit dem Geliebten in Berührung kommen sollte. Du pflegtest das Mädchen sonst immer dein blondes Reh zu nennen; wie treffend fand ich diesen Ausdruck wieder! ja, und das ist sie noch im lieblichsten rührendsten Sinne des Worts. Wie hätt ich gewünscht, den Umriß ihrer niedlichen Figur mit dem Bleistift in mein Portefeuille für dich wegzustehlen, wie ich sie so durch die halboffene Tür des Nebenzimmers am Tischchen sitzen und den Brief schreiben sah, den Rücken gegen uns gewendet, von der Seite kaum ein wenig sichtbar, allein der Baron war allzu gesprächig.«

»Du bist es auch«, erwiderte Nolten freundlich-böse, indem er aufstand und sich gegen den soeben herbeitretenden Larkens wandte. Dieser sagte: »Nun, wirst du die Herren nicht bewegen, sich diesen Abend in Dominos zu stecken und ein paar Stunden mit närrischen Leuten närrisch zu sein? oder machen wir's wie dort der Herr Hofrat, der an solchen Abenden hier im Gasthofe zu Nacht speist, und sich dann ein Zimmer vom Kellner anweisen läßt, um fünf Straßen weit vom Lärm des Redoutenhauses zu schlafen, das zum Unglücke seiner Wohnung gegenüberliegt? Ich dächte, ihr Herren, bevor Sie in den nächsten Tagen mit den hübschen Realitäten unserer Stadt Bekanntschaft machen, müßte es unterhaltend für Sie sein, heute im Maskensaale, sozusagen, die Fata morgana der hiesigen Menschheit zu sehen. – Verzeihen Sie mein hinkendes Gleichnis und folgen Sie meinem Vorschlage.« Es kostete Überredung, aber man entschloß sich und wünschte dem seltsamen Hofrate gute Nacht.


Nachdenklich, unbehaglich, ja traurig war Nolten mit den anderen vor den Türen des großen hellerleuchteten Gebäudes[26] angekommen, worin schon das mannigfaltigste Leben wogte und wühlte. Alle möglichen Gestalten, zum Teil in auffallendem Kontraste, drehten sich stumm, feierlich, fremde oder leise summend, kopfnickend und tanzend durcheinander. Unser trübe gestimmter Freund, schneller als er vermutete, von seinen Begleitern verloren, fühlte nach und nach in seiner Vermummung eine Art von dumpfem Troste, und wie mit seiner Umgebung, so spielte er gewissermaßen mit dem eigenen Herzen Versteckens, wobei er sich kaum bekannte, welche besondere Hoffnung ihn zwang, die Reihen der weiblichen Masken sorgfältiger zu mustern, als er sonst wohl getan haben würde. Das bescheidene Bild Agnesens, das ihn aus weiter Ferne sehnsüchtig und bittend anzulocken schien, trat mehr und mehr in den Hintergrund seiner Seele zurück, um einem ganz anderen Platz zu machen, das mit jeder neuen Entfaltung der glänzenden Gruppen leibhaftig aus der Menge hervortreten sollte. Constanze! sprach er für sich, wer entdeckt mir sie? Und doch wie wäre es möglich, daß ich aus tausend Drahtpuppen das einzige Wesen nicht sollte herausfinden können, das in der einfachsten, unwillkürlichsten Bewegung jene angeborene Grazie, jenen stets lächelnden Zauber verrät, den nur die ewig wahrhaftige Natur, den nur die Unschuld selber zu geben und so reizend und leicht mit der anerzogenen Sitte zu verschmelzen vermag! Ist nicht alles, was an ihr sich regt und bewegt, der unbewußte Ausdruck des Engels, der in ihr atmet? ist nicht alles nur Hauch, nur Geist an ihr? Und heute, eben heute, wie wohl täte mir ihr Anblick! wie wollte ich mich drei Sekunden mit allen Sinnen und Gedanken an dieser tröstlichen Erscheinung festklammern und davoneilen und mir zufrieden sagen, daß mein Auge sie sah, daß ihr Fuß einen und denselben Boden mit mir betrat, daß eine gemeinschaftliche Luft meine und ihre Lippen berührte!

Unter diesen und ähnlichen Gedanken hatte er sich endlich ermüdet auf einen Sitz in einem Fenster geworfen, als der Glockenschlag zehn Uhr ihn mahnte, sich mit den drei Freunden in einem zuvor abgeredeten leeren Zimmer des Hauses zusammenzufinden. Sie erschienen fast alle zu gleicher Zeit, und Larkens mit einer guten Ladung warmen Getränkes. Man freute sich aufs neue des Wiedersehens; jeder brachte seine eigenen Bemerkungen aus dem Saale mit, nur Nolten schien wenig oder nichts gesehen zu haben. Es war beinahe komisch, wie er auf die Fragen über eine oder die andere interessante Erscheinung[27] immer mit einem kleinlauten »ich weiß nicht« antwortete und zuletzt, um sich nicht gar auslachen zu lassen, nur so tat, als erinnerte er sich. »Wie gefiel dir der König Richard und der Herzog von Friedland?« »Recht gut«, war die Antwort, »sehr artig, bei meiner Seele! der bucklichte König hätte können besser sein.« – Larkens, indem er den andern mit den Augen winkte, machte den Schalk und sagte:

»Ein Stückchen ist aber doch wohl allen entgangen. Ein Riese in altdeutscher Tracht, ohne Zweifel einen Studenten vorstellend, geht mit langen Sporen und der Tabakspfeife schwerfällig auf und ab; endlich, da er in einer Ecke stehenbleibt, eilt ein winziges Kerlchen herbei, ein kleiner Schornsteinfeger in einer Art von Hanswursttracht, schwarz und weiß gewürfelten Beinkleidern und Wämschen, bindet den Riesen, legt das schwarze Leiterchen an den breiten Rücken des Mannes an, klettert flink mit Scharreisen und Besen hinauf, hebt ihm vorsichtig den Scheitel wie einen Deckel ab, und fängt nach allerlei bedenklichen Grimassen an, den Kopf recht wacker auszufegen, indem er einen ganzen Plunder symbolischer Ingredienzien herauszieht, z.B. einen täuschend nachgemachten Wurm von erstaunlicher Länge, ein seltsam gezeichnetes Kärtchen von Deutschland, eine ganze und dann mehrere zerbrochene Kronen, kleine Dolche, Biergläser, Bänder und dergleichen. Dagegen wurden andere Sächelchen hineingelegt, worunter man ein griechisches ABC-Buch zu erkennen glaubte; der Kopf wurde geschlossen, dann bekam der ganze Mann ein wenig Streiche und nach einer Weile kroch ein ganz vergnügtes, bescheidenes, rundes Pfäfflein aus der prahlerischen Hülle hervor.«

Die Freunde lachten im stillen über die echt Larkenssche Lüge (die eigentlich nur ein versteckter Hieb auf den Übermut burschikoser Studenten überhaupt war, deren einer vorhin im Saale sich durch Streitsucht prostituiert hatte), und man genoß heimlich den Triumph, daß Nolten ganz die Miene annahm, als hätte er die Farce gar wohl gesehen, obgleich nicht von weitem etwas Ähnliches vorgekommen war.

Indessen wurde die Aufmerksamkeit der Freunde durch eine wirkliche Maske angezogen, welche sich unversehens im Zimmer befand. Es war eine hohe Gestalt, einfach in ein grob braunes schweres Gewand gehüllt, eine Laterne und einen Stock in der Hand, den Kopf bedeckte eine Kapuze. Haltung, Anstand und der tief herabfallende weiße Bart, alles gab der[28] Person etwas Ehrwürdiges, Staunenerweckendes. Wie sie so eine Zeitlang gestanden, ohne daß von beiden Seiten ein Wort fiel, begann die Maske mit angenehmer Stimme, worin man jedoch trotz einer gewissen Dumpfheit gar bald das Frauenzimmer unterscheiden konnte, folgendermaßen:

»Ihr kennet mich nicht, meine Herren, aber euer Aussehen sagt mir, ich sei in keiner frivolen Gesellschaft. Schwerlich seid ihr gesonnen, diese ernste Nacht, die Geburtsstunde eines neuen Jahres, in gedankenlosem Rausche hinzubringen. Wollte es euch gefallen, ein Stündchen mit mir in frommer Unterhaltung zusammenzusitzen, so bezeichne ich euch einen traulichen Ort. In meiner Kleidung erkennet ihr den Wächter der Nacht. Es stoße sich niemand an dem sonst verachteten Titel. Ich bin der Geist dieser Zunft, ich nenne mich den König der Wächter dieses Landes. Mancher fromme Angehörige meines nächtlichen Staats wird euch von meinem Dasein, meinem Tun und Treiben erzählt haben. Heute mit dem zwölften Glockenschlage wird es hundert Jahre, seit ich die Dörfer und Städte des Reiches besuche, unter heiterem Sternenhimmel, wie im wilden Wintersturme. Vor Mitternacht werd ich im Wächterstübchen auf dem Turme der Albanikirche sein.«

Hiemit neigte er sich und ging mit kaum vernehmlichem Tritte hinweg.

Einstimmig war man geneigt, der sonderbaren Einladung zu folgen, was ihr auch immer zugrunde liegen möge; an einen bösartigen Scherz oder ein gemeines Abenteuer sei hier auf keinen Fall zu denken, und auf einen vergeblichen Gang könne man sich ja gefaßt halten. Ohne die treuherzige Miene und die große Neugierde, womit auch Larkens die Sache aufnahm, hätte leicht der Verdacht einer Mystifikation auf ihn fallen können, denn sein Humor war bekannt genug, er hatte ihn mit Unrecht in den Ruf eines bösartigen Spötters und Intriganten gebracht, wozu mitunter auch sein Äußeres beitrug, sowenig eben eine gelbe Hautfarbe und ein paar schwarze blitzende Augen häßlich, oder das lauernde Lächeln um den Mund gefährlich war. Es war einer von den Menschen, die man auf den Grund kennen muß, um sie nicht zu fürchten. Als Schauspieler und Sänger schätzte man ihn sehr, er wäre der Liebling des Publikums gewesen, hätte er nicht die rätselhafte und hartnäckige Grille gehabt, das Fach des Komischen, wozu er durchaus geboren war, mit ernsten Rollen zu vertauschen, die er, ohne es selbst[29] zu fühlen, nur mittelmäßig ausfüllte. Zuweilen schien sich die unterdrückte Neigung seiner Natur durch eine unwiderstehliche Sehnsucht nach dem Lustspiele rächen zu wollen, und es war immer eine Festtagsbeute für die Kasse, wenn der Name Larkens bei einer Holbergschen oder Shakespeareschen Komödie auf dem Zettel stand. Dann hatte es aber auch das Ansehen, als wäre der Gott des Scherzes selbst in den entzückten Mann gefahren. Der Beifall der Verständigen und zuletzt auch des gemeinen Volks war ihm um so gewisser, je bescheidener die strotzende Ader der komischen Kraft innerhalb der feinen Schönheitslinie blieb, die nur der echte Künstler, vom richtigsten Takte geleitet, zwischen Begeisterung und Weisheit hinzuziehen weiß. Statt, wie so mancher an seinem Platze, immer gleichsam auf erhitztem Boden zu gehen, schien Meister Larkens nur von einer sanften Wärme belebt, die ihm die Grazien angehaucht, und die Funken des Genies, welche er auswarf, entzündeten keineswegs ihn selber. Maßhaltung blieb immer die Seele seines Spiels, aber sie verdiente um so mehr Bewunderung, wenn es wahr ist, was genauere Freunde behaupteten, daß seine humoristische Stimmung jederzeit nur die günstige Krise eines schmerzhaft bewegten und gedrückten Gemütes war. Wie dem auch sein mag, die Direktion besoldete ihn eigentlich nur um dieser außergewöhnlichen Darstellungen willen, und ließ ihn im übrigen, weil er nicht gezwungen werden konnte, gewähren.

Die viere waren schon nach eilf Uhr auf dem Albaniturme angekommen. Außer dem Türmer, seiner Frau und Kindern saßen in dem Stübchen um die einzige Lampe her noch einige junge Stadtmusiker, die nach althergebrachter Sitte um Mitternacht ein Lied auf der Galerie abzublasen hatten. Die neuen Gäste wurden gar freundlich aufgenommen, zumal sie für eine Kollation mit Wein gesorgt hatten. Nach einem allgemeinen Gespräche fanden die Freunde durch einige beiläufige Fragen zu ihrer nicht geringen Verwunderung, daß die Sage von einem gespensterhaften Nachtwächter dem Aberglauben dieser Leute längst nichts Fremdes war, wiewohl sie die Versicherung, man habe heute einen Besuch der Art zu erwarten, bloß für einen angelegten Spaß der Herren nehmen wollten. Indessen kam die Unterhaltung auf ähnliche Märchen und Geschichten, wahre Leckerbissen für Larkens, und selbst Nolten konnte sich seine Musterkarte phantastischer Stoffe mit manchem neuen Zuge[30] bereichern, wäre er weniger stumpf gegen alles gewesen, was seiner gegenwärtigen Laune keine Nahrung gab. Desto aufmerksamer waren die übrigen, die in solchen Erzählungen gleichsam einen abenteuerlichen Widerschein jener bunten Gaukelbilder des Maskensaals zu finden glaubten. Ein solches Geschichtchen aus dem Munde eines jungen hübschen Burschen aus der Gesellschaft war auch folgendes:

»In der Lohgasse, wenn sie den Herren bekannt ist, wo noch zwei Reihen der urältesten Gebäude unserer Stadt stehen, sieht man ein kleines Haus, schmal und spitz und neuerdings ganz baufällig; es ist die Werkstatt eines Schlossers. Im obersten Teile desselben soll aber ehmals ein junger Mann, nur allein, gewohnt haben, dessen Lebensweise niemandem näher bekannt gewesen, der sich auch niemals blicken lassen, außer jedesmal vor dem Ausbruche einer Feuersbrunst. Da sah man ihn in einer scharlachroten, netzartigen Mütze, welche ihm gar wundersam zu seinem todbleichen Gesichte stand, unruhig am kleinen Fenster auf und ab schreiten, zum sichersten Vorzeichen, daß das Unglück nahe bevorstehe. Eh noch der erste Feuerlärm entstand, eh ein Mensch wußte, daß es wo brenne, kam er auf seinem mageren Klepper unten aus dem Stalle hervorgesprengt und wie der Satan davongejagt, unfehlbar nach dem Orte des Brandes hin, als hätt er's im Geist gefühlt. Nun geschah's –«

»Ei, so laß dein langweilig Geschwätz!« fiel dem Erzähler ein Kamerade in die Rede, »und sing das Stückchen lieber in dem Liede, das du davon hast, laut't ja viel besser so und hat gar eine schöne schauerliche Weise. Sing, Christoph!«

Der Bursche sah die Gäste verlegen an, und da sie ihm begierig zusprachen, begann er alsbald mit einer klangreichen, kraftvollen Stimme:


»Sehet ihr am Fensterlein

Dort die rote Mütze wieder?

Muß nicht ganz geheuer sein,

Denn er geht schon auf und nieder.

Und was für ein toll Gewühle

Plötzlich, auf den Gassen schwillt –

Horch! das Jammerglöcklein grillt:

Hinterm Berg, hinterm Berg

Brennt's in einer Mühle!
[31]

Schaut, da sprengt er, wütend schier,

Durch das Tor, der Feuerreiter

Auf dem rippendürren Tier,

Als auf einer Feuerleiter;

Durch den Qualm und durch die Schwüle

Rennt er schon wie Windesbraut,

Aus der Stadt da ruft es laut:

Hinterm Berg, hinterm Berg

Brennt's in einer Mühle!


Keine Stunde hielt es an,

Bis die Mühle borst in Trümmer,

Und den wilden Reitersmann

Sah man von der Stunde nimmer;

Darauf stille das Gewühle

Kehret wiederum nach Haus,

Auch das Glöcklein klinget aus:

Hinterm Berg, hinterm Berg

Brennt's! –


Nach der Zeit ein Müller fand

Ein Gerippe samt der Mützen,

Ruhig an der Kellerwand

Auf der beinern' Mähre sitzen.

Feuerreiter, wie so kühle

Reitest du in deinem Grab!

Husch! da fällt's in Asche ab –

Ruhe wohl, ruhe wohl,

Drunten in der Mühle!«


Schon vor dem Schlusse des Gesanges öffnete sich die Tür und leise trat die Gestalt des Nachtwächters herein. Er blieb unbeweglich an der Wand hingepflanzt stehen, während der erschrockene Sänger, im Begriffe abzubrechen, auf einen Wink des Larkens mit der letzten Strophe fortfuhr, deren Eindruck durch die Gegenwart dieses fremden Wesens entweder nur um so mehr erhöht wurde oder ganz verlorenging.

Jetzt begrüßte der sonderbare Gast mit Würde die Anwesenden, und wenn sich auch anfangs einige Verlegenheit von seiten der Freunde bemerken ließ, so war doch bald eine ebenso natürliche als eigentümliche Unterhaltung eingeleitet. Man[32] sprach vom geheimnisvollen Reize des Wohnens auf Türmen, von dem frommen und großen Sinn des Mittelalters, wie er sich in den Formen der Baukunst, der heiligen besonders, offenbarte, und dergleichen mehr. Die Gegenwart des Unbekannten, so sparsam bis jetzt seine Worte waren, übte dennoch den größten Einfluß auf die Bedeutung und die steigende Wärme des Gesprächs. Die hohl aus der Maske tönende Sprache und der ruhige Ernst der durchblickenden, dunkel feurigen Augen konnte sogar ein vorübergehendes Grauen erregen und einen momentanen Glauben an etwas Übermenschliches aufkommen lassen.

Auf einmal erhob sich der Unbekannte, öffnete ein Fenster und sah in die klare Winterluft hinaus, indem er sagte: »Noch eine kurze Weile, so ist der Sand verlaufen, hoch emporgehalten schwebe der Faden der Zeit. Kommt hieher und fühlet, wie es schon frisch herüberduftet aus der nahen Zukunft!«

Jetzt schlug das letzte Viertel vor zwölf Uhr. Die Zinkenisten schlichen mit ihren Instrumenten auf die Galerie, und schon ließen sich von der entfernten Paulskirche herüber einige sanfte, fast klagende Töne vernehmen, die von unserer Seite anfänglich in schwachen, dann in immer stärkeren Akkorden erwidert wurden; jene bezeichneten das scheidende, diese das erwachende Jahr, und beide begegneten sich in einer Art von Wechselgesang, der am lebhaftesten wurde, als endlich die Glocken von verschiedenen Seiten her die Stunde ausschlugen; die diesseitige Partie ging in freudige Melodien über, während es von drüben immer schmerzlicher und wehmütiger klang, bis mit dem fernsten Glöckchen, das wie silbern durch die reine Luft erzitterte, die traurigen Klarinetten den letzten sterbenden Hauch versandten. Nun erfolgte eine Pause, und jetzt erst trat das vorhandene Jahr im siegreichsten Triumphe hervor.

Nachdem alles still geworden und die Gesellschaft wieder traulich um den Tisch versammelt war, ergriff man das freundliche Anerbieten des idealistischen Wächters, etwas aus seinem Tag- oder Nachtbuch vom vorigen Jahre mitzuteilen, mit allgemeinem Beifalle. Er zog ein mit sonderbaren Charakteren geschriebenes Heft hervor, welches unter regelmäßigen Daten, abgerissene Bemerkungen und Gedanken zu enthalten schien, wie sie ihm auf seinen nächtlichen Wanderungen, auf den Straßen der Städte und Dörfer sich dargeboten haben mochten; charakteristische Bilder aus den verschiedensten Verhältnissen[33] und Zuständen der Menschen. Wir übergehen den größten Teil seiner Vorlesung und führen bloß eine Stelle an, die auf Nolten um so tiefern Eindruck machte, je vielsagender der Blick war, womit Larkens ihn darauf aufmerksam zu machen suchte.


*


»Nacht vom 7. auf den 8. Januar im Dorfe *.


– – Ich trete vor ein reinlich gebautes Haus; ich kenne es wohl; es wohnen glückliche Menschen darin. In harmloser Stille blühet hier eine Braut, deren Verlobter ferne lebt. Vergönne mir, du Haus des Friedens, einen Blick in deine Gemächer. Mein Auge ist geheiligt wie das eines Priesters; hundert Jahre schon belauscht es die Nächte der Könige dieses Landes und die Schlummerstätten der Armen im Volk, und meine Gebete erzählen dem Himmel, was ich gesehen. Sieh da! was zeigt mir mein magischer Spiegel? Es ist die Kammer des Mädchens. Wie ruhig atmet die Schlafende dort! Ihr liebliches Haupt ist hinabgesunken nach der Seite des Lagers. Der Mond schaut durch das kleine Fenster; mit einem Strahle berührt er eben das unschuldige Kinn der Schläferin. Eine Hyazinthe neigt ihre blauen Glocken gegen das Kissen her und mischt ihren Duft in die Frühlingsträume der Braut, indes der Winter diese Scheiben mit Eise beblümt. Wo mögen ihre Gedanken jetzo sein? Auf diesem Teppiche sind seltsame Figuren eingewoben, hundert segelnde Schiffe. Vielleicht auf diesen Bildern ruhte ihr sinnendes Auge noch kurz, eh sie die Lampe löschte, nun träumt sie den Geliebten in die wilde See hinaus verschlagen und ihre Stimme kann ihn nicht erreichen. O besser, daß er in die Tiefe des Meeres versänke, als daß du ihn treulos fändest, gutes Kind! Aber du lächelst ja auf einmal so selig, träumst ihn im Arme zu halten, seinen Kuß zu fühlen. Vielleicht in dem Augenblicke, da du mit seinem Schatten spielest, sucht er wachend ein verbotenes Glück und treibt schändlichen Verrat mit deiner Liebe. Aber immer noch seh ich dich freundlich; du arglose Seele, ach wohl, es ist auch unerhört und fast unglaublich; was sucht er denn, das er bei dir nicht fände? Schönheit und Jugendreiz? ich weiß nicht, was die Sterblichen so nennen, aber hier darf selbst der Himmel wohlgefällig über seine Schöpfung lächeln. Verstand und Geist? O schlüge sich dies Auge auf! aus seiner dunkelblauen Tiefe leuchtet mit Kindesblick die Ahnung jedes höchsten Gedankens. Wie, oder Frömmigkeit? die Frage klingt[34] wie Spott auf ihn. Ihr bescheidnen Wände zeuget, wie oft ihr sie habt knieen sehn im brünstigen Gebet, wenn alles rundum schlief! – – Bist ernst geworden, mein Töchterchen; wie seltsam wechselt dein Traum! Ach, nur zu bald wirst du weinen. Gott helfe dir. Gute Nacht.«


*


Dies war die auffallende Stelle, die Nolten mit heimlichem Unmute gegen Larkens anhörte, denn nun zweifelte er nicht mehr, daß dieser das Ganze veranstaltet hatte. Was noch weiter aus dem Hefte vorgetragen wurde, war ohne besondere Beziehung, und der Vorleser hörte eben zur rechten Zeit auf, als die Ungeduld Noltens am höchsten war. Der letztere konnte kaum erwarten, bis man auseinanderging und er Gelegenheit fand, dem Larkens einige Worte zuzuflüstern, die ihm wenigstens andeuten sollten, wie wenig jener Wink am Platze gewesen. »Ich danke dir«, sagte er mit beleidigtem Tone, indem sie die Treppen des Turmes hinabstiegen, »ich danke dir für deine wohlgemeinte Zurechtweisung in einer Sache, worin ich übrigens füglich mein eigener Richter sein könnte. Ich habe mich dir schon früher im allgemeinen darüber erklärt, du scheinst mich aber nicht verstanden zu haben. Verlang es, und ich will mich weitläufiger vor dir rechtfertigen.«

»Fürs erste«, antwortete der Freund halb lächelnd, »berg ich dir meine Freude darüber keineswegs, daß du meinen versteckten Ausfall auf dein Gewissen nicht spaßhaft aufgenommen, so seltsam auch die Komödie war; aber es täte mir auf der andern Seite ebenso leid, wenn du einen Popanz oder selbstgefälligen Sittenrichter in mir erblicken wolltest. Niemand würde sich mit weniger Recht hiezu aufwerfen, als ich, der ich selber erst vor kurzem dem Teufel entlaufen bin und drei Viertel meines Seelenheils an ihn verloren habe, aber ich schwör ihm auch das letzte teure Restchen vollends zu, wenn ich daran lügen sollte, daß ein uneigennützig Mitleid mit jenem liebenswürdigen Geschöpfe, ja mit euch beiden, mich zwinge alles aufzubieten, was deine unselige Entfremdung von dem Mädchen hintertreiben kann.«

»Gut, wir sprechen uns bald mehr darüber«, sagte Nolten, und wollte ihm freundlich die Hand drücken, was jedoch Larkens nach seiner Art schnell abtat, weil ihn der geringste Anschein von Sentiment zwischen Freunden immer verlegen und ärgerlich machte.[35]

Nachdem man die beiden auswärtigen Freunde bis zu ihrem Quartiere begleitet und die nächste Zusammenkunft abgeredet hatte, gingen die andern, welche in einem Hause und auf demselben Boden wohnten, ziemlich einsilbig ihre gemeinschaftliche Straße.


Unser Maler fand zwischen den eigenen Wänden jene Wohltat ungestörter Einsamkeit, nach welcher er sich vor wenigen Minuten so ungeduldig hingedrängt hatte, keineswegs. Die Eindrücke dieser letzten Stunden waren zu mannigfaltig, zu mächtig, zu entgegengesetzt, als daß er hoffen konnte, sie zu ordnen, sich ihrer mit Vernunft zu bemeistern. Er schickte den Bedienten, der ihn auskleiden sollte, zu Bette, und saß eine Weile unschlüssig, den Kopf in die Hand gestützt, den Blick auf die ruhige Flamme der vor ihm brennenden Kerze geheftet. Erst der Anblick jenes unwillkommenen Briefs (er lag noch uneröffnet auf dem Tische) schien seinem Unmut, seinem Grame eine entschiedene Gestalt zu geben. »Oh!« brach er aus, »muß heute sich alles herzudrängen, mich zu peinigen? soll ich nicht zu mir selbst kommen? Was kann sie wollen mit dem Briefe? muß sie nicht fühlen, wir sind getrennt auf immer, muß sie's nicht? Ja, wenn dies wirklich der Inhalt dieses Blattes wäre! Könnt ich's nur ahnen aus den Zügen dieser Aufschrift! Doch, die sind treu und gut, und blicken schmeichelhaft wie in den glücklichen Tagen – Nein, nein, ich wag es nicht, dies Siegel zu erbrechen.«

Er stand plötzlich auf und suchte die Gesellschaft des Freundes. Zu seinem Troste traf er ihn noch wach am Kamine sitzend und nicht minder geneigt, die wenigen Stunden bis zum Tagesanbruch vollends in vertrautem Gespräche zuzubringen. »Recht, daß du kommst!« hieß es, »du triffst mich mit ernsthaften Betrachtungen über dich, beschäftigt. Es wäre gar schön von dir, wolltest du mich jetzt ein wenig tiefer in deine Karten schauen lassen, denn nach dem, was du heute gemunkelt, sollte man ja beinahe glauben, daß deine Erkältung gegen Agnes noch ihre absonderlichen Ursachen habe, wiewohl ich immer bloß die Symptome eines ganz ordinären Liebesfrosts an dir zu bemerken meinte, der sich selten anders erklären läßt, als im allgemeinen aus einem gewissen Defizit von Wärme. In der Folge mag denn auch Gräfin Constanze einigen Einfluß gehabt haben; was? oder hätte sie wirklich schon alles wie mit Besemen gekehrt in deinem Herzschrank angetroffen?«[36]

»Laß uns nicht leichtsinnig von einer ernsthaften Sache reden!« versetzte Nolten, »nein, glaub es, Alter, mein Verhältnis zu Agnes fand den Grund seiner Zerstörung nicht ebenda, wo ihn dein Scharfsinn mit soviel Zuversicht entdecken will. Du hättest mir die Ursache längst abmerken können; eine ausführliche Entwicklung der verhaften Geschichte war mir zu verdrießlich, und zudem mag mich eine dumme Scham abgehalten haben, über die ich nicht gebieten konnte. Mich von einem kindischen Geschöpfe so genarrt, so gekränkt zu wissen! mich selber so zu narren, so zu täuschen! Höre nun; du weißt, was mich an das Mädchen gefesselt hatte, was ich alles in ihr suchte, tausendfach fand; aber dir ist nicht bekannt, wie sehr mich meine Rechnung zuletzt betrog. Siehst du, wenn äußerste Reinheit der Gesinnung, wenn kindliche Bescheidenheit und eine unbegrenzte Ergebung von jeher in meinen Augen für die Summe desjenigen galt, was ich von einem weiblichen Wesen verlangen müsse, das ich immer sollte lieben können, so ist der Eigensinn begreiflich und verzeihlich, womit sich mein Herz verschloß, sobald jene Eigenschaften anfingen, sich im geringsten zu verleugnen; denn je gemäßigter meine Ansprüche in jedem andern Sinne waren, desto beharrlicher durften sie sein in dieser einzigen Rücksicht, mit welcher nach meinem Gefühle der schönste und bleibendste Reiz aller Weiblichkeit wegfällt.«

»Ha ha ha!« lachte der Freund, »deine Forderungen sind bescheiden, und doch auch impertinent groß von Weibern der jetzigen Welt!«

»Oh«, fuhr der andere fort, »o Larkens! ja verlache mich, denn ich verdien's! daß ich der Tor sein konnte, zu glauben an die Unwandelbarkeit jener ursprünglichen Einfalt, die mir unendlichen Ersatz für jeden glänzenden Vorzug der Erziehung gab! Wo blieb doch jener fromm genügsame Sinn, den auch die leise Ahnung nie beschlich, daß es außer dem Geliebten noch etwas Wünschenswertes geben könne? jene ungefärbte Wahrheit, welche auch den kleinsten Rückhalt nicht in sich duldet, jene Demut, die sich selbst Geheimnis ist? Das alles lag einst in dem Mädchen! Wie heimlich und entzückt belauscht ich nicht zu tausend Malen das reine Aderspiel ihres verborgensten Lebens! Durchsichtig wie Kristall schien der ganze Umfang ihres Daseins vor mir aufgeschlossen und auch nicht ein unebener Zug ließ sich entdecken. Sprich! mußte darum nicht der erste Schatten weiblicher Falschheit mich auf ewig von ihr schrecken?[37] Mein Paradies, gesteh ich, Larkens! war vergiftet von diesem Augenblicke. Kann ich es ändern? kann sie es ändern? Sie selbst mag zu entschuldigen sein, auch ich entschuldige sie, aber die Bedeutung des Ganzen ist mir verloren, ist weg, unwiderbringlich. Und wenn ihre Liebe, göttlich neugeboren, mir entgegenweinte, ich müßte die Hände sinken lassen, sie fände ihre alte Wohnung nicht mehr.«

Larkens schwieg einige Zeit nachdenklich. »Aber«, fing er nun an, »was verbrach denn das Mädchen eigentlich? wo streckte denn der Satan, der in sie gefahren sein soll, zuerst sein Horn heraus? wo sind die Indizia?«

»Meinst du«, fuhr Nolten fort, »es sei mir nicht schon fatal gewesen, da es bereits vor einem Jahre bei meinem letzten Besuch in Neuburg sehr deutlich das Ansehen hatte, als ob dem Närrchen bange würde um eine genügende Versorgung durch mich? und wenn mir der Vater mit kritischem Gesichte zu verstehen gab, es wolle nirgends recht fort mit meiner Kunst, mit meinem Erwerbe, er selber könne uns nur wenig unter die Arme greifen, ich möge mich doch wohl bedenken, ob ich mir eine Familie zu nähren getraue, und was des Geschwätzes mehr war, so nahm das Töchterchen mich zwar zärtlich genug in eine Ecke, küßte mir die Runzeln von der Stirn, lächelte und verbarg doch nur mit Müh und Not ihre Sorgen, ihre Tränen. Das ließ ich denn so gehen und hielt's ihnen zugute. Aber bald nachher, verflucht! die garstige Niederträchtigkeit!«

»Nun?«

»Ein zierlicher Laffe kam ins Haus, Geometer, oder was er ist, ein weitläufiger Vetter aus der benachbarten Stadt. Mir ward von freundschaftlicher Hand ein Wink gegeben, daß man sich in dem Burschen, nur auf gewisse Fälle, ein Schwiegersöhnchen reservieren wolle.«

»Ist nicht möglich das!« rief Larkens erschrocken aufspringend.

»Und ist gewiß. Zwar Agnes wußt anfangs nicht um den saubern Plan, man wollt abwarten, ob ihr's Mäulchen nicht selber überliefe, man steckte die Leutchen recht geflissentlich zusammen, daß dem Mädel zuletzt wirklich schwindlig ward denn mein Rival trug ohne Zweifel eine brillante Vorstecknadel, wußte treffliche Dinge von Bällen und dergleichen zu erzählen, wunderte sich recht mitleidig, daß Fräulein Agnes an[38] solchen Herrlichkeiten keinen Teil nehme, worauf denn das gute Schäfchen sich ebenfalls im stillen verwunderte, sich ganz tiefsinnig in die neue prächtige Welt verguckte, von welcher sie auf ihrem stillen Waldhäuschen bisher das mindeste nicht geahnt. Mir entdeckten jedoch ihre sehr liebreichen, wiewohl etwas sparsamen, Briefe nichts von diesen Visionen, die Wischchen waren lieb und simpel und treuherzig, wie sonst auch, rochen weder nach eau de Portugal noch de mille fleurs, sondern es war genau der alte echte Maiblumen- und Erdbeernduft – aber den höllischen Gestank brachten mir die Briefe sehr ehrenwerter Personen unter die Nase; dort ist von musikalischen und andern Notturnis, von Rendezvous im Gärtchen, kurz von allerliebsten Sachen die Rede, die ich zuerst unglaublich und bis zur Desperation abscheulich, dann aber ganz natürlich und zum Totlachen plausibel fand.«

»Die Briefe, von wem denn?«

»Sie sind – gleichviel.«

»Das nun eben nicht, mein Bester!«

»Nun ja, ich bin den Personen eine gewisse Diskretion schuldig.«

»Nur ungefähr; männlich? weiblich? oho! nun rar ich den Pfeffer; die Episteln hat der Neid diktiert.«

»Unwürdiger Verdacht! Und ich hab außerdem Beweise, die – o laß mich schweigen, laß mich vergessen! nur jetzt verschone mich, du siehst ja, wie mich's martert!«

»Aber was sagte Agnes zur Entschuldigung?«

»Nichts, und ich macht ihr keinen Vorhalt.«

»Alle Teufel! bist du verrückt? du stelltest sie nicht zur Rede?«

»Mit keiner Silbe. Der Herr Papa, in Furcht, ich habe Wind erhalten von dem Spaß, kam mir mit Rechtfertigungen zuvor, vielleicht weil ihm der Reukauf angekommen. Da versteigt er sich nun in den rührendsten psychologischen Subtilitäten, als gälte es eine Preisaufgabe, den Leichtsinn einer läppischen Dirne wieder zu Ehren zu bringen. Er ruft sogar die Medizin zu Hülfe; es ist wahr, das Mädchen war kurz vorher krank, aber was, zum Henker! hatten die Nerven meiner Braut mit dem Geometer zu schaffen? Kurzum, ich weiß nun, was ich von allem zu glauben habe. Ich schrieb ihr, wie du weißt, seit sechs Monaten nicht mehr, und hoffte zuletzt, auch sie habe stillschweigend resigniert, allein der Alte mag von Verbesserung[39] meiner Umstände gehört haben: nun erhalt ich gestern unerwartet einen Wisch durch Ferdinand – da!«

Larkens griff hastig nach dem Briefe, und zwar mit einer Bestürzung, die nur in diesem Augenblicke dem Freunde entgehen konnte. Nolten drang ihm die Papiere beinahe bittend auf, indem er wiederholt sagte: »Behalt es, vergrab es bei dir, bester einziger Larkens! und wenn es möglich ist, verschone mich mit seinem Inhalt, antworte statt meiner, nicht wahr, du tust mir die Liebe? O wie mir nun wieder leicht ist, seit ich des Quarks los bin! – Alter, komm, laß Wein bringen! Wollen uns einmal wieder lustig machen. Der Tag schläft noch fest. Laß diese trübe Lampe mit unsern verdüsterten Geistern sich im Karfunkel des Burgunders spiegeln!«

In kurzem stand eine kühle Flasche auf dem Tische. Man suchte einige Lieblingsmaterien der Kunst auf und war bald im Feuer des Gesprächs. Mit der Morgendämmerung trennte man sich, um noch eine kurze Ruhe nachzuholen.

»Noch eins!« rief Theobald unter der Tür, »wer war denn der Vermummte auf dem Albaniturm?«

»Frag mich jetzt nicht; es ist gleichgültig; du sollst's ein andermal erfahren. Schlaf wohl.«

Nolten war auf seinem, vom Frühlichte blaß erhellten Schlafzimmer angekommen. Er will sich soeben aufs Bette werfen als ihm an dem spanischen Hute, welchen er gestern auf dem Balle gebraucht, eine Zierde auffällt, die ihm völlig fremd ist; die rote Blüte einer Granate, der Natur täuschend nachgemacht. Das Blut steigt ihm in die Wange, eine plötzliche Ahnung schießt ihm durch den Kopf – »von ihr! von ihr! o sicherlich von dir, Constanze!« rief er aus. »Die Liebe deutet mir das rätselhafte Wort, das du vor wenig Tagen, halb Scherz, halb Ernst, gegen mich hast fallenlassen. Die Blüte der Granate – war's nicht so? Ja, so war's! Und nun heute nacht – stutzte mein Auge nicht mehr als einmal an der Blumen austeilenden Gärtnerin und ihrem kleinen Diener? So ist sie's doch gewesen! gewiß, der Junge hat mir's angesteckt, wie ich verdrießlich in jenem Fenster saß. Sie muß ihm den Wink gegeben haben. So erkannte sie mich doch. Du Engel! Engel! Und du, mein seliges Herz! ja hoffe nur und hoffe kühn! das ist ein teures, unschätzbares Merkzeichen. Mir beginnt ein neues Leben! Herauf, du schläfriger Morgen! O warum stürzt die Sonne sich nicht prächtig und entzückt mit einemmal über den schattenden Berg, da[40] mich ein Wunder glücklich macht? Du grauer Tag, wie blickst du seltsam in die glühende Blätterkrone dieses geborstenen Kelchs! Lieber, grauer Tag, wahrsage mir nicht Schlimmes mit dieser gelassenen Miene! und willst du neidisch sein, so wiß es nur und ärgre dich – sie liebt mich! Mich! Ja, sie – mich!«


Indessen hatte Larkens das ihm übergebene Briefchen Agnesens geöffnet und gelesen, es war ein einfacher Gruß, wobei sie Theobalden aufs lebhafteste dankt für sein letztes Schreiben, welches jedoch, die Wahrheit zu sagen, von ganz anderer Hand, und, wie so manche frühere Sendung, bloß unterschoben war.

»Du bittest mich«, sagte Larkens nach einer Pause gerührten Nachdenkens vor sich hin, »du bittest mich, armer Freund, ich soll das Blättchen bei mir vergraben, soll den Knoten zerhauen, soll deine ganze verleidete Sache über Hals und Kopf der Vergessenheit überliefern, und so alles mit einem Male gutmachen. Ich will gutmachen, aber auf ganz andere Art als du denkst, und Gott sei Dank, daß mir nicht jetzt erst einfällt, diese Sorge auf mich zu nehmen. Wie preis ich den Genius, der mir gleich anfangs das Mittel eingab, dem guten Kinde deinen Wankelmut zu verbergen, ihm durch eine leichte Täuschung allen Schmerz, alle Angst zu ersparen, und, wenigstens solange sich noch Heilung für den Verblendeten hoffen läßt, das holde Geschöpf im schönen Traum seiner Liebe zu lassen. Aus einem Verhältnisse zu der Gräfin kann offenbar nichts werden, tausend Umstände sind dagegen; Constanze selber, wie ich sie kenne, hat nicht den entfernten Gedanken an so etwas, kann ihn gar nicht haben. Theobald wird müssen seiner Leidenschaft entsagen lernen, ich seh alles voraus, es wird tief bei ihm einschneiden – schad't nichts, das soll mir ihn zu sich selbst bringen, soll mir ihn weich machen für Agnes; er wird dem Himmel danken, wenn ihm das weggeworfene Kleinod erhalten blieb. Für jetzt wär's Unsinn, ihm die Gräfin gewaltsam vom Herzen reißen zu wollen; ich hoffe, es ist nur ein Übergang, und ich müßt ihn schlecht kennen, oder es kann ihm in die Länge selbst nicht schmecken. Auf jeden Fall läßt er mich ja an allem teilnehmen, was etwa mit ihm und Constanzen vorgeht, und Larkens ist bei der Hand, wenn Feuer im Dach auskommen sollte; überdies will ich meinen Leuten so genau aufpassen, daß mir nichts in die Quere laufen soll. Das erste ist nun, ich muß wissen, was an dem Märchen mit Agnes ist;[41] gewiß irgendeine verleumderische Teufelei, und mein vortrefflichster Nolten hat in der blinden Hitze einmal wieder danebengeschossen; ich lasse mich rädern, das ist's. – Hm! freilich, hätt ich nur ein einzig Mal das Mädel mit diesen meinen Augen gesehen! aber so, was bürgt mir für sie? Man hat Beispiele, daß so ein Engelchen auch einmal einen schlechten Streich macht, oder, was bei ihnen geradesoviel ist, einen dummen. Nein, zum Henker, ich kann's wieder nicht denken! Sind mir ihre Briefe nicht Zeugnis genug? So schreibt doch wahrlich keine Galgenfeder! Und gesetzt, sie hätt einmal ein paar Tage einen Wurm im Kopf gehabt und ein bissel nebenaus geschielt, etwas Gift mag so was immer ansetzen beim Liebhaber, doch im ganzen was tut's? Ein verdammter Egoismus, daß wir Männer uns alles lieber verzeihen, als so einem lieben Närrchen; eben als hätten wir allein das Privilegium, uns zuweilen vom Leibhaftigen den Pelz ein wenig streicheln zu lassen, ohne ihn just zu verbrennen. Wetter! diese frommen Hexchen haben so gut Fleisch und Blut wie unsereiner, und der nächste Blick auf die Person des Alleinzigen wirft den Hun dertstels-Gedanken von Untreue und das gewagteste Luftschloß wieder übern Haufen; dann gibt es nichts pikanter Wollüstiges für so eine süße Krabbe, als die Tränchen, womit sie gleich drauf die Verirrung ihrer Phantasie am bärtigen Halse des Liebsten unter tausend Küssen stillschweigend abbüßet. Aber auch nicht einmal dieser leichten Seitensprünge halt ich Agnesen fähig; wenigstens wär mir leid um das goldreine Christengelsbild, das ich mir so nach und nach von dem Mädchen konstruierte. Mord und Tod! daß man doch gar, gar nichts in der Welt soll denken können, wobei einem der alte Verderber nicht wieder ein Eselsohr drehte! Ich möcht mich in Stücke reißen vor Wut! nicht um meinetwillen – für mich ist nichts mehr zu verlieren: nein, nur um Noltens willen, der so ehrlich, gut knabenartig sein Ideal in einer Dorflaube salviert glaubte und nun eben auch in faule Äpfel beißen soll. So geht's – ei, und am Ende haben wir's all nicht besser verdient. Aber laß sehen, es fragt sich ja immer noch – Verflucht! was doch das Mißtrauen ansteckt! Stand nicht bis den Augenblick mein Glaube an das Mädchen fest wie ein Fels? und, sachte beim Licht besehn, steht er noch wie vor. So laß mich denn meine Maschinen getrost fortspielen! meine Maskenkorrespondenz mit dem Liebchen mag dauern solang sich's tut. Bin ich durch diese sechs Monat lange Übung im Stil der Liebe, im[42] Ausdruck und individueller Gedankenweise nicht so ganz und gar zum andern Nolten geworden, daß ich fast fürchten muß, das Mädchen, wenn heut oder morgen der Spuk an Tag käme, könnte sich in mich verlieben? was denn ceteris paribus auch so übel nicht wäre. Doch, soviel ist gewiß, ich glaube für hundert galante Schurkereien, wozu ich ehedem meine gewandte Handschrift mißbrauchte, mir hinlängliche Absolution dadurch erworben zu haben, daß ich die Kunst, ehrlichen Leuten ihre Züge abzustehlen, endlich einmal für einen guten Zweck nütze. Du liebes betrogenes Kind! und hast du denn niemals beim innigen vertieften Anschaun meiner Lügenschrift etwas Unheimliches verspürt, wenn du das Blatt mit dankbarem Entzücken an deine Lippen drücktest? hat nicht der Engel deiner Liebe dir zugeflüstert: halt, eine fremde Hand schiebt der des Geliebten sich unter? Nein doch! dein Schutzengel wird sich ja eher mit mir verschwören, als daß er dich mit der unzeitigen Wahrheit betrüben sollte, die dir zugleich den Geliebten raubt! Immerhin also laß mich gewähren. Und hat es mir zeither an Vorwänden nicht gefehlt, dich über das immer verschobene Wiedersehn deines Theobalds und die langentbehrte Umarmung zu trösten, so wird es mir, denk ich, noch gelingen, dir ihn bald als einen völlig Neuen entgegenzuführen, und du wirst nicht einmal wissen, daß es ein strafwürdiger, aber bekehrter Flüchtling ist, der zu deinen Füßen weint.«

Dies war so ziemlich das bald leise, bald laute Selbstgespräch Larkens'. Indem wir es wiederzugeben suchten, weihten wir den Leser in das Geheimnis ein, das ihm gegenwärtig vor allem am Herzen lag. Es versteht sich von selbst, daß er gleich beim Beginn seines wunderlichen Briefwechsels mit Agnes alle Vorsicht gebrauchte und jene namentlich unter irgendeinem Vorwand aufforderte, ihre Briefe immer unter der Larkensschen Adresse laufen zu lassen. Dies geschah indessen auch pflichtlich, nur das letzte Billett machte eine Ausnahme, weil Agnes die Gelegenheit durch die Freunde ohne Umschweif nützen zu können meinte, und so war das Papier wirklich zu anfangs nicht geringem Schrecken des heimlichen Korrespondenten in die Hände desjenigen gelangt, für den es am wenigsten gehörte, und dem sein Inhalt das ganze hübsche Gewebe hätte verraten müssen. Eine geschärfte Instruktion für die Briefstellerin war die einzige Folge dieser glücklich abgeleiteten Gefahr, aber einen weit wichtigern Grund, ungesäumt an Agnes,[43] sowie auch an den Förster, zu schreiben, fand Larkens in der Ungewißheit über die bewußte Ehrensache. Er setzte sich noch in dieser Stunde nieder, doch mit dem Vorsatze, seine Sorge nur so gelinde als möglich reden zu lassen, und seine Erkundigungen ganz im Allgemeinen zu halten, damit nicht etwa ein Verstoß gegen frühere Verhandlungen, die ihm unbekannt waren, zum Vorschein komme.


Um aber die Stellung Noltens gegen die Braut ganz anschaulich zu machen, müssen wir in der Zeit etwas zurückschreiten und Folgendes erzählen.

Das Verhältnis der Verlobten stand in der wünschenswertesten Blüte, als Agnes durch eine heftige Nervenkrankheit dem Tode nahe gebracht war. Der kritische Zeitpunkt ging indessen gegen Erwartung glücklich vorüber, und mehrere Wochen verstrichen, ohne daß es mit der allmählichen Genesung des Mädchens irgendeinen auffallenden Anstoß gegeben hätte. Jetzt aber konnte es dem Vater, und wer ihn sonst besuchen mochte, nimmer entgehen, daß mit der Tochter eine Veränderung, und zwar eine sehr bedeutende, vorgegangen sei. Offenbar war sie tief am Gemüte angegriffen, auch körperlich bemerkte man die sonderbarste Reizbarkeit an ihr, im ganzen war sie sanft, meist niedergeschlagen, zuweilen ungewöhnlich heiter und gegen ihr sonstiges Wesen zu allerlei Possen geneigt. Oft machte sie ihrem Herzen durch heftige Tränen Luft, brach in Klagen aus um den entfernten Geliebten, den sie mit Sehnsucht zu sich wünschte. Zugleich äußerte sie eine leidenschaftliche Liebe zur Musik, verlangte nichts so sehr als irgendein Instrument spielen zu können, und setzte jedesmal hinzu, sie wünsche dies nur um Noltens willen, damit er künftig doch wenigstens ein Vergnügen von ihr haben möge. »Ich bin ein gar zu bäurisches einfältiges Geschöpf, und solch ein Mann! O werden wir denn auch jemals füreinander taugen?« Und wollte man sie nun beruhigen, setzte der Vater den schlichten treuen Sinn des Bräutigams recht faßlich auseinander, so konnte sie nur um desto heftiger ausrufen: »Das ist eben der Jammer, daß er sich selber so betrügt! ihr alle betrügt euch, und ich mich selbst in mancher törichten Viertelstunde. Meint ihr denn, wie er im vorigen Herbste da war, ich hätte nicht gemerkt, daß er oft Langeweile bei mir hatte, daß ihn etwas beengte, stocken machte? Seht, wenn er bei mir saß, mir seine Hand hinhielt und ich verstummte, nichts in[44] der Welt begehrte, als ihm nur immer in die Augen zu sehn, dann lächelt' er wohl – ach, und wie lieb, wie treulich! nein, das macht ihm kein anderer nach! Und hab ich dann nicht oft mitten in der hellen Freude, bestürzt mich weggewandt und das Gesicht mit beiden Händen zugedeckt, geweint und ihm verhehlt, was eben an mich kam? – ach, denn ich fürchtete, er könnte mir im stillen rechtgeben, ich wollt ihm nicht selber draufhelfen, wie ungleich wir uns seien, wie übel er im Grunde mit mir beraten sei.« So fuhr sie eine Zeitlang fort und endete zuletzt mit bittern Tränen; dann konnte es geschehn, daß sie sich schnell zusammennahm, gleichsam gegen den Strom ihres Gefühls zu schwimmen strebte, und mit dem Ton des liebenswürdigsten Stolzes fing das schöne Kind nun an, sich zu rechtfertigen, sich zu vergleichen; die blasse Wange färbte sich ein wenig, ihr Auge leuchtete, es war der rührendste Streit von leidender Demut und edlem Selbstbewußtsein.

Diese sonderbare Unzufriedenheit, ja dies Verzweifeln an allem eigenen Werte fiel desto stärker auf, da Theobald in der Tat nicht die geringste Ursache zu dergleichen gegeben, man auch früher kaum die Spur von einer solchen Ängstlichkeit an ihr entdeckte. Jetzt ward es freilich aus manchen ihrer Äußerungen klar, daß sie schon in gesunden Tagen diese Sorge heimlich genährt und wieder unterdrückt hatte, daß ein krankes Gefühl, das von jenem Nervenübel bei ihr zurückgeblieben war, sich mit Gewalt auf den verletzbarsten Teil des zarten Gemütes geworfen haben müsse.

Damit wir jedoch sogleich über das Ganze ein hinreichendes Licht verbreiten, sind wir die Erzählung einer Tatsache schuldig, welche jenen Symptomen von Schwermut vorausging, und wodurch das, was vielleicht nur vorübergehende Grille war eine weit schwierigere Gestalt annahm.

Zwei Wochen, nachdem Agnes vom Krankenlager freigesprochen war, hatte sie vom Arzte die Erlaubnis erhalten, zum erstenmal wieder die freie Luft zu kosten. Es war an jenem Tage eben ein weitläuftiger Verwandter, dessen eigentliche Bekanntschaft man jetzt erst machte, im Hause gegenwärtig; der junge Mann war seit kurzem in der benachbarten Stadt bei der Landesvermessung angestellt und bei dem Förster ein um so willkommnerer Gast, als er neben einem angenehmen Äußern manches schöne gesellige Talent bewies. Man speiste fröhlich zu Mittag und Agnes durfte den Vetter Otto nach Tisch beim[45] wärmsten Sonnenschein eine Strecke gegen die Stadt hin begleiten. Das Mädchen, wie neugeboren unterm offenen Himmel, genoß ganz das erhebende Vergnügen neugeschenkter Gesundheit, das sich mit nichts vergleichen läßt, sie sprach wenig, eine stille, gegen Gott gewendete Freude schien ihr den Mund zu verschließen und ihren Fuß im leichten Gang vom Boden aufzuheben; ihr war, als sei ihr Inneres nur Licht und Sonne; ein deutliches Gefühl von körperlicher Kraft schien sich mit einem kleinen Rest von Schwäche angenehm bei ihr zu mischen; sie kehrte früher um und nahm Abschied von Otto, damit sie völlig ungestört sich dem Überflusse des Entzückens und des Dankes hingeben könne.

Ihr Weg führte sie durch ein Birkenwäldchen, bei dessen letzten Büschen sie eine Zigeunerin allein am Rasen sitzen fand eine Person von ansprechendem und trotz ihres gesetzten Alters noch immer von jungfräulichem Aussehen. Man grüßt sich, Agnes geht weiter, und hat kaum fünfzehn Schritte zurückgelegt, als sie bereuet, die Unbekannte nicht angeredet zu haben, deren ganzes Wesen und freundlich bedeutender Blick doch sogleich den größten Eindruck auf sie gemacht hatte. Sie besinnt sich, sie lenkt um und eine Unterredung wird angeknüpft. Nach einer Weile, während der man gleichgültige Dinge gesprochen, pflückt das braune Mädchen gleichsam spielend einige Gräser, knüpft sie in eine regelmäßige Figur zusammen, löst sodann kopfschüttelnd den einen oder andern Knoten wieder auf und sagt: »Setzt Euch zu mir. – Der Herr, dem Ihr da vorhin ausgefolgt, ist Euer Schatz zwar nicht, doch denkt an mich, er wird es werden.«

Agnes, obgleich etwas betreten, scherzt anfangs über eine so unglaubliche Prophezeiung, verwickelt sich aber immer angelegentlicher und hastiger ins Gespräch, und da die Äußerungen und Fragen der Fremden eine ganz unbegreifliche Bekanntschaft mit den eigentlichen Verhältnissen der Braut vorauszusetzen scheinen, so kommt sie den Worten der Zigeunerin unvermerkt entgegen. Das gutmütige Benehmen derselben entfernt zugleich fast jedes Mißtrauen bei Agnesen. Wie schmerzhaft aber und wie unvermutet wird ihr geheimstes Herz mit einem Male aufgedeckt, da sie aus jenem ahnungsvollen Munde unter andern die Worte vernimmt: »Was Euern jetzigen Verlobten anbelangt, so wär es grausam Unrecht, Euch zu verbergen, daß ihr auch allerdings nicht geboren seid füreinander.[46] Seht hier die schiefe Linie! das ist verwünscht; stimmt doch das Ganze sonst gar hübsch zusammen! Aber die Geister necken sich und machen Krieg mit den Herzen, die freilich jetzt noch fest zusammenhalten. Ei närrisch, närrisch! mir kam so was noch wenig vor.«

Agnes fand Sinn in diesen dunkeln Reden, denn sie erklärten ihr nur ihre eigene Furcht. »Wie?« sagte sie leise und starrte lange denkend in den Schoß, »so ist's – so ist's! ja Ihr habt recht.«

»Nicht ich, mein Töchterchen, nur Stern und Gras behalten recht. Vergib, daß ich die Wahrheit sagte, aber Wermut kann auch Arznei sein, und sei versichert, Zeit bringt Rosen.«

Hier stand die Fremde auf. Agnes, im Innern wie gelähmt und an den Gliedern wie gebunden, vermochte kaum sich zu erheben, sie hatte nicht den Mut, die Augen aufzuschlagen, es war ihr leid, daß sie verriet, wie sehr sie sich getroffen fühlte. Und doch, indem sie aufs neue in das Gesicht der Unbekannten sah, glaubte sie etwas unbeschreiblich Hohes, Vertrauenerweckendes, ja Längstbekanntes zu entdecken, in dessen seelenvollem Anblicke der Geist sich von der Last des gegenwärtigen Schmerzens befreie, ja selbst die Angst der Zukunft überwinde.

»Behüt dich Gott, mein Täubchen! und hab immerhin guten Mut. Läßt dich die Liebe mit einer Hand los, so faßt sie dich gleich wieder mit der andern. Und stoße nur dein neues Glück nicht eigensinnig von dir; es ist gefährlich, dem Gestirn Trotz bieten. Nun noch das letzte: bevor ein Jahr um ist, wirst du niemand verraten, was ich dir gesagt; es möchte schlimm ausfallen, hörst du wohl?«

Dies letztere hatte die Zigeunerin mit besonderem Nachdrucke gesprochen. Aufs äußerste ergriffen dankte das Mädchen beim Abschiede und reichte der Fremden ein feines Tuch zum Angedenken hin.

Agnes war allein und vermochte kaum sich selber wiederzuerkennen; sie glaubte einer fremden, entsetzlichen Macht anzugehören, sie hatte etwas erfahren, was sie nicht wissen sollte, sie hatte eine Frucht gekostet, die unreif von dem Baume des Schicksals abgerissen, nur Unheil und Verzweiflung bringen müsse. Ihr Busen stritt mit hundertfältigen Entschlüssen und ihre Phantasie stand im Begriffe, den Rand zu übersteigen. Sie hätte sterben mögen, oder sollte Gott ihrer Neugierde verzeihen und schnell das fürchterliche Bewußtsein jener Worte[47] von ihr nehmen, die sich wie Feuer immer tiefer in ihre Seele gruben, und deren Wahrheit sie nicht umstoßen konnte.

Erschöpft kam sie nach Hause und legte sich so gleich mit einem starken Froste; der Alte befürchtete einen Rückfall in das kürzlich erst besiegte Übel, allein vom wahren Grunde ihres Zustandes kam keine Silbe über ihre Lippen. Sie ließ sich ältere und neuere Briefe Theobalds aufs Bette bringen, aber statt des gehofften Trostes fand sie beinahe das Gegenteil; das liebevollste Wort, die zärtlichsten Versicherungen, schon gleichsam angeweht vom vergiftenden Hauche der Zukunft, betrachtete sie mit Wehmut, wie man getrocknete Blumen betrachtet, die wir als Zeichen vergangener schöner Augenblicke aufbewahrten: ihr Wohlgeruch ist weg und bald wird jede Farbenspur daran verbleichen.

Dergleichen traurige Ahnungen erfüllten sie mit desto ungeduldigerem Schmerz, je mehr sie Theobalden noch in dem vollen Irrtum seiner Liebe befangen denken mußte – in einem Irrtum, den sie nicht länger mit ihm teilen durfte noch wollte, der ihr abscheulich und beneidenswert zugleich vorkam.

Jener Fieberanfall ging indes vorüber und außer einer gewissen Überspannung hielt man das Mädchen für gesund. Die Ungewißheit ihres Schicksals beschäftigte sie Tag und Nacht. Suchte sie auch einen Augenblick jene drohenden Aussprüche mit ruhigem Verstande zu bestreiten, schalt sie sich abergläubisch, töricht, schwach, sie fand doch immer zwanzig Gründe gegen einen, und selbst im Fall die unerhörteste Täuschung des Weibes mit im Spiele war, so schien dieser seltsame Zufall ihr wenigstens eine früher gefühlte Wahrheit aufs wunderbarste zu bestätigen. Denn freilich hatte sie bei dem Gespräch im Walde nicht bemerkt, wieviel ihr die Zigeunerin, nachdem das erste aufs Ungefähr keck hingeworfene Wort einmal gezündet, mit leisem Tasten abzulauschen wußte, noch weniger ließ sie sich träumen, daß ebendiese Person auf sehr natürlichem Wege von der äußeren Lage der Dinge im allgemeinen unterrichtet, mit Theobald nicht unbekannt, und, wie sich späterhin entdecken wird, überhaupt gar sehr bei der Sache interessiert war. Was aber immer die geheime Absicht dabei sein mochte, genug, das arme Kind war schon geneigt, einen höheren Wink in jenem Auftritte zu erblicken.

Indessen, es gehen zuweilen Veränderungen in unserer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine Rechenschaft geben[48] und denen wir nicht widerstehen können, wir machen den Obergang vom Wachen zum Schlaf ohne Bewußtsein und sind nachher ihn zu bezeichnen nicht imstande: so ward in Agnes nach und nach die Überzeugung von der Unvereinbarkeit ihres Schicksals und Noltens befestigt, ohne daß sie genau wußte wann und wodurch dieser Gedanke eine unwiderstehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten und verehrten Manne, hinter dessen Geist sie sich weit zurückstellte, den sie durch ihre Hand nur unglücklich zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch ihm selbst nicht mehr verborgen bleiben könne, wie wenig sie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dies Gefühl, das unstreitig aus dem reinsten Grunde uneigennütziger Liebe hervorging das gute Geschöpf allmählich einer frommen und in sich selber trostvollen Resignation entgegendrängte, so wurde der Entschluß freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder durch eine Idee verkümmert, welche sich sehr natürlich aufdrang: ein künftiges Mißverhältnis war ja nur in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt seine ursprüngliche Gesinnung verleugnete, wenn er dem ersten reinen Zuge seines Herzens untreu würde; und so betrachtete sich nun Agnes schon zum voraus aufs tiefste gekränkt von dem Verlobten, sie war versucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen, wovon er selbst noch keine Ahnung hatte, was aber unvermeidlich kommen müsse. So sonderbar es klingen mag, so ist es doch gewiß, es traten Augenblicke ein, wo ihre Empfindung gegen Theobald nicht fern von Widerwillen, ja von Abscheu war, allein dergleichen feindliche Regungen widerstrebten dergestalt ihrer innersten Natur, sie selbst kam sich dabei als ein so hassenswürdiges, entstelltes Wesen vor, daß sie mit Absicht alles und jedes vorkehrte, was den Bräutigam, auch im äußersten Falle, rechtfertigen könnte. Es kam eine tödliche Angst über sie, wenn ihr zuweilen die Möglichkeit erschien, daß sie von dem, der ihr noch jüngst das Teuerste der Welt gewesen, jemals geringer denken oder daß er ihr gar sollte gleichgültig werden können, es war ihr, wenn es dahin kommen sollte, als zerstöre sie ihr eigen Selbst, als sei die innerste Wurzel ihres Lebens angegriffen, als müßte sie jedem schönen Glauben, allem, was würdig, hoch und heilig sei, für immerdar entsagen. Sie nahm in dieser äußersten Not ihre Zuflucht zum Gebet, und flehte mit Inbrunst, Gott möge die Liebe zu Nolten stets frisch bei ihr erhalten, er möge ihr[49] nur helfen, alles, was leidenschaftlich an dieser Neigung sei, aus ihrem Herzen wegzuscheiden.

Bemerkenswert ist es, daß das treffliche Mädchen, von einem richtigen Takte geleitet, sich mitunter alle Gewalt antat, ganz unabhängig von jener verdächtigen Prophetenstimme zu denken und zu handeln, so wie sie sich auch leicht beredete, die Verzichtleistung auf den Verlobten sei in Betracht der ersten Gründe doch immer aus ihr selbst hervorgegangen. Vielleicht sie unterschied hierin nicht scharf genug, und jene dunkle Stimme behielt auf Agnesens Tun und Lassen den mächtigsten Einfluß; nur verscheuchte sie jede Erinnerung an den verhaßten Fingerzeig des Weibes, der so entschieden auf ein neues Bündnis hindeutete; nicht ohne heimliches Schaudern konnte sie in diesem Sinne an den Vetter denken, ja sie vermied seinen Anblick eine Zeitlang geflissentlich, nur um dieser unerträglichen Vorstellung loszuwerden.

Wie sehr das Mädchen unter solchen Umständen litt, von wieviel Seiten ihr Gemüt im stillen zerrissen und gepeinigt war, läßt sich wohl besser fühlen als beschreiben. Unglaublich erscheint bei diesem allen der Wechsel ihrer Stimmung; denn während sie jede Hoffnung auf Theobald verbannte und in den nüchternsten Stunden sogar die Fähigkeit bei sich entdeckte, ihn seinem bessern Schicksale freizugeben, fehlte es mitunter nicht an Augenblicken, wo alle jene düstern Bilder gleich Gespenstern vor der aufgehenden Sonne zurückflohen, wo ihre Liebe mit einemmal wieder indem heitersten Lichte vor ihr stand und eine Vereinigung mit Nolten ihr, allen Orakeln der Welt zum Trotze, notwendiger, natürlicher, harmloser deuchte, als jemals. Mit Entzücken ergriff sie dann eilig die Feder, dem teuren Freund ein liebevolles Wort zu senden, und sich im Schreiben gleichsam selbst des überglücklichen Bewußtseins zu versichern, daß sie und Nolten ewig unzertrennlich seien.

In solchen Stimmungen mochte sie auch Ottos Gegenwart nicht ungern leiden, sie behandelte ihn noch immer mit einiger Zurückhaltung und hatte auch diese schon halb überwunden; nur als der Vater gelegentlich dem Vetter, der die Mandoline fertig spielte, den Vorschlag machte, das Bäschen in die Lehre zu nehmen, ward sie einigermaßen verlegen und zauderte, wiewohl sie den Wunsch früher selbst geäußert hatte und noch jetzt in gewisser Hinsicht Lust dazu empfand. Auf das freundlichste Zureden Ottos entschloß sie sich wirklich, und sogleich[50] wurde die Probe gemacht, die denn auch ganz munter vonstatten ging; Agnes bewies den größten Eifer, denn es galt, den Geliebten später mit diesem neuen Talent zu überraschen, und das kleine Geheimnis machte sie glückselig.

Aber dergleichen lichte Zwischenräume waren vorübergehend jene schwermütigen Zweifel kehrten nur um desto angstvoller zurück, und ein solcher alle Kraft der Seele anspannender Wechsel diente nur, eine Epoche vorzubereiten, worin die geistige Natur der Armen unter der Last einer schrecklichen Einbildung und eines unseligen Geheimnisses unterlag.

Noch immer beobachtete Agnes das tiefste Stillschweigen über die Begebenheit im Walde, bloß im allgemeinen gab sich ihr Gram in lauten Klagen zu erkennen, wovon wir gleich anfangs ein Beispiel gegeben.

Die musikalischen Lektionen wurden ausgesetzt und fingen wieder an, weil es der Vater verlangte, der in solchen Unterhaltungen eine willkommene Zerstreuung für seine Tochter sah. Diese zeigte nunmehr eine sonderbare stille Gleichgültigkeit, ließ mit sich anfangen, was man wollte, oder ging ihr lebloses träumerisches Wesen sprungweise in jene zweideutige Munterkeit über, wovon wir oben gesprochen. Der Alte sah es gern, wenn sie mit Otto sich lustig machte, nur stutzte er oft über die Ausgelassenheit, ja Keckheit seines Mädchens, wenn es nach beendigter Lektion an ein Spaßen, Lachen und Necken zwischen den jungen Leuten ging, wenn die Schülerin dem Lehrmeister blitzschnell in die Locken fuhr und auch wohl einen lebhaften Kuß auf die Stirne drückte, so daß Freund Otto selbst etwas verlegen ward und mit all seiner sonstigen Gewandtheit sich zum erstenmal ein wenig linkisch der reizenden Kusine gegenüber ausnahm. »Bist doch mein lieber Vetter«, lachte sie dann »was zierst du dich so närrisch? Aber fürwahr, ich wollte, wir wären Brautleute! mit dir könnt ich leben, du bist ganz darnach gemacht, daß man dich nicht zuviel und nicht zuwenig lieben kann!«

Diese und ähnliche Reden, so arglos sie auch hingeworfen waren, klangen dem Alten bedenklich, und vollends finden wir sein Erstaunen gerecht, als er einmal beim Weggehen Ottos, welcher Agnesen wie sonst auf der Schwelle die Hand gab, eine Träne in ihrem klaren Auge bemerkte. »Was soll doch das, mein Kind?« fragte der Vater, nachdem sie allein waren, betroffen. »Nichts«, erwiderte sie mit einigem Erröten und drehte[51] sich zur Seite; »sein Anblick rührt mich oft, er gefällt mir nun einmal.« Dann ging sie sorglos, wie es schien, und singend in der Stube auf und nieder.

Vorübergehende Auftritte der Art brachten den Förster auf mancherlei Gedanken, und es ist zu begreifen, wenn er es endlich mehr als wahrscheinlich fand, daß hinter diesem unnatürlichen Zustande eine aufkeimende Leidenschaft für Otto sich verstecke, die er nur einer krankhafter Reizbarkeit des Mädchens schuld geben konnte. Der Zeit nach, worein die ersten Besuche des Vetters und jene ersten grillenhaften Äußerungen Agnesens fielen, widersprach jener Vermutung nichts. Der Leser aber kann über den wahren Zusammenhang des wunderlichen Gewebes wohl nimmer im Zweifel sein.

Der Verstand des guten Wesens hatte das Gleichgewicht verloren, und der traurige Riß war kaum geschehen, als die Schatten des Aberglaubens mit verstärkter Wut aus ihrem Hinterhalte brachen, um sich der wehrlosen Seele völlig zu bemächtigen. Jene Idee von Otto fixierte sich gleichsam künstlich im Gemüte der Armen, und die eingebildete Notwendigkeit fing an, den Widerwillen gegen ihn zu überbieten.

Die Art jedoch, wie sich Agnes äußerlich betrug, ließ in der Tat nicht auf eine so bedeutende Störung ihres Innern schließen, und der Vater glaubte nicht an eigentlichen Wahnsinn. Der sonderbare Hang zur Lustigkeit verlor sich ganz und machte einer gesetzten Ruhe, einem liebenswürdigen Gleichmute Platz, der dem Gespräche sowie dem ordentlichen Gange der häuslichen Geschäfte gleich günstig war, man bemerkte nichts Verkehrtes in ihrem Tun und Reden, nichts Schwärmerisches in Miene und Gebärde; aber an Theobald wollte sie nicht erinnert sein, selbst Ottos Namen berührte sie kaum, solange er abwesend war, nur wenn er kam, sah man sie ihre ganze Aufmerksamkeit, alle Anmut und Freundlichkeit an ihn verschwenden.

Wenn nun der Alte, durch ein so unerhörtes Benehmen zur Verzweiflung gebracht, sie zur Rede stellte, sie bald mit Sanftmut, bald mit drohenden Vorwürfen an ihre Pflicht, an ihr Gewissen mahnte, so zeigte sie entweder eine stumme Gelassenheit, oder sie lief weinend aus dem Zimmer und schloß sich ein.

Der Vater hatte indessen auf die Entfernung des jungen Menschen gedacht und ihm bereits einige leise Winke gegeben, die aber bis jetzt ganz ohne Wirkung blieben; er war in der[52] peinlichsten Not, zumal er Ursache hatte, zu befürchten, daß die Reize des Mädchens auch nicht ohne Eindruck auf Otto geblieben sein möchten. Und wirklich, wie erstaunte nicht der gute Mann, als er eines Tages dem Vetter unter vier Augen seine Bitte so schonend als möglich vortrug, und dieser mit dem unumwundenen Geständnisse hervortrat: er sei von der Neigung Agnesens für ihn vollkommen überzeugt und nichts halte ihn ab, sie offen zu erwidern, wenn er vom Vater die Zustimmung erhalten würde, die er ohnehin in diesen Tagen zu erbitten entschlossen gewesen sei; es komme nun freilich auf ihn an, ob er dem innigsten Wunsche seiner Tochter Gehör schenken oder auf Kosten ihrer Ruhe und ihrer Gesundheit eine Verbindung erzwingen wolle, welche man, alle Vorzüge Noltens in Ehren gehalten, nun einmal durchaus für den gröbsten Mißgriff halten müsse.

Der Förster, über eine so kühne Sprache wie billig empört unterdrückte dennoch seinen Unmut und wies den vorschnellen Freier mit Mäßigung zurecht, indem er ihn vorderhand zur Geduld ermahnte und wenigstens für die nächste Zeit das Haus zu meiden bat, worauf denn jener willig zusagte und nicht ohne geheime Hoffnung wegging.

Nun überlegte der Alte, was zu tun sei. Bald ward er mit sich einig, daß unter so mißlichen Umständen Veränderung des Orts, eine starke Distraktion, das Rätlichste sein dürfte. Zwar dachte er anfangs daran, ob nicht gerade eine Reise zu dem Bräutigam das kürzeste Mittel zur Ausgleichung des Ganzen wäre, allein die geringste Erwähnung des Planes bei Agnesen versetzte diese in den größten Jammer, sie beschwor den Vater auf den Knien, von dem Vorhaben abzustehen, das ihr gewiß den Tod bringen würde. Da nun überhaupt von einer Reise, gleichviel wohin, die Rede war, schien sie viel mehr erfreut als abgeneigt, und gerne ließ der Förster sich's gefallen bei dieser Gelegenheit einen ziemlich entfernten Freund, den er seit vielen Jahren nicht gesehen, heimzusuchen.

In kurzem befanden Vater und Tochter sich unterwegs in einem wohlgepackten Gefährt. Das Wetter war das schönste, nach wenig Stationen sah man schon völlig neue Gegenden. Das Mädchen war zufrieden, ohne gerade lebhafter zu sein.

Mit dem Aufenthalte in dem kleinen Städtchen Wiedecke, wo der vieljährige Bekannte des Försters, ein jovialer behaglicher Sechziger, als Verwalter eines edelmännischen Guts wohlhabend wie ein kleiner Fürst lebte, begann für Agnes bald eine[53] ganz andere Art den Tag hinzubringen, als sie es bisher gewohnt war. Der lebensfrohe Mann machte sich's zur Pflicht, seine Gäste auf die mannigfaltigste Weise zu vergnügen, und im eigentlichen Sinne des Worts keine Stunde ruhen zu lassen. Sie mußte die Güter der gräflichen Herrschaft, Gärten, Waldungen, Parks und Fischplätze mustern, gelegentlich die Ordnung des Verwalters und seine Einsichten bewundern, man durfte mit keinem seiner Freunde im Städtchen und der Umgegend unbekannt bleiben, eine ländliche Partie verdrängte die andere, kurz der Förster sah seine Wünsche, die im stillen hauptsächlich nur auf Zerstreuung der Tochter gingen, beinahe über alles Maß und mehr als sie ertragen konnte, erfüllt; eigentlich gab sie sich mehr nur aus Gutmütigkeit zu all der geräuschvollen Lustbarkeit her, als daß sie mit ganzem Herzen teilgenommen hätte.

Großen und schönen Eindruck machte bei ihr eines Abends der erstmalige Anblick eines Theaters, wozu eine wandernde Truppe das Wiedecker Publikum lud. Das Stück war von der leichten, heitern Gattung und wurde überdies sehr brav gespielt. Agnes lachte zum erstenmal wieder recht herzlich und ging ganz aufgeräumt zu Bette. Doch in der Nacht kam sie in das Schlafzimmer des Vaters geschlichen, weckte ihn, und wollte anfangs auf die Frage, was ihr zugestoßen sei, lange mit der Sprache nicht heraus. Sie habe, gestand sie endlich, von Theobalden so lebhaft, so deutlich geträumt; er sei trostlos gewesen und habe sie um Gottes willen gebeten, ihn nicht zu verlassen, zuletzt sei sie aufgewacht, erstickt von seinen Küssen. »Nun seht, Vater«, fuhr sie unter heißen Tränen fort, »Euch darf ich wohl bekennen, daß er mich unbeschreiblich dauert, ob ich ihn gleich nicht mehr liebe; er wird sein Glück gewiß bei einer andern finden, aber das sieht er jetzt nicht ein, und es wäre vergeblich, ihn überreden zu wollen; man muß nur abwarten, bis er von selbst zur Oberzeugung kommt. Aber« (hier brach sie in lautes Schluchzen aus) »wenn er während der Zeit verzweifelte! wenn er sich ein Leid antäte – nein! nein! das wird er nicht, das kann er nicht! nicht wahr, Vater, so weit kann es unmöglich kommen? Ach, könnt ich ihn über diese Zwischenzeit nur schnell wegheben, ihn mit irgendwas beruhigen, ihm einen Trost zusenden!«

Der Alte vernahm diese Worte mit heimlicher Zufriedenheit, denn sie waren ihm nichts anders als das Zeichen der wiedererwachten[54] Neigung für den Bräutigam. »Wenn du es über dich vermöchtest«, sagte er, »ihm deine volle Liebe wiederzuschenken, da wäre freilich am besten geholfen. Siehst du, noch ist im Grunde nichts verloren, noch verdorben; ja, prüfe dich, mein Kind! sei mein verständiges Mädchen wieder! nimm aufs neue meinen Segen mit Theobald hin; schreib ihm gleich morgen einen unbefangenen heitern Brief, so wie dein letzter vor drei Wochen war, das wird ihn freuen.«

Nach einigem Nachdenken antwortete Agnes: »Ihr wißt nicht, Vater, wie es um die Zukunft steht, drum mögt Ihr wohl so sprechen. Aber seht, ich denke nun, Theobald muß ja mein Mann nicht eben sein, und ich darf ihn dennoch liebbehalten. Ist's ja doch ohnehin noch nicht an der Zeit, daß wir uns die Brautschaft förmlich aufsagen, und warum soll ich ihn eher als nötig ist, aus seinem guten Glauben reißen, da er die Wahrheit jetzt noch nicht begriffe, warum nicht immerfort so an ihn schreiben, wie er's bisher an mir gewohnt war? Ach, ganz gewiß, ich sündige daran nicht, mein Herz sagt mir's er soll, er darf noch nicht erfahren, was ihm blüht, und, Vater, wenn Ihr ihn liebhabt, wenn Euch an seinem Frieden etwas liegt, sagt Ihr ihm auch nichts! Dagegen aber kann ich Euch versprechen, ich will vorderhand mit Otto nichts mehr gemein haben. Die Zeit wird ja das übrige schon lehren.«

Der Förster wußte nicht so recht, was er aus diesen Reden machen sollte, er schüttelte den Kopf, nahm sich aber vor, das Beste zu hoffen, und entließ Agnesen, die sich ruhig wieder niederlegte.

Wie groß war seine Freude, als er sie des andern Morgens in aller Frühe mit einem Brief an Theobald beschäftigt fand den sie ihm auch nachher zur Durchsicht reichte, wiewohl mit Widerstreben und ohne gegenwärtig zu bleiben, solange der Alte las. Aber welch köstliche, hinreißende, und doch wohlbedachte Worte waren das! So kann bloß ein Mädchen schreiben, das völlig ungeteilt in dem Geliebten lebt und webt. Nur die absichtliche Leichtigkeit, womit jene ernsten und tiefen Bewegungen in Agnesens innerm Leben hier gänzlich übergangen waren, frappierte den Vater an dem sonst so redlichen Kinde. Er selber hatte noch geschwankt, ob die Pflicht von ihm fordere, Theobalden von diesen Dingen in Kenntnis zu setzen, oder ob es nicht vielmehr geraten sei, jenem die Sorge und der Braut die Beschämung über eine Sache zu ersparen, die am Ende[55] doch nur unwillkürliche und vorübergehende Folge eines sonderbaren Krankheitszustandes sei. Und nun, da offenbare Hoffnung war, daß alles sich von selbst ausgleiche, bereute er um so weniger, in seinem letzten Schreiben bloß im allgemeinen von wiederholten Gesundheitsstörungen gesprochen zu haben. Er sah bereits die schöne Zeit voraus, wo er dem Schwiegersohne den ganzen Verlauf der seltsamen Begebenheiten in einer traulichen Abendstunde ruhig und wohlgemut wie ein glücklich überstandenes Abenteuer würde erzählen können.

Die Rückreise nach Neuburg wurde endlich angetreten. Man begrüßte die Heimat nach längerer Abwesenheit mit doppelter Liebe. Agnes ward allgemein blühender, ansprechender, geselliger gefunden, als man sie vor vier Wochen hatte abreisen sehen; was aber der Vater mit besonderem Wohlgefallen bemerkte, war, daß ihr die alte Nähe des Vetters gar nicht einzufallen schien. Dieser wurde indessen durch seine Geschäfte ganz außerhalb der Gegend festgehalten, und der Förster durfte einen Überfall, worauf er sich bereits gefaßt gemacht, so bald noch nicht befürchten.

Übrigens mußte es nach und nach befremden, daß Nolten seit einem vollen Monat und darüber nichts von sich hören ließ. Der Alte fand es unerklärlich, denn eine Irrung, welche etwa durch die fatale Geschichte entstanden sein möchte, war kaum gedenkbar, da weiter niemand darum wissen konnte; möglicher schien es, daß Nolten krank, daß Briefe verlorengegangen seien. Agnes hatte dabei ihre besonderen Gedanken und schwieg nur immer, indem sie auf etwas Entscheidendes zu spannen schien.

Wirklich hatte sich inzwischen nicht wenig Bedeutendes in der Ferne zugetragen.

Es waren, bald nachdem der Vetter die Bekanntschaft des Försterhauses gemacht, von zwei verschiedenen Seiten und von sehr wohlmeinenden Personen Briefe an Nolten gelangt, worin er auf ein sehr zweideutiges Benehmen des Alten und seiner Tochter in betreff des jungen Menschen aufmerksam gemacht wurde. Eine dieser Warnungen kam sogar von dem guten Baron auf dem Schlosse bei Neuburg, welcher sonst mit dem Förster in freundlichem Vernehmen stand, und von dessen Rechtlichkeit und vorsichtigem Urteil sich weder Übereilung noch Parteilichkeit erwarten ließ. Schon diese ersten Laute des Verdachts, obgleich sie unsern Maler noch keineswegs zu überzeugen vermochten, erschütterten und lähmten, ja vernichteten ihn doch[56] dergestalt, daß er sich lange nicht entschließen konnte, auch nur eine Zeile nach Neuburg zu richten, seinen väterlichen Freund, den Baron, ausgenommen, dem er eine nochmalige Nachforschung dringendst empfahl. Allein nach mehreren Wochen erhielt er auf eine höchst unerwartete Weise die vollkommenste Bestätigung seines Argwohns, und zwar durch das ausführliche Schreiben Otto Lienharts – ein Name, den er früher einmal gelegentlich von Agnes gehört zu haben sich sogleich erinnerte. Daß dies eine und dieselbe Person mit dem mehrerwähnten Vetter sei, brauchen wir kaum anzumerken.

Der Eingang des Briefes nimmt auf eine ebenso bescheidene als verständige Art das Vertrauen Theobalds in Anspruch; der Unbekannte bittet um ruhiges und männliches Gehör für dasjenige, was er vorzutragen habe; es sei, versichert er, so sonderbar und so feindselig gar nicht, als es wohl in dem ersten Augenblicke erscheinen könnte. Nun geht er auf das innere Mißverhältnis der Verlobten über, wie die Natur der Charaktere ein solches wesentlich und notwendig begründe, ohne daß einem der beiden Teile das geringste dabei zur Schuld falle. Sodann wird die Neigung des Mädchens zu ihm, dem Vetter, entwickelt, gerechtfertigt und endlich wird ohne Anmaßung erklärt, in welchem Sinne er Agnesen ihren ersten Freund, dessen eigentümlichen Wert sie noch immer verehre, zu ersetzen hoffen dürfe. Wenn nun die angeführten Gründe hinreichen würden, um Nolten zu freiwilliger Abtretung seiner Ansprüche zu bewegen, so hänge am Ende alles nur vom Vater ab. Es scheine, daß dieser im stillen einen solchen Wechsel gutheiße und sich nur vor Nolten scheue, deswegen halte er die Sache mit schwankendem Entschlusse hin und sorge in der Tat für keinen Teil sehr vorteilhaft, wenn er Theobalden noch immer in einer Hoffnung lasse, auf welche er selber insgeheim verzichte; er tue Unrecht, daß er die Tochter stets aufs neue irrezumachen suche und sie nötige, in ihren Briefen unredlich gegen Theobald zu sein. Ihr Herz habe für immer entschieden. Einige Briefe von Agnesens eigener Hand an den Cousin werden ihre Gesinnung hinreichend beweisen. (Die Blätter lagen bei, und man hat sich Briefe zu denken, welche die Unglückliche ohne Vorwissen des Försters an Otto gesandt.) Er habe diese Eröffnungen für Pflicht gehalten, und Nolten möge seine Maßregeln darnach ergreifen. Sollte der Förster, was jedoch wenig Wahrscheinlichkeit habe, zuletzt eigensinnig[57] und grausam die Rechte des Vaters geltend machen, oder Theobald die des Verlobten, so könne nur ein vollendetes Unglück für alle daraus entspringen, während im andern Falle Nolten wenigstens den Trost für sich behalte, den der Mann im Bewußtsein einer ungemein und großherzig erfüllten Pflicht von jeher gefunden.

Ein schallendes, verzweiflungsvolles Gelächter war das erste Lebenszeichen, das unser Maler, nachdem er einige Sekunden wie besinnungslos gestanden, von sich gab. Wir schildern nicht, in welchem Kreislaufe von Zerknirschung, Wut, Verachtung und Wehmut er sich nun wechselnd umgetrieben sah. Was blieb hier zu denken, was zu unternehmen übrig? Haß, Liebe, Eifersucht zerrissen seine Brust, er faßte und verwarf Entschluß auf Entschluß, und hatte er die wirbelnden Gedanken bis ins Unmögliche und Ungeheure matt gehetzt, so ließ er plötzlich mutlos jeden Vorsatz wieder fallen und blickte nur in eine grenzenlose Leere.

Nach Verfluß einiger Tage war er so weit mit sich im reinen, daß er stillschweigend allem und jedem seinen Lauf lassen und etwa zusehen wollte, wie man in Neuburg sich weiter gebärden würde. Seinem Larkens, der indessen von einer kleinen Reise zurückgekommen war, und dem sein Kummer bald auffiel, entdeckte er sich keineswegs; denn einmal wollte er sich in seinem Benehmen in der Sache durch fremdes Urteil nicht geirrt wissen, er fürchtete die Geschäftigkeit, welche sein lebhafter und unternehmender Freund in solchem Falle sicherlich nicht würde verleugnen können, und dann hielt ihn ein sonderbares Gefühl von Scham zurück, wie es denn seinem Charakter eigen war, fremdes Mitleid, und käme es auch vom geliebtesten Freunde soviel möglich zu verschmähen.

Gewisse weggeworfene Äußerungen des Malers, sowie eine Menge kleiner Umstände, ließen jedoch dem Schauspieler keinen Zweifel mehr übrig, wen die Verstimmung betreffe; aber weit entfernt, den Fehler auf seiten Agnesens zu suchen, sah er an seinem Freunde im stillen nur den seichten Überdruß, die undankbare Laune eines Liebhabers, und es mußte ihn die kleinlaute Verlegenheit Theobalds, wenn darauf die Rede kam, in der Meinung bestärken, dieser fühle sein Unrecht. Dem Maler war ein solcher Irrtum gewissermaßen nicht zuwider, er mochte lieber den Schein der Untreue haben, als sein wahres Elend täglich in den Augen des Schauspielers lesen.[58]

Dem letztern konnte es nicht entgehen, daß die gewöhnlichen Briefe nach Neuburg seit einiger Zeit stockten, obwohl von dorther immer welche einliefen, und so entstand denn in dem sonderbaren Manne der Entschluß, Noltens Pflicht in diesem Punkte zu versehen. Allerdings nahm er sogleich das Unsichere und Zufällige mit in Rechnung, doch zu befürchten war ja eigentlich nichts, auch wenn das kecke Spiel früher oder später an den Tag käme.

In der Zwischenzeit aber, d.h. vor der heimlichen Einrichtung, in deren Folge nachher alles vom Försterhause an den Bräutigam Geschriebene in die Hände des unechten Korrespondenten gelangte, waren mehrere Briefe teils von seiten des Alten, teils von Agnesen selbst an Nolten gekommen, und sie waren von der Art, daß Theobalds Urteil, insofern es bis jetzt unbedingt verwerfend gewesen, sich gewissermaßen modifizieren mußte. Der Alte ersucht nämlich seinen Schwiegersohn in einem ebenso herzlichen als wahrhaftigen Ton, er möchte von gewissen Gerüchten, welche sich zu Neuburg durch die Zudringlichkeit eines eingebildeten jungen Menschen verbreitet hätten, und die vielleicht auch – was wohl der Grund seines langen Stillschweigens sei – bis zu ihm gedrungen sein könnten, auf keine Weise Notiz nehmen. Der Alte setzt die Verwirrung des Mädchens nach seinen Begriffen auseinander, macht, ohne das Rechte zu treffen, eine nicht eben unwahrscheinliche Erklärung davon, wobei alles am Ende auf eine seltsame Skrupulosität, melancholische Überspannung und zuletzt auf alberne Kinderei reduziert wird. Nolten möchte der Jugend, der Unerfahrenheit des Mädchens vergeben; er als Vater beteure, daß der Vorgang in keinem Sinne störende Folgen nach sich ziehen werde, Agnes habe sich gefaßt, ihr Herz sei rein und hänge mit doppelter Innigkeit an ihm. Indessen, fährt der Vater von sich fort, sei er so unbillig nicht, es dem Bräutigam zu verdenken, wenn die Sache ihn erschreckt habe, wenn er der Zeit die Probe überlasse, ob die Braut seiner nicht unwert geworden, nur wäre zu wünschen, daß er sich persönlich überzeugte, und er sei deshalb aufs freundlichste nach Neuburg eingeladen. Übrigens möchte er, wenn er Agnesen schreibe, ihr tief gebeugtes Gemüt soviel wie möglich schonen, sie wisse nichts von diesen Mitteilungen und scheine sich vorzubehalten, ihm bald mündlich die treueste Rechenschaft zu geben. Schließlich möge er sich doch wohl bedenken, ehe er ein Geschöpf, dessen ganzes Glück[59] an ihn gebunden sei, um eines immerhin rätselhaften und darum schwer zu richtenden Vergehens willen, ohne weitere Prüfung verstoße.

Diese Nachricht versetzte den Maler in die sonderbarste Unruhe. Er war während des Lesens weich geworden, er mußte wider Willen seinen entschiedenen Haß mit einem tiefen Verdruß und ärgerlichen Mitleid vertauschen, und er fühlte sich dabei fast unglücklicher als zuvor.

Wenn er freilich Agnesens ursprüngliche, so äußerst reine Natur mit ihrem neuesten Betragen verglich, so schien ihm der Absprung so gräßlich widersinnig, daß er sich jetzt wunderte, wie er eine Weile an die Möglichkeit einer Untreue im gewöhnlichen Sinne des Worts hatte glauben können; der Fall stritt dergestalt gegen alle Erfahrung, daß eben das Außerordentliche des Vergehens zugleich dessen Entschuldigung sein mußte. »Aber was auch immer die Ursache sei« – rief Theobald aufs neue verzweifelnd aus –, »wie tief der Grund auch liegen mag, die Tatsache bleibt – um den ersten heiligen Begriff von Reinheit, Demut, ungefärbter Neigung bin ich für immer bestohlen! Was soll mir eine verschraubte, kindische Kreatur? Werd ich nun meine schönsten Hoffnungen zerbrochen als kümmerliche Trümmer, halb knirschend, halb weinend, am Boden aufsammeln und mir einbilden, was ich zusammenstückle, sei mein altes köstliches Kleinod wieder? O hätt ich den bübischen Fratzen zur Stelle, der mir an meine süße Lilie rührte! könnt ich die Augen ausreißen, die mir das treuste Herz verlockt! dürft ich den heillosen Schwätzer zertreten, der in die stille Dämmerung meiner Blume den frechen Sonnenschein des eiteln, breiten Tages fallen ließ! – Unmündig, unerfahren, noch ganz ein Kind, ach wohl, das war sie freilich, das könnte sie entschuldigen bei dem und jenem, vielleicht auch bei mir, aber bin ich darum weniger betrogen, hilft mir das ihr entstelltes Bild herstellen, hilft es meiner verbluteten Liebe das Leben wieder einhauchen? Ich fühl's, hier ist an kein Ausgleichen mehr zu denken. Vergessen, was ich einst besaß, das bleibt das einzige, was ich versuchen kann.«

Dies waren die Empfindungen des Malers und sie blieben noch immer dieselben, während im Försterhause zu Neuburg durch Larkens' Vermittlung längst alles wieder einen friedlichen Gang angenommen hatte. Zwar wunderte es den Alten, daß jene vertrauten Eröffnungen ganz mit Stillschweigen übergangen[60] wurden, doch hielt er zuletzt dafür, es geschehe mit Absicht und der Schwiegersohn wolle den gehässigen Gegenstand für jetzt nicht berührt wissen. Was Agnesens inneres Leben betrifft, so verhüllte sich jener hoffnungslose Wahn, der die Unglückliche noch immer beherrschte, vor dem Vater und gewissermaßen vor ihr selbst unter dem Eifer, womit sie Noltens Liebe durch schriftlichen Verkehr noch eine Zeitlang nähren zu müssen glaubte, und während sie sich einzig nur auf seine Ruhe bedacht schien, wollte sie keineswegs gewahr werden, wie begierig das eigene Herz bei diesem süßen Geschäfte sein Teil für sich wegnahm, wie gerne es, den Willen des Schicksals gleichsam hintergehend, den holden Tönen lauschte, welche Larkens täuschend genug dem wirklichen Geliebten nachzuspielen wußte. Übrigens blieb Vetter Otto immer das gefürchtete Augenmerk ihrer kranken Einbildung; er selbst hatte sich, nachdem ihn der Förster in aller Stille ernstlich abgewiesen, beschämt und ärgerlich zurückgezogen.

Die Zigeunerin war inzwischen auch wieder zum Vorschein gekommen; Agnes offenbarte ihr bei einer heimlichen Zusammenkunft den Plan ihrer Entsagung, womit die Betrügerin sehr zufrieden schien, und sogar einen Brief an Nolten zu besorgen versprach.

Auf diese Weise standen die Personen eine geraume Zeit in der wunderlichsten Situation gegeneinander, indem eines das andere mit mehr oder weniger Falschheit, mit mehr oder weniger Leidenschaft zu hintergehen bemüht war.

Nolten kam um so weniger in Versuchung, dem Schauspieler den wahren Grund seiner Entfremdung von der Braut zu entdecken, da dieser nicht weiter in ihn drang, indem er, vielleicht von eigenen Erfahrungen in der Liebe ausgehend, alles nur einer ekeln Lauheit zuschrieb, wogegen kein anderes Heilmittel sei als die Zeit, von der er denn auch mit größter Zuversicht das Beste hoffte, wenn nur sein Freund, erst anderwärts durch leichten Schaden klug geworden, die Ansicht mit ihm teilen gelernt hätte, daß die verfeinertsten Reize der weiblichen Welt keinen Ersatz für ein so seltenes Gut gewähren, als jenes einfache Mädchen nach der Überzeugung des Schauspielers war.

Wenn also zwischen beiden Freunden die Sache nur sehr wenig berührt wurde, so fehlte es gleichwohl nicht an Auftritten wie der, dessen sich der Leser vielleicht noch von jener Neujahrsnacht erinnert, wo übrigens unser Maler von einer[61] offenen Darlegung der Umstände nur noch durch die Furcht abgehalten ward, der Schauspieler möchte ihm ins Gewissen reden, und das zur höchsten Unzeit, da ihm in Constanzen ein neues herrliches Gestirn aufging.


Länger als gewöhnlich entbehrte Theobald die Gelegenheit das Zarlinsche Haus zu besuchen. Der Graf und Constanze hatten eine längst vorgehabte Reise zu einer Verwandten ausgeführt. Zwölf Tage verstrichen ihm unter leeren Zerstreuungen, unter der peinlichsten Unruhe, denn frühe genug hatten sich verschiedene Zweifel über das hohe Glück bei ihm eingestellt, das er sich vielleicht zu voreilig aus dem sonderbaren Vorfall in jener Ballnacht gedeutet haben konnte. Daß Constanze unlängst in seiner und anderer Freunde Gegenwart, als eben von der Blumensprache die Rede war, aus Gelegenheit eines blühenden Granatbaums das feurige Rot desselben für das Symbol lebhafter Neigung erklärt hatte, indem sie sich dabei schalkhaft geheimnisvoll auf das Urteil Noltens als »besonders passionierten Kenners« vorzugsweise berief, und daß ihm eine Woche später von unbekannter Hand ein solcher Strauß war angeheftet worden, konnte sehr leicht bloße Neckerei des Zufalls sein, oder wohl gar – und dieser Meinung sind wir selbst – der Schelmstreich einer lustigen Person, welche nicht nur jenen Ausdruck der Gräfin mit angehört, sondern auch dem Maler seine schwache Seite längst mochte abgelauscht haben. Er befand sich deshalb in der größten Ungewißheit; nur soviel schien ihm bisher ausgemacht, daß die Gräfin damals auf dem Balle gewesen, und jetzt erst fiel ihm ein, sich näher zu erkundigen. Aber auch wenn er manchmal sich selbst geflissentlich die vielverheißende Bedeutung jenes Zeichens ausredete, wenn er alles verwarf, was er sich sonst zu seinem Vorteil ausgelegt, so konnte er am Ende bei jedem Blick in sein Inneres bemerken, daß ein unerklärlicher Glaube, eine stille Zuversicht in ihm zurückgeblieben war, und er nahm sodann diese wundersame Hoffnung gleichsam wieder als ein neues Orakel, dem er unbedingt zu vertrauen habe. So eigen pflegt der Geist mit sich selber zu spielen, wenn jene träumerische Leidenschaft uns beherrscht.

Endlich kam der Abend, der den auserlesenen Zirkel wieder in das Haus des Grafen lud. Mit bangen Empfindungen schritt Nolten, gegen die kalte Winterluft dicht in den Mantel gehüllt,[62] an der Seite seines Freundes Larkens nach der geliebten Straße zu. Aber sie sahen die Jalousiefenster, deren sanft durchscheinendes Licht den kommenden Gästen sonst schon von weitem ein wohl erwärmtes, fröhlich belebtes Zimmer versprach, diesmal nicht erhellt, und schon besorgten sie eine widrige Täuschung, als der Bediente, der im untern Hausflur die Mäntel, Degen und Stöcke der Herren abzunehmen hatte, sie hinten durch den Garten nach dem Pavillon wies, dessen erleuchtete Glastüren auch wirklich schon von ferne die glänzende Gesellschaft zeigten.

Sie traten in einen angenehmen, geräumigen, halb runden Saal, dessen Wände rings mit Spiegellampen versehen waren. Maler Tillsen und der wunderliche Herr Hofrat sind die ersten, von welchen unser Freund sogleich ins Gespräch gezogen wird. Die schöne Hauswirtin, von einer Menge Damen umringt, schien sein Eintreten anfangs nicht zu bemerken, aber während Theobald zuweilen mit rechter Ungeduld hinüberschielte nach den freundlich beredten Lippen, nach dem stets gefällig mitnickenden Köpfchen, glitt zufällig ihr Blick über die versammelten Gruppen hin und eine gütige Verbeugung gegen Nolten setzte dessen Lebensgeister auf einmal in eine muntere, mit aller Welt ausgesöhnte Bewegung. Der Graf kam indessen mit einer Rolle Papier herbei und flüsterte: »Hier meine Herren – wir könnten später nicht mehr so leicht dazu kommen – eine neue Zeichnung in Tusch von unserer eigensinnigen Künstlerin, die uns gerne alles versteckte und verschöbe – aber diesmal hab ich selbst einigen Anteil an dem Lobe, das Sie ihr gönnen werden; die Idee ist, sozusagen, hälftig mein.« Er wollte eben das Blatt entrollen, als ihm von hinten eine zarte Hand in die Finger griff – »Erlauben meine Herren!« sagte die herbeigeeilte Schwester, merklich errötend, »es ist billig, daß ich die Sache selbst vorzeige: – zu seiner Zeit, heißt das!« setzte sie lachend hinzu und eilte mit dem Blatte nach dem Schrank, wo sie es trotz aller Einsprache der Anwesenden rasch verschloß. Sie verschwand in einem Kabinett, nach dem Tee zu sehen.

Wenn sie so auf Augenblicke abwesend war, so mochte Theobald gerne im ruhigsten Anschauen ihres geistigen Bildes das Auge auf irgendeinen der leblosen Gegenstände heften, mit dem ihre Person noch soeben in Berührung gekommen war. So stand auf einem schmalen Mahagonipfeiler an der Wand eine offene Kalla in buntgemaltem Topfe, der den goldenen Buchstaben C.[63] im blauen Schilde trug. Diese Pflanze, dachte er bei sich, nimmt sie nicht in meiner Einbildung einen Teil von Constanzens eigenem Wesen an? Ja, dieser herrliche Kelch, der aus seiner schneeigen Tiefe die mildesten Geister entläßt, diese dunkeln Blätter, die sich schützend und geschützt unter das stille Heiligtum der Blume breiten, wie schön wird durch das alles die Geliebte bezeichnet und was sie umgibt! wie vertritt die Pflanze mir durch ihre ahnungsvolle Gegenwart die himmlische Gestalt!

Unversehens war Constanze wieder da, die Gesellschaft diesmal allein bedienend. Sie brachte endlich Theobalden die Tasse, und indes Larkens eine neue Anekdote zu allgemeiner Belustigung preisgab, nahm jener Anlaß, sich scherzhaft gegen Constanze wegen der vorenthaltenen Tuscharbeit zu beschweren.

»Ei«, war die Antwort, »Sie haben's nicht um mich verdient, Sie haben mir neulich einen übeln Schrecken zugefügt, der mir wohl das Leben hätte kosten können, zwar bloß im Traume.«

»Wie? meine Gnädige, ich wäre so unglücklich gewesen? und so glücklich doch, daß mein Bild im kleinsten Ihrer Träume –?«

»Das eben nicht – doch ja, Ihr Bild, ein Bild aus Ihrer Phantasie.«

»Wieso, wenn ich fragen darf?«

»So hören Sie und lachen mich aus! Vorige Nacht beliebte es Ihrer gespensterhaften Orgelspielerin, ungebührlicherweise aus dem Rahmen des schauerlichen Gemäldes herauszuschreiten und leibhaftig vor mich hinzutreten.«

Nolten war bestürzt, ohne eigentlich zu wissen, warum.

»Ja, ja, mein Herr! mit recht kuriosen, hämischen Augen starrte sie mir tief ins Gesicht und sagte – nein! das sollen Sie jetzt nicht hören.«

»Ich bitte!«

»Nehmen Sie sich in acht –«

»Sagte sie?«

»Nicht doch, das sag ich; eben gleitet Ihnen ja die Tasse aus der Hand!«

»Wirklich fast – Aber was sprach der Geist?« fragte Nolten dringend aufs neue, und nach einer Pause brachte die schöne Frau mit kaum unterdrückter Verwirrung die Worte hervor: »›Constanze Josephine Armond wird auch bald die Orgel mit uns spielen‹« –

»Aber, mein Gott«, erwiderte Nolten, »doch hat der Traum Sie nicht erschrecken können?«[64]

»Bis zum Erwachen doch; übrigens dank ich ihm, daß er mir Anlaß gibt, meinem etwaigen Berufe zu dieser Gattung von Musik, sowie meiner Aufnahme in so ernste Gesellschaft, auch ein wenig nachzudenken.«

Theobald, wie er nun wieder allein stand, wußte nicht, was er aus den letzten Worten machen sollte; dem Tone nach konnten sie nur für Scherz gelten, aber das Ganze hatte einen störenden Eindruck bei ihm zurückgelassen. Warum denn just diese Figur? Er wußte zu gut, daß er gerade in ihr das getreue Porträt eines Zigeunermädchens, einer Person dargestellt hatte, welche einst verhängnisvoll genug in sein eigenes Leben eingegriffen hatte. Auf der andern Seite ließ sich alles und jedes ganz natürlich aus dem starken Eindruck erklären, welchen das Gemälde auf eine sehr empfängliche Einbildungskraft machen mußte.

Was übrigens den Mut unsers Freundes noch weit mehr niederschlug, das war die aus dem Verfolg des allgemeinen Gesprächs für ihn hervorgegangene Gewißheit, daß Constanze damals wirklich nicht an der Maskerade teilgenommen, sondern bereits auf der Reise begriffen gewesen.

Die nicht mehr erwartete Ankunft des Herzogs verursachte eine plötzliche Bewegung. Nolten aber, statt durch die Gegenwart seines Rivals nur immer trüber und unmächtiger in sich selbst zu versinken, fühlte sich dadurch zu einem gewissen Kraftaufwande genötigt, der, obgleich anfangs nur erkünstelt, doch bald, von Larkens' ehrlicher Munterkeit unterstützt, eine wohltätige Wirkung auf das Ganze ausübte. Vorzüglich willkommen war es Theobalden, als man endlich auf den Wunsch des Herzogs selbst Anstalt machte, ein gewisses Spiel vorzunehmen, das auf eine sinnreiche Art drei verschiedene Künste in Verbindung brachte, den Tanz, die Malerei oder Zeichnung, und untergeordneterweise die Musik. Dies setzt jedoch folgende Bemerkung voraus. Constanze, bekannt als fertige und geistreiche Zeichnerin, war zugleich eine große Freundin des schönen künstlichen Tanzes und entwickelte namentlich bei Solopartien eine hohe Grazie. Nun hatte Nolten einmal gelegentlich den Einfall geäußert, es müßte eine artige Unterhaltung abgeben, wenn einige Personen in Zeit von einer kleinen Stunde zusammen ein Tableau, irgendeine Szene zeichneten, indem sie den Kreidenstift von Hand zu Hand gebend, nach einer langsamen Melodie tanzend, abwechslungsweise vor eine aufgerichtete Tafel[65] träten und den darzustellenden Gegenstand immer nur um einige Striche weiter förderten, bis zuletzt eine harmonische Komposition zum Vorschein käme, über die man sich zuvor im allgemeinen verständigt, deren Einzelheiten aber der augenblicklichen Eingebung eines jeden überlassen war. Der Gedanke fand Beifall, und nach einigem Besprechen zeigte sich die Möglichkeit seiner Ausführung vollkommen, obwohl man anfangs verlegen war, die gehörige Anzahl von Tänzern, die auch zugleich gute Zeichner wären, und umgekehrt, zu finden. Doch hiezu wußte man Rat. Nolten selbst, obgleich ein abgesagter Feind alles des Schlendrians, um den sich unsere Ballbelustigungen gewöhnlich zu drehen pflegen, besaß doch Leichtigkeit der Glieder und reinen Sinn genug für eine edle rhythmische Bewegung. Die dritte Rolle mußte notwendig Herrn Tillsen übergeben werden, denn wenn vielleicht auch der ungeübteste Tänzer immer noch besser gewesen wäre als er, so blieb doch die andere Eigenschaft die wichtigere. »Und«, sagte er verbindlich zu der Gräfin, »neben Ihnen würde ein Vestris übersehen werden, glücklicherweise also auch Tillsen, der ich in diesem Stück zum voraus allem Neid und jedem Ruhm entsage.«

Seitdem hatte man diese Unterhaltung schon etliche Abende mit Glück versucht. So ließ man denn auch jetzt die eigens hiezu bestimmte große Tafel aufstellen, deren angenehm graulackierte Fläche recht eigentlich einladend sich dem schwarzen Stifte darbot. Ein schöner Fußteppich lag unmittelbar davor auf dem Boden gebreitet, für eine stärkere Beleuchtung war ebenfalls gesorgt. Die drei Virtuosen kamen heimlich in der Wahl eines anziehenden Sujets überein Larkens nahm die Violine zur Hand und eröffnete das Spiel mit einer gewissen Feierlichkeit, dadurch die Erwartung nur noch mehr gespannt wurde. Jetzt trat Constanze, im weißen Atlaskleide, mit ernstem Schritt hervor, stellte sich einige Momente sinnend der Tafel gegenüber, allmählich fing ihre Gestalt an mit der Musik sich zu heben, in mäßiger Bewegung bald nach beiden Seiten schwebend, bald der Tafel entgegen. Sie schien dabei noch immer den ersten entscheidenden Strich zu überlegen, jetzt hielt sie vor dem Brette still, indem sie leicht vorgebeugt auf dem rechten Fuße fest stehend, den linken rückwärts auf die Zehe gestützt, die Kreide ansetzte. Das begleitende Adagio der Violine schien die Hand gefällig auf der glatten Fläche hinzuführen. Bald erkannte man die Umrisse eines lieblichen Knabenkopfs, welcher[66] mit dringenden Blicken bittend an etwas hinaufsieht. Dieser Ausdruck des Affekts war von der Art, daß er in der vorgreifenden Phantasie des Zuschauers beinahe jetzt schon ein paar flehend ausgestreckte Arme und Hände hervorrufen mußte. Doch die Zeichnerin hielt inne, und unter einem Allegro zurücktretend, beobachtete sie, während ihr reizender Leib sich hin und her wiegte, das angefangene Werk noch eine kleine Weile. Mit einer Verbeugung empfing Tillsen die Kreide aus ihrer Hand und ohne viel Umstände stellte dieser Meister mit raschen Zügen den oberen kraftvollen Körper eines Mannes in drohender Gebärde dem Mitleid fordernden Gesichtchen gegenüber. Die Begierde der Gesellschaft wuchs mit jeder Linie, es ließen sich schon einige Beifall rufende Stimmen vernehmen, es hieß: der junge Prinz Arthur ist's, wie er vor seinem Mörder steht! Aber der freudigste Applaus entstand als Constanze nachdem Tillsen für Theobald den Platz geräumt, vom Eifer ihres Gedankens hingerissen, dem letztern in den Weg sprang und nun die beiden großen Gestalten mit trefflich mimischer Heftigkeit um das Vorrecht der Kreide rangen, die denn zuletzt in zwei geschickte Teile brach, worauf das Paar bei lebhafter Musik ein verschlungenes Duo tanzte, um dann vereinigt vor die Tafel zu schreiten. Die Hauptsache war in kurzer Zeit getan, die Versammlung drängte sich herbei, inzwischen Tillsen noch mit einigen derben Strichen nachhalf. Man lobte, tadelte, lachte, bewunderte, wie es auch bei einer solchen Stegreifproduktion nicht fehlen konnte, daß neben den glücklichsten Spuren eines umfassenden, gleichartigen Geistes doch immer etwas Inkorrektes oder Halbes hervorsprang. Im ganzen war die Szene so wohlgeraten, daß Tillsen der Aufforderung gerne nachgab, sie gelegentlich für das kleine Gesellschaftsarchiv zu kopieren.

In der Hitze des Hin- und Widerredens war indessen kaum jemandem aufgefallen, wie Constanze mit jedem Augenblicke blaß und blässer wurde. Sie entfernt sich in ein Seitenzimmer man flüstert, die Damen eilen nach, alles wird aufmerksam, der Herzog läßt sich nicht halten, sie selbst zu sehen, er klagt sich an, daß er den anstrengenden Tanz verlangt, am meisten ist Nolten bestürzt. Es konnte ihm nicht entgehen, daß unter der Türe noch Constanzes letzter Blick mit einem matten sonderbaren Lächeln auf ihm ruhte. Endlich geht man auseinander nachdem der Graf, aus dem Kabinette tretend, die Versicherung[67] gegeben, man habe von dem Anfall keine Folgen zu befürchten.

In den folgenden Tagen erging vom Grafen eine Einladung an Theobald, gemeinschaftlich das unfern der Stadt gelegene Lustschloß des Königs, Wetterswyl, zu besuchen, wo man eben im Begriff war, mehrere kürzlich vom Ausland angekommene Statuen aufzustellen. Der italienische Künstler mußte selbst dabei zugegen sein, und sowohl die Persönlichkeit des letztern als jene Werke lockten manchen Gebildeten und manchen Neugierigen heraus Unserem Freunde war die Gelegenheit nicht minder erwünscht, doch zog er es vor, den angenehmen, auch zur Winterszeit immer noch gar mannigfaltigen Weg dahin allein zu Pferde zu machen, während der Graf im Schlitten fuhr. Der heiterste Januarmorgen begünstigte den Ausflug; die Sonne war kaum aufgegangen, als Theobald schon, in lebhaftem Trabe sich erwärmend, von der Straße ab, den schönen einsamen Gründen zustrich, welche, größtenteils von Fichten und Niederwald besetzt, allmählich der Höhe des königlichen Parks zuführten. Rings gewährte die Landschaft, in dichter Schneehülle und nur von dunkeln Waldstrecken durchbrochen, ein vollständiges Wintergemälde, und die Gemütsstimmung Noltens nahm diese stillen Eindrücke heute ganz besonders willig auf. Eine unbestimmte Mischung von Lebenslust und Wehmut lag allen seinen Betrachtungen zugrunde, wobei er anfangs deutlich zu fühlen glaubte, daß die Neigung zu Constanzen keinen oder doch nur einen sehr entfernten Anteil daran habe, bis ihm mitten unter seinen Träumereien ein längst vergessenes Lied von Larkens wieder vor der Seele aufging, welches ihm seinen gegenwärtigen Zustand wunderbar zu erklären schien. Er wiederholte sich die Verse seines Freundes, und konnte zuletzt nicht umhin, sie laut für sich zu singen.


In dieser Winterfrühe,

Wie ist mir doch zumut?

O Morgenrot! ich glühe

Von deinem Jugendblut.


Es glüht der alte Felsen,

Die Wälder Funken sprühn;

Berauschte Nebel wälzen

Sich in dem Tale hin.
[68]

Wie von der Höhe nieder

Der reinste Himmel flimmt,

Der nun um Rosenglieder

Entzückter Engel schwimmt!


Und Wunderkräfte spielen

Mir fröhlich durch die Brust,

In taumelnden Gefühlen

Kaum bin ich mir bewußt.


Mit tatenlustger Eile

Erhebt sich Geist und Sinn,

Und flügelt goldne Pfeile

Durch alle Ferne hin.


Wo denk ich hinzuschweifen?

Faßt mich ein Zauberschwarm?

Will ich die Welt ergreifen

Mit diesem jungen Arm?


Auf Zinnen möcht ich springen,

In alter Fürsten Schloß,

Möcht hohe Lieder singen,

Mich schwingen auf das Roß;


Und stolzen Siegeswagen

Stürzt ich mich brausend nach,

Die Harfe wird zerschlagen,

Die nur von Liebe sprach.


– Wie? schwärmst du so vermessen,

Herz! hast du nicht bedacht,

Hast, Närrchen, ganz vergessen,

Was dich so trunken macht?


Ach wohl, was aus mir singet

Ist nur der Liebe Glück;

Die wirren Töne schlinget

Sie sanft in sich zurück.
[69]

Was hilft, was hilft mein Sehnen!

Geliebte, wärst du hier!

In tausend Freudetränen

Verging' die Erde mir.


Bei seiner Ankunft im Schlosse fand er den Italiener, einen lebhaften Mann von mittleren Jahren, in komisch leidenschaftlichem Kommando mit den Leuten begriffen, welche die marmornen Kunstwerke in dem Hauptsaale aufzustellen hatten. Zwischen Zorn und Spaß schrie und lachte der Strudelkopf auf das grellste und brauchte zuweilen auch wohl den Stock gegen einen der Arbeiter, wovon keiner seine Sprache verstand. Theobald, nach einer sorgfältigen Beachtung der in ihrer Art einzigen Skulpturen, redete den Fremden italienisch an, und würde sich bei seiner Unterhaltung hinlänglich interessiert gefunden haben, wäre das Bestreben des Fremden, immer nur recht paradox zu sein und das Ernsthafte ins Lächerliche zu ziehen, nicht allzu widrig aufgefallen. Ja, am Ende, als der künstlerische Charakter Theobalds zur Sprache kam, konnte der Mann eine gewisse tückische Neckerei nicht lassen. Halb gekränkt und unwillig entzog sich unser Freund, um auf die spätere Ankunft des Grafen ein frugales Mittagsmahl in der Meierei zu bestellen. Müßig wie er war, besah er sich sodann die Umgebungen und die innere Einrichtung des fürstlichen Aufenthalts. Mehrere Zimmer gewährten eine reiche und belehrende Unterhaltung an ausgesuchten Malereien; es war leicht, sich in diesen geschmackvollen Räumen auf einige Zeit selber zu vergessen, und so stand er eben betrachtend mit sich allein, als ihm der entfernte Spiegel eines dritten Zimmers zwei von der entgegengesetzten Seite herbeikommende Personen zeigte, in denen er bei genauerem Hinblicken endlich den Grafen, und gegen alle seine Erwartung, Constanzen selbst erkennen konnte. Ganz außer Fassung gebracht schaute er unverrückt mit klopfendem Herzen noch immer auf die nah und näher im Spiegel herbeischwebenden Gestalten, bis die Tritte hinter ihm rauschten, und seinerseits ein ziemlich verwirrtes, andererseits ein durchaus unbefangenes und fröhliches Willkommen stattfand. Nie war ihm die Gräfin so reizend, so anmutig vorgekommen, sie trug ein mild graues Kleid mit roten Schnüren, Gürtel und Schleifen, deren Faltung und Farbe ihm flüchtig die Granatblüte wieder in das Gedächtnis rief; an die zarte Wange, von der[70] frischen Luft mit einem leisen Karmin überhaucht, legte sich ein weißer Pelz, und der zurückgeschlagene Schleier ließ dem Beschauer den Anblick des holdesten Gesichtes frei. Man kehrte fürs erste zu den neuen Sehenswürdigkeiten und ihrem tollen Meister zurück, an dessen Art und Weise der Graf sich dergestalt erbaute, daß die Schwester, sich mit einiger Ungeduld nach anderem umsehend, den Vorschlag Noltens, in den mannigfaltigen Sälen hin und wieder zu wandeln, nicht ungerne annahm. Gar bald ging ihre Unterhaltung auf eigene Verhältnisse und Persönlichkeiten über, denn Noltens leidenschaftlich beengte und zurückhaltende Stimmung gab Constanzen Anlaß, einen leichten Vorwurf gegen ihn auszusprechen, den er sogleich ergriff und ins Allgemeine über sich ausdehnte.

»Sie haben recht!« sagte er, »und nicht heute, nicht in gewissen Augenblicken bloß bemächtigt sich meiner dieser lästige, mir selbst verhafte Mißmut; es ist keine Laune, die nur kommt und geht, es ist ein stetes unruhiges Gefühl, daß es anders mit mir sein sollte und könnte, als es ist.«

»Wie meinen Sie das? Sollte Ihnen Ihre Lage nicht genügen? Das wäre mir doch kaum gedenkbar.«

»Sprechen Sie's geradezu aus, gnädige Frau: Es wäre unbillig. Wohl, es ist wahr, ich könnte glücklich sein, aber ich weiß nicht eigentlich zu sagen, warum ich es nicht bin. Ich wäre undankbar, wollte ich nicht gerne bekennen, daß während meines ganzen Lebens sich alle Umstände vereinigten, mich endlich bis zu dem Punkte zu führen, auf dem ich jetzt stehe, in eine Lage, die mancher andere und würdigere Mann vergebens suchte. Ein günstiges Schicksal, so grillenhaft und mißwollend es mitunter scheinen mochte, trug nur dazu bei, ein Talent in mir zu fördern, in dessen freier Ausübung ich von jeher das einzige Ziel meiner Wünsche erblickt hatte. Manche Arbeit ist mir gelungen, ich habe, wenn ich meinen Freunden glauben darf, den höheren Forderungen der Kunst einiges Genüge getan, und, was mir fast ebenso lieb sein sollte, man hat von der Zukunft größere Erwartungen, ohne daß mir vor ihrer Erfüllung bange wäre. Ein unendliches Feld dehnt sich vor mir aus, und wenn ich sonst an der Möglichkeit verzweifelte, die Welt, welche sich in mir drängte, jemals in heiterer Gestaltung an das Licht hervorzuführen, so seh ich, daß sie jetzt, sobald ich recht will, von selber leicht und zwanglos unter meinem Pinsel sich befreit. Aber wie kommt es, daß eben jetzt mein[71] Fleiß und meine Lust nachläßt? Warum so manche Arbeit angefangen, ohne sie zu vollenden? Woher die Ungeduld, sich auswärts umzutun, überall, nur nicht in meinen vier Pfählen vor meiner Staffelei mich zu befriedigen? Was den Künstler sonst wohl reizt und treibt und ermuntert, das ist die Hoffnung auf die ruhmvolle Anerkennung der Verständigen, die rege Teilnahme zunächst seiner Freunde; auch mir war dies Gefühl nicht fremd, jetzt vermag es nichts mehr auf mich. Ungenützt und trocken und verdrießlich gehn mir die Wochen dahin, und nur die Stunden glaub ich wirklich gelebt zu haben, die mir in Ihrem Hause vergönnt sind. Aber nun, für einen Mann, welcher seine Pflicht so gut fühlt, als ein jeder andere, sagen Sie mir, ist so ein Leben nicht ein unerträgliches? Und sehen Sie ein Mittel, es zu ändern? Könnten Sie auch nur den kranken Fleck entdecken, wovon mir all dies Unheil kommt, das mich so gänzlich von mir selber trennt und scheidet?«

»Mit Verwunderung, Nolten, hör ich Sie an«, erwiderte die Gräfin, »und Ihre Klagen, ich gestehe es, mißfallen mir mehr, als daß mein Mitleid dadurch rege würde. Ich verstehe Sie nicht ganz, nur glaub ich fast zu sehen, die Schuld liegt meist an Ihnen. Gern dacht ich Sie mir diese ganze Zeit her tätig, frisch und aller Hoffnung voll. Ließen nicht Ihre Gespräche nur den wärmsten Eifer blicken für Ihren Beruf und alles, was dahin gehört? War Ihr Benehmen denn nicht weit mehr heiter als zerstreut und unbefriedigt? Wie angenehm für unsern kleinen Kreis, wenn Sie des Abends als ein mehr und mehr unentbehrlich werdender Gast bei uns erschienen, munter, gefällig, teilnehmend an allem, erfinderisch für jede Art von Unterhaltung, dabei bescheiden und ohne viel Worte. Dann, was soll ich's Ihnen bergen, so wie auf diese Weise wir Ihnen manches schuldig wurden, so mochten wir uns gerne überreden, daß eben in unserem Hause eine Zuflucht für Nolten gefunden sei, wo der Künstler das vielfach bewegte Leben seines Innern harmlos und ruhig mit der Gesellschaft zu vermitteln imstande wäre, um immer wieder mit freigeklärter Stirne in den Ernst seiner Werkstätte zurückzukehren und sich mit mehr Gelassenheit alles desjenigen zu bemeistern, was sonst mit verworrener Übermacht betäubend und niederschlagend auf ihn eindrang. Ja, mein Freund, Sie mögen im stillen meiner spotten, ich leugne nicht, so weit gingen meine Hoffnungen.«

»Verhüte Gott es, edle vortreffliche Frau, daß ich verkennen[72] sollte, was Sie mit unverdienter Güte für mich dachten! Mehr weit mehr als Sie soeben angedeutet haben, könnte der herrliche Kreis mir gewähren, wofern ich den Segen zu nutzen verstünde, den er mir bietet. Aber, meine Gnädige, wenn gerade der neue Reiz dieser schönen Sphäre einen Zwiespalt in mir hervorbrächte, wenn der innige Anteil, den das Herz hier nehmen muß, dem weit allgemeineren Interesse des Geistes im Wege stünde, wenn ich, statt beruhigt und gestärkt zu mir selbst zurückzukehren, immer das leidenschaftliche Verlangen fühlte, in den Mittelpunkt eines so lieblichen Vereins alle Strahlen meines menschlichen und künstlerischen Daseins zu versammeln, sie ewig dort festzuhalten, und so meinem Bestreben einen um so wärmeren Schwung, einen unmittelbareren Lohn zu verschaffen, als der zerstreute Beifall der Welt jemals gewähren kann?«

»Es liegt«, antwortete die Gräfin nach einigem Nachsinnen mit Heiterkeit, »es liegt in der Natur von Männern Ihresgleichen, alles nur einseitig zu nehmen, von einer Seite her alles zu erwarten, und zwar je unmöglicher, je schädlicher es wäre. Indessen, mein lieber Maler, ich bin für jetzt nicht gefaßt, noch geneigt, in Ihren gegenwärtigen Zustand, in Ihr Wünschen und Wollen augenblicklich ratend und helfend einzugehen. Die erhabenen Grillen dieses Geschlechts von Künstlern sind schwer zu fassen, und wir scharfsinnigen Frauen haben jedesmal Mühe, um bei dergleichen subtilen Erörterungen, wo wir nur lauschen, nur tasten und halb erwidern können, nicht unsern Blödsinn, unsre Einfalt zu verraten. Am Ende möchten wir bei einem Menschen, welchem wir doch einmal herzlich wohlwollen, alles gerne mit einem Schlage gutmachen, und, dem Unnatürlichen zum Trotz, mit der natürlichsten Auskunft dazwischenfahren. Gar oft sind wir aber selbst um eine solche Zauberformel verlegen, ja wenn wir sie gefunden zu haben glauben, will es uns manchmal gefährlich dünken, davon Gebrauch zu machen, und so können wir zuletzt nichts Besseres tun, als – mit Bedeutung schweigen und die Herren an ihren Genius verweisen.«

Theobald machten diese Worte nachdenklich; sie schienen ein Verständnis der Absicht, welche er vorhin halb versteckt Constanzen nahegelegt, ebenso zweideutig zu verhüllen, und obgleich sich bereits ein guter Schluß auf die Gesinnungen der liebenswürdigen Frau daraus machen ließ, so hatte der muntere ablehnende Ton ihn doch etwas erschreckt, sogar verletzt.[73]

Die Gräfin sah sich im Vorbeigehen nach den beiden Herren um; da jedoch der Italiener soeben in einer lustigen und langen Erzählung begriffen war, welche für ein weibliches Ohr nicht eben von der delikatesten Art sein mochte, so zog sich Constanze wieder zu rück, und Theobald verfehlte keineswegs, ihr Gesellschaft zu leisten.

Sie stiegen die breiten Stufen zur Gartenanlage hinab, und die Gräfin bezeugte auf eine drollige und neckische Art ihre Freude über die Leichtigkeit, womit sie auf der gefrorenen Schneedecke hinschlüpfen konnte, indes ihr Begleiter zuweilen unversehens mit dem Fuße einsank. Aber all ihr munteres Wesen vermochte kaum etwas gegen den sinnenden Ernst des Malers. Sie kamen vor eine dunkle Gruppe hoher Forchen, welche den Eingang zu der sogenannten schönen Grotte vorbereiteten. Diese zog sich eine beträchtliche Länge unter einem reichbewachsenen Felsen fort und führte unmittelbar in den großen Saal der Orangerie. Nicht ohne vielen Sinn war die Sache so angelegt worden, um dem Spaziergänger eine höchst überraschende Szene zu bereiten, wenn man, besonders zu dieser Jahreszeit, aus dem toten Wintergarten in eine schauerliche Nacht eingetreten, nach etlichen hundert Schritten mit einem Male einen hellgrünen, warmen Frühling zauberhaft aus breiten Glastüren sich entgegenleuchten sah.

Theobald forderte zu einem Gang durch die Höhle auf, und die Gräfin, die den Ort noch nicht kannte, nahm nach kurzem Zaudern den Arm ihres Begleiters an. Ein eisernes Geländer, woran man fortlief, leitete sicher an den Wänden hin, und so waren beide mit vorsichtigen Tritten eine Strecke weit gewandert, als Constanze, das Ende des dunkeln Ganges vergeblich erwartend, bereits ängstlich die Umkehr verlangte. Nolten bat dringend, vollends auszuhalten, und überredete sie endlich. Aber in steter Furcht, einen Mißtritt zu tun, oder gegen einen Vorsprung des Felsen zu stoßen, hielt sich die zarte Frau fest und fester an ihren Führer, und indes beide schweigend und sachte nebeneinander gingen, wie seltsam war es unserem Freunde, so viel Schönheit und Jugend in voller und doch unsichtbarer Gegenwart leis atmend an seiner Seite! Sein Herz pochte gewaltsamer, und wie schon das Wunderbare und Großartige eines solchen Ortes erhöhend auf die Sinne wirkt, so steigerte sich jetzt seine Phantasie bis zu einer gewissen Feierlichkeit, alles schien ihm etwas Außerordentliches, etwas Entscheidendes ankündigen zu wollen.[74]

Dies trat auch nur zu bald und auf ganz andere Weise ein, als er sich hätte je vermuten können; denn in dem Augenblick, wo ihm vorne ein dämmernd hereinfallendes Licht den nahen Ausgang verheißt, glaubt er von derselben Seite her eine Stimme zu vernehmen, deren wohlbekannter Ton ihn plötzlich starr wie eingewurzelt stehenbleiben macht. Constanze fühlt, wie er zusammenschrickt, wie sein Atem ungestüm sich hebt, wie er mit der Faust gegen die Brust fährt, »Was ist das? um Gottes willen Nolten, was haben Sie?« Er schweigt. »Wird Ihnen nicht wohl? Ich beschwöre, reden Sie doch!«

»Keine Furcht, edle Frau Besorgen Sie nichts – aber ich gehe nicht weiter – keinen Schritt – denken Sie was Sie wollen, nur fragen Sie mich nicht!«

»Nolten!« entgegnete die Gräfin mit Heftigkeit, »was soll der unsinnige Auftritt? kommen Sie! Soll ich mich etwa krank hier frieren? Was haben Sie vor? Den Augenblick verlaß ich diesen Ort – werden Sie mir folgen oder geh ich allein? Lassen Sie mich los! ich befehl es Ihnen.« – Er hält sie fester. »Nolten! ich rufe laut, wenn Sie beharren!«

»Ja, rufen Sie! rufen Sie ihn herbei – er ist nicht weit von uns – ich habe seine Stimme gehört, meines schlimmsten, meines tödlichsten Feindes – Herzog Adolph ist in der Nähe!«

Nun erst schien Constanze zu begreifen; sie stand sprachlos, ohne Bewegung.

»Der Augenblick ist da!« rief Theobald, »ich fühl es, jetzt, oder niemals muß es heraus, das Geheimnis, das seit Monaten an meinem Leben zehrt und frißt, das mich zugrunde richten wird, wenn ich's nicht endlich darf aus der Brust stoßen – Constanze! ahnest du es nicht? O daß ich dir ins Auge blicken, dir's von der Stirne lesen könnte, du habest längst erraten!«

»Still, Nolten! schweigen Sie – um meiner Ruhe willen, kein Wort weiter! Kommen Sie vorwärts, dort an das Licht –«

»Dorthin? nein, nimmermehr! sein Sie barmherzig – Nicht daß ich mich fürchtete vor ihm, dem Übermütigen – sein Anblick nur ist mir unerträglich – Jetzt, eben jetzt, als hätte die Hölle ihn bestellt, mir jede meiner kurzen Seligkeiten zu vergiften! Ich haß ihn, haß ihn, weil er um deine Liebe schleicht Constanze! Ist's nicht so? kannst du's leugnen? und dürft er hoffen? Er? Gib einen Laut! Laß mich's erfahren! Alles weißt du, weißt, was ich leide, mein Herz, mein Verlangen kann dir[75] nicht unbekannt sein; Engel! o himmlischer, gib mir ein Zeichen! Laß mir ein Lispeln, mir einen schwachen Händedruck bekennen, was du im stillen mir zudenkst, was deine Güte schüchtern mir gewähren möchte! Glaub mir, ein Gott hat uns hieher geführt, mein Innerstes erst bitter aufgeregt und alles, alles – Haß, Verzweiflung, Angst, die unbegrenzte Wonne deiner Nähe zusammengedrängt hier in diesen verborgenen Winkel, um endlich mein Herz hervorzurufen, mir das Bekenntnis zu entreißen, und auch deine Lippen aufzuschließen – So sprich denn, o sprich! die Minuten sind kostbar!« Er zog die Zitternde, Verstummte an sich. Ihr Haupt sinkt unwillkürlich an seine Brust, indes ihre Tränen fließen und sein Kuß auf ihrem Halse brennt. Den Mund in die dichte Lockenfülle drückend, hätte er ersticken mögen vom süß betäubenden Dufte dieser üppigen Haare – der Boden schien sich zu teilen unter den Füßen Constanzens – Erd und Himmel zu taumeln vor ihrem geschlossenen Auge – in eine unendliche Nacht voll seliger Qualen stürzt ihr Gedanke hinab – liebliche Bilder in flammendem Rosenschein, wechselnd mit drohenden, grünaugigen Larven, dringen auf sie ein – aber noch immer halten ihre Kniee sich aufrecht, noch immer entfahrt ihr kein Laut, kein Seufzer, nur von einem flüchtigen Schauder zuckt augenblicklich ihr Körper zusammen. Mächtiger, kecker fühlt das herrliche Weib sich umschlungen; da rauscht auf einmal der Tritt eines Menschen unfern von ihnen, jäher Schrecken faßt Theobald an, und eh er noch seitwärts ausbeugen kann, streift schon das Kleid des Vorübergehenden an ihnen hin. Glücklich war die Gefahr überstanden. Niemand als der Herzog kann es gewesen sein. Theobald schöpft wieder Atem. Constanze, regungslos in seinen Armen, scheint von allem nichts bemerkt zu haben. Nach einer Weile fährt sie wie aus einem Traume empor und – »Fort! fort!« ruft sie mit durchdringender Stimme – »Wo bin ich? Was soll ich hier? Hinweg, hinweg!« Sie riß sich heftig los und eilte voran, so daß Theobald kaum mehr folgen konnte. Ein blendendes Meer von Sonnenschein empfängt die Eilenden an der Schwelle des blühenden Saales. Nolten will soeben die Gräfin erreichen, aber die große Glastüre schlägt klirrend hinter ihr zu, ohne daß er sie wieder öffnen könnte. Er sieht die geliebte Gestalt zwischen dem Laub der Orangen verschwinden. Trunken an allen Sinnen, ratlos, verwirrt, in schmerzlicher Furcht steht er allein. Noch einmal versucht er das verwünschte[76] Schloß – umsonst, er sieht sich gezwungen, rückwärts zu gehen. Wütend rennt er eine Strecke fort bis in die Gegend der verhängnisvollen Stelle, wo er stehenbleibt, sich fragt, ob es Blendwerk, ob es Wirklichkeit gewesen, was hier vorgegangen? Unmöglich schien es, daß noch soeben Constanze hier zwischen diesen Felsen gestanden, daß er sie, sie selber in seinen Armen gehalten, ihren Busen an dem seinigen klopfen gehört. Wie kalt und teilnahmlos lag jetzt diese Finsternis um ihn her, wie so gar nicht schienen diese rohen Massen von jener holden Gegenwart zu wissen, deren Gottheit noch soeben rings die Nacht purpurisch glühen machte! Hier klang das Rufen der Geliebten hier fiel der Tropfe aus dem schönen Auge! O läßt kein leiser Geisterton sich hören, der mir versichere: ja, hier war es, hier geschah's! Begreife denn dein Glück, ungläubig Herz! umfaß, umspanne den vollen Gedanken, wenn du es kannst, denn ohne Grenzen ist dein Glück, auch dann, wenn du sie nimmer sehen solltest, wenn dich ihr Zorn, ihr Stolz auch auf immer verbannte! War sie nicht dein, dir hingegeben einen vollen, unerschöpflichen Moment? O dieser Augenblick sollte eine bettelarme leere Ewigkeit reich machen können!

Glühend aufgeregt verließ der Freund den Ort, und um sich, so gut es gehen mochte, noch zu sammeln, nahm er absichtlich einen weiten Umweg nach dem Saale, wo die Gesellschaft beieinander war.

»Sie bleiben lange aus!« rief ihm der Graf entgegen, »und haben dadurch den Herzog versäumt, welcher diesen Morgen auf eine Stunde hier gewesen, aber bereits wieder weg ist.«

Die Unbefangenheit dieses Empfangs, den er mit einer leichten Entschuldigung erwiderte, und die Ruhe, welche sich in Constanzens Benehmen aussprach, überzeugte Theobald hinlänglich, daß ihre und seine Abwesenheit nicht aufgefallen war. Dennoch wollte ihn die Art, wie die schöne Frau sich anließ befremden: sie kam ihm beinahe wie ein anderes Wesen vor, ernst ohne niedergeschlagen, zurückhaltend und höflich, ohne abstoßend zu sein; eine gleichgültige Frage, die er an sie richtete, beantwortete sie mit mehr Natürlichkeit und Geistesgegenwart, als der Frager in diesem Augenblicke selbst besaß. Bei alledem schien ihre Miene das, was vorgefallen war, eher stillschweigend zu verzeihen als zu billigen, ja es hatte das Ansehen, als verleugnete sie die Erinnerung daran ganz und gar.[77]

Nicht mehr lange, so wurde das Mittagessen angesagt, wozu der Graf ohne weiteres auch den Italiener geladen hatte, zu nicht geringem Verdrusse Noltens, der es denn auch geduldig geschehen lassen mußte, als jener sich die Gnade erbat, Eccellenza der Frau Gräfin seinen Arm zum Gange nach dem Meierhause leihen zu dürfen.

Die kleine Tafel fiel reichlicher aus, als man erwartet hatte, denn außer dem fremden Weine, der im Schlitten des Grafen mitgekommen war, fand sich ein schmackhafter und seltener Bissen Geflügel ein, bei dessen Auftischung der Graf zu bemerken nicht unterließ, daß man den trefflichen Seevogel der Galanterie seiner Hoheit verdanke, der Herr Herzog haben ihn vorhin am großen Teiche geschossen.

Der Italiener hielt sich besonders an den feinen Roussillon und schwatzte kunterbuntes Zeug durcheinander, was indessen für Theobald zu jeder andern Zeit ärgerlicher gewesen wäre, als jetzt, wo er seine Zerstreuung gerne hinter diesen Lärm verbarg. Man redete dem Ausländer zuliebe, der kein Deutsch verstand, und Constanzen, der das Italienische nicht geläufig war, französisch, und unser Freund fand in dieser fremden Sprache eine willkommene Art von Scheidewand zwischen sich selber und seinem gegenwärtigen Gefühl; aber sonderbarerweise rückte sich ihm auch die lebhafte Szene von heute morgen nur um desto mehr in das Unglaubliche, ja Constanze selbst verschwand ihm in eine zweifelhafte Ferne, so nahe ihm ihre äußere Gestalt auch war. Er sah die jetzt verflossenen Stunden, wenn er je sie wirklich verlebt haben sollte, wie eine längst entflohene Vergangenheit an, aber die Gegenwart deuchte ihm deshalb um nichts wahrhafter und gegenwärtiger und die Zukunft völlig ein Unding.

So leidlich auf diese Art die Stimmung Theobalds war, so bitter sollte sie bald gestört werden. Der fremde Künstler nahm nach und nach Anlaß, seine gute Laune an dem Manne zu üben, welchen er doch in keinem Betracht als Nebenbuhler ansehen konnte. Erst waren es leichte Spötteleien, dann höchst indiskrete Fragen, worauf Nolten anfangs mit gutmütigem Spaße, zuletzt mit einiger Schärfe antwortete, ohne jedoch seinen Gegner zu dem Grade von Wut reizen zu wollen, welcher sich alsbald sehr ungesittet hervortat, so daß Nolten schnelle aufstand und dem Schreier den Vorschlag machte, den Streit außerhalb des Zimmers mit ihm abzutun, damit wenigstens das Ohr[78] der übrigen nicht beleidigt würde. Constanze hatte bereits den Tisch verlassen.

»Sie sind Zeuge!« rief der jähzornige Mann dem Grafen zu, »Sie gestehen, daß Signor meinen Scherz absichtlich böse mißverstand, um mich beleidigen zu können! Aber es soll ihm nicht hingehen, so wahr ich lebe, Signor wird mir Genugtuung verschaffen!«

»Sehr gern!« erwiderte Theobald, »doch dünkt mich, wer dies am ersten fordern könnte, das wäre ich; indessen hätte ich für meine Person darauf verzichtet, weil Sie durch Ihre Reden meine Ehre nicht zu kränken vermochten, weder in meinen noch in den Augen der Anwesenden. Sollten Sie aber die Rettung der Ihrigen noch auf irgendeine Art versuchen wollen, so will ich alles dazu beitragen, wiewohl ich mir fast lächerlich dabei vorkomme.«

»Lächerlich, Signor?« triumphierte der Italiener, das Wort falsch deutend, mit entsetzlichem Lachen, »lächerlich? ja, ja, nun ja, da haben Sie recht! ich kann beinahe zufrieden sein mit diesem Geständnis, hi, hi, hi!«

Nolten wollte sich dem Unverschämten mit derber Wahrheit erklären, aber ein Wink des Grafen bat ihn um Zurückhaltung, und er folgte um so williger, je mehr er dabei an Constanzen und ihre entschiedene Abneigung gegen dergleichen Ehrenerörterungen dachte. Doch der Italiener wollte sich seines Siegs noch weiter freuen, er wandte sich gegen seinen Mann mit den Worten: »Gratulieren Sie sich, daß Sie so wegkommen, mein Herr Maler! Künftig etwas bescheidener, will ich geraten haben! Sie dürften sonst eine deutsche Klinge mit einer welschen messen, oder daß ich es recht sage, ich möchte mir leicht einmal den Spaß machen, und mein scarpello aufheben gegen einen deutschen – Pinsel; verstanden?«

»Wohl, mein Herr«, versetzte Nolten ruhig, »ich bin der Meinung, Sie machten die Probe je eher je lieber; ich werde mich diesfalls heute noch in bester Form eines nähern bei Ihnen vernehmen lassen. Was inzwischen den deutschen Pinsel betrifft, so mögen Sie immerhin den Maler in mir verachten, und zwar noch ehe Sie ihn kennengelernt haben, ich bin gegen den Bildhauer gerecht, dessen Werke ich vorhin gesehen habe; sie sind vortrefflich, und sind es so sehr, daß es der frechsten Lüge gleichsieht, wenn Sie, mein Herr, sich den Schöpfer derselben nennen.«[79]

Dieser letzte Ausfall machte den Fremden offenbar ein wenig betroffen, obgleich er getan, als hörte er nichts; aber er wurde noch verlegener, da Nolten ihm tiefer ins Gesicht schaute, den Kopf schüttelte und mit einem zweifelnden Lächeln dem Grafen zuwinkte; – noch einen prüfenden Blick auf die seltsame Physiognomie des Italieners, noch einen, und wieder einen und – »Gemach, mein Freund!« rief Theobald, den Burschen am Schnurrbart packend, da er eben aus der Tür schlüpfen wollte, »ich glaube, wir kennen uns!« – Wunder! der falsche Schnurrbart blieb Nolten in den Fingern, der arme Teufel selber fiel zitternd auf seine Kniee, es war kein anderer Mensch als – Barbier Wispel, der entlaufene Bediente Noltens.

Der Graf traute seinen Augen kaum bei dieser Szene, und unser Freund, ungewiß, sollte er lachen oder zürnen, rief: »Du unterstehst dich, Elender, nachdem du mich einmal schändlich bestohlen, aufs neue deinen Betrug, deine Narrheit an mir und in dieser Gegend auszuüben, wo dich das Zuchthaus erwartet? Wie kommst du nur zu diesen Kleidern, wie kommst du überhaupt dazu, diese apokryphische Rolle zu spielen?«

In der Tat konnte Nolten trotz aller angenommenen und wirklichen Indignation ein herzliches Lachen kaum zurückdrängen. Es nahm ihn nun gar nicht mehr wunder, wie er sich eine Zeitlang wirklich in der Person dieses Menschen täuschen konnte; denn es war bei weitem nicht der magere, splitterdünne Wispel mehr, es mußte ihm auf seinen neuen Reisen ganz besonders wohl ergangen sein, auch von seinen früheren Manieren hatte sich vieles verwischt, oder legte er sie auf einige Stunden ab, und dann die künstlich braun gefärbte Haut, veränderte Stimme, verstellte Frisur, Bart und sonstige Ausstattung, alles half zu diesem närrischen Quiproquo. Aus seinen Bekenntnissen ergab sich nach und nach, daß er in die Dienste des fremden Künstlers ungefähr auf dieselbe Weise gekommen war, wie einst in Theobalds; es ging dies um so leichter an, da ihm von seinen früheren Landstreichereien noch einige Kenntnis der Sprache seines Herrn geblieben war, und er diesem als Dolmetscher auf seiner Reise nach Deutschland, an dessen Grenze sie sich kennengelernt, gar oft nützlich sein konnte. Die guten Kleider, die er am Leibe trug, waren teils Geschenk seines Herrn, teils hatte er sich zur Ausführung des gegenwärtigen Prunkstückchens die Garderobe des Künstlers heimlich zunutze gemacht. Der Italiener, erst vorgestern angelangt, hielt sich in[80] der Stadt auf, und sollte erst diesen Abend zu Anordnung der Bildwerke herauskommen, weil aber durch ein Mißverständnis die Handlanger schon in der Frühe vergeblich hiehergesprengt worden, so empfand Wispel einen unüberwindlichen Reiz, vor diesen Leuten und den etwa sich einfindenden Fremden jenen berühmten Mann vorzustellen, dessen bizarres Wesen er zwar mit Übertreibung, doch nicht ganz unglücklich, nachzuahmen wußte. Es sei ihm selber, gestand er nun, sehr leid gewesen, als ihm Nolten, sein ehemaliger Gebieter, so unerwartet in den Wurf gekommen, und noch jetzt wisse er nicht recht, was ihn verführt habe, augenblicklich eine offensive Stellung gegen ihn anzunehmen.

»Aber Mensch, wie konntest du so unbegreiflich grob, so frech gegen mich sein? Weißt du, was du noch im Rest bei mir sitzen hast?«

»Ach, mein charmantester, mein göttlicher Herr, wie sollt ich's nicht wissen? aber das steht ja in guter Hand – es mag etwa eine halbe Carolin sein, was Sie mir an meinem Lohn noch schulden – Bagatell – wenn Sie gelegentlich, aber wohlverstanden, nur ganz gelegentlich, das Pöstchen –«

Hier bekam Wispel unversehens einen Backenstreich von Theobalds Hand, daß ihm die Haut feuerte. »Schandbube! eine Anweisung ins Spinnhaus bin ich dir schuldig! Aber gib Rechenschaft über das, was ich eben frage: wie warst du fähig, gegen deinen ehemaligen Wohltäter dich so zu vergessen?«

»Ach«, antwortete er, ganz wieder mit seiner gewohnten Affektation, mit jenem Hüsteln und Blinzeln, »dem Himmel ist es bewußt, wie das zuging, ich wollte mich durch solch ein Betragen gleichsam unkenntlich machen, mich gegen meine eigene Rührung verschanzen, daher meine Wut, meine Malice, auch leugn' ich nicht, es war vielleicht ein – ein – vielleicht ein Kitzel, das heiße Blut des Südens an mir selbst zu bewundern, und so – und dann – aber gewiß werden Sie mir zugeben, Monsieur, ich habe den höhern Ton der Schikane und den eigentlichen vornehmen Takt, womit das point d'honneur behandelt werden muß, mir so ziemlich angeeignet. Wie? ich bitte, sagen Sie, was denken Sie?«

Mit diesem letzten Zusatz war es seiner Eitelkeit so völlig Ernst, er war so gespannt auf ein schmeichelhaftes Urteil Noltens, daß dieser und der Graf nur staunten über die unsinnigste Art von Ehrgeiz, womit dieses Subjekt wie mit einer Krankheit[81] gestraft war Erinnerte man sich vollends der einzelnen Momente, in denen der Mensch seit heute früh sich stufenweise, zuerst bei der Ankunft Theobalds, dann beim Grafen, endlich als Weltmann bei der Gräfin geltend gemacht, so hätte man sich beinahe schämen müssen, wäre die Sache weniger lustig und neu gewesen. Sogar Constanze, welche vom Bruder herbeigerufen ward, konnte, nachdem sie den unglaublichen Betrug eingesehen, sich des Lächelns nicht enthalten, obgleich sie den Entlarvten, dessen Beschämung sie sich schmerzlicher als billig vorstellte, mit einem fast peinlichen Gefühl, wie einen armen Verrückten, betrachtete. Die Fragen, welche sie etwa an ihn tat, bildeten durch ihre wahrhaft naive Delikatesse einen fast komisch rührenden Kontrast zwischen der edlen Frau und der verächtlichen Kreatur. Theobald fand sich hiedurch auch wirklich zu einem gewissen Grad von Mitleid mit dem ärmlichen Sünder bewogen, und als Wispel auf das beredteste ihn um Wiederaufnahme in sein Haus ersuchte, konnte er sich zwar hiezu nicht verstehen, aber er versprach, ihm außer einer Warnung, die man dem Italiener schuldig sei, keineswegs schaden zu wollen. Hierauf verabschiedete sich Wispel mit gehörigem Anstand, er wollte Constanzen die Hand küssen, was jedoch höflich verbeten wurde.

Die Gesellschaft verhehlte sich den im ganzen versöhnenden Eindruck nicht, welchen der letzte Auftritt bei ihr zurückgelassen hatte. Bei der Gräfin selbst war der Rückblick auf den heutigen Morgen leichter, weil seine Wirkung wenigstens äußerlich durch so manches andere in etwas war verdrängt worden; nur sobald Nolten ihr näher kommen wollte, wich sie schüchtern und unbehaglich aus. Im allgemeinen, dies durfte er sich mit Recht sagen, ließ ihr Benehmen sich gar nicht zu seinen Ungunsten auslegen, ja er konnte den tief gegründeten Keim wirklicher Liebe nicht mehr an ihr verkennen, er hoffte eine zwar langsame, aber unaufhaltsame Entwicklung. Nur jede Voreiligkeit, alles dringend Heftige, so sehr dies in seinem Temperamente lag, beschloß er zu vermeiden, und wir selber sind der Meinung, daß er dabei seinen Vorteil und die Sinnesart der Frauen von Constanzens Werte fein genug zu schätzen gewußt.

Man hätte gerne noch den echten Italiener gesehen, allein der Abend nahte stark heran, es war unwahrscheinlich, daß der Künstler noch käme, überdies verlangte Constanze nach Haus, und so schickte man sich denn zum Aufbruch an.[82]

Nolten, der den Schlitten des Grafen eine Weile rasch verfolgte, blieb mit seinem Pferde doch bald zurück. Er hatte Zeit seinen Gedanken über den heutigen Tag, seinen Besorgnissen und Hoffnungen stille nachzuhängen, indes der Mond mit immer hellerem Lichte die dämmernde Schneelandschaft überschien. Was hatte sich doch verändert in den wenigen Stunden seit er diese Wege hergeritten! um wieviel näher war er gegen alles Denken und Vermuten seinem ersehntesten Ziele gekommen, ja, das er wirklich schon erreicht, das er schon mit kühnen Armen umschlungen und auf alle Zukunft für sich geweiht hatte! Je verwunderter er diese rasche Wendung bei sich überlegte, desto stärker drang sich ihm der alte Glaube auf, daß es Augenblicke gebe, wo ein innerer Gott den Menschen unwiderstehlich besinnungslos vorwärts stoße, einer großen Entscheidung entgegen, so daß er, daß sein Schicksal und sein Glück sich selber gleichsam übertreffen müssen. Er schauderte im Innersten, er drang mit weit offenem Aug in das tiefe Blau des nächtlichen Himmels und forderte die Gestirne heraus, seine Seligkeit mitzuempfinden. Was doch jetzt in Constanzen vorgehen mag! – er hätte die Welt verschenken mögen, um dieses Einzige zu wissen, und doch pries er wieder seine Ungewißheit, weil sie ihm vergönnte, alles zu glauben, was er wünschte. Sollte jetzt nicht auch in ihrem Busen der wonnevollste Tumult von Freude, Furcht und Hoffnung laut sein? und ist nicht der Grund ihrer Seele, wie die Tiefe eines stillen Meeres, jetzt von jener unendlichen Ruhe beherrscht, welche im Bewußtsein hoher Liebe liegt? – So dachte er, so durchlief er noch manches, was ihn mächtig emporhob, kräftig gab er seinem Pferde die Sporen, als gälte es, noch heute allen seinen Wünschen die Krone aufzusetzen.


In derselben Woche kamen Briefe aus Neuburg an Theobald, wie gewöhnlich unter der Aufschrift an Larkens. Voll Begierde nach dem Inhalte, welcher ihm, wie er zuverlässig hoffte, jeden Zweifel über Agnes benehmen sollte, riß er das Kuvert auf. Jedesmal ergriff ihn die eigenste Rührung, wenn er solche treuherzige Linien ansah, die nach des Mädchens Meinung der Geliebte lesen sollte, und die unser Schauspieler doch wiederum nur sich selber zueignen konnte, da es nur Antworten auf dasjenige waren, was er zwar ganz im früheren Sinne Noltens geschrieben, aber doch gleichsam durch alle Fasern des eigenen[83] innigsten Gefühls übertragend, empfunden hatte. In der Tat, er kam sich dann immer wie ein gedoppeltes Wesen vor, und nicht selten kostete es ihn Mühe, sein Ich von der Teilnahme an diesem zärtlichen Verhältnis auszuschließen.

Was Agnesens gegenwärtigen Brief betrifft, so klangen ihm die Worte anfangs einigermaßen rätselhaft, bis ihm ein größeres Schreiben vom Vater in die Hände fiel, das er auch zugleich von Blatt zu Blatt mit immer steigendem Erstaunen hastig durchlas. Der Alte beruft sich auf seinen frühern Brief an Theobald, worin die sonderbare Verirrung des Mädchens, soweit es damals möglich gewesen, bereits entwickelt worden sei; er wolle aber, da einige erst neuerdings entdeckte Umstände die Ansicht des Ganzen bedeutend verändert hätten, alles von vornherein erzählen, und so setzt er denn dasjenige weitläufig auseinander, was wir dem Leser schon mitgeteilt haben. Mehrere auffallende Vorgänge hatten dem Förster zuletzt über das Dasein eines stillen Wahnsinns keinen Zweifel mehr übriggelassen. Es ward ein Arzt zu Rat gezogen, und mit Hülfe dieses einsichtsvollen Mannes gelang es gar bald, den eigentlichen Grund des Unheils aus dem Mädchen hervorzulocken. Hiebei mußte es für den aufmerksamen Beobachter solcher abnormen Zustände von dem größten Interesse sein, zu bemerken, daß schon das Aussprechen des Geheimnisses an und für sich entscheidend für die Heilung war. Denn von dem Augenblicke, da der Auftritt mit der Zigeunerin über Agnesens Lippen kam, schien der Dämon, der die Seele des armen Geschöpfes umstrickt hielt, seine Beute fahrenzulassen, und ein herzzerschneidender Strom der heftigsten Tränen schien die Rückkehr der Vernunft anzukündigen. Die Entdeckung jener geheimen Ursache fand aber um so weniger Schwierigkeit, da das Mädchen selbst seit der zweiten Unterredung mit der Zigeunerin ein gewisses Mißtrauen gegen dieselbe nährte, worin sie sich nun eben nicht ungerne bestärken ließ. Wirklich rührend war es anzusehen, mit welcher Begierde sie jedes Wort einschluckte, das man zum Beweis eines offenbaren Betrugs vorbringen mochte. Auf ihrem zwischen Angst und dankbarer Freude wechselnden Gesichte malten sich die letzten Zuckungen des abergläubischen Gewissens, dem die vernünftige Beredsamkeit des Vaters nun den Todesstoß gab. Dennoch fühlte sie noch immer eine Art von Zwiespalt im Innern, sie fand sich schwer zurecht, und wie der Blindgewesene sich nur langsam wieder an das Licht gewöhnt,[84] das alle Welt erfreut, so dauerte es einige Zeit, bis Agnes ihr Glück zu fassen vermochte, bis sie es wagte, sich den andern Menschen wieder gleichzustellen. Oft kam es ihr noch vor, als ob irgendein finsterer Zeuge ihres Schicksals hinter ihrem Rücken lauschte und auf Rache denke, weil sie seinen Banden entsprungen. Aber der Verbrecher, der durch eine feierliche Absolution aus dem Munde des Heiligen Vaters mit einemmal sich einer ganzen Hölle entbunden fühlt, kann nicht leichter atmen als Agnes, nachdem endlich das düstere Phantom für immer verabschiedet war. Wie ganz anders konnte sie nun an Nolten denken! Wie herzhaft prüfte ihre Liebe wieder die alte Freiheit ihrer Flügel! Wie ungewohnt erschien ihr alles, was in bezug auf ihn gesagt oder getan ward! Sprach jemand seinen Namen aus, so konnte sie den Namen mit seligem Befremden vor sich wiederholen und mit Entzücken rief sie ihn dann laut aus, so daß man sie kaum begreifen wollte. Kam ihr zufällig seine Handschrift vors Auge, so deuchten ihr die Züge wie sprechend, sie betrachtete sie mit einem völlig neuen Sinn – kurz, es schien, als sei er ihr erst heute geschenkt, als heiße sie jetzt zum ersten Male Noltens Braut.

Dieselbe unschuldige Trunkenheit atmete aus ihrem Briefe, den Larkens jetzt in der Hand hielt. Sie vermied soviel möglich jede Berührung jener störenden Ereignisse, und ihre Worte verrieten nicht die geringste Unruhe darüber, wie Theobald die Geschichte ihrer Krankheit aufnehmen werde, welche der Vater mit ihrem Vorwissen, jedoch ohne der Tochter sie lesen zu lassen, ihm aufrichtig mitteilte.

Mit Staunen und Rührung legte Larkens die Blätter auf den Tisch, nachdem er sie zwei – und dreimal mit der größten Sorgfalt durchgelesen hatte. Er hatte Mühe, sich die Fäden dieser unerhörten Verwirrung klarzumachen, sich zu sammeln und ein ruhiges Bild vom Ganzen zu gewinnen, um hierauf seine Entschließung zu fassen. An der getreuen Darstellung der Begebenheiten zweifelte er keinen Augenblick, alles trug zu sehr das Gepräge der inneren Wahrheit. Aber was ihn bei der Sache besonders nachdenklich machte, das war die Einmischung der Zigeunerin. Denn auf der Stelle war es wie ein Blitz in ihn geschlagen, daß er die Person kenne, daß ihm ihr sonderbarer Bezug zu Nolten nicht unbekannt sei. Nach dem sehr bestimmten Bilde, das er von ihrem Charakter hatte, befremdete ihn einigermaßen ihr falsches Spiel gegen Agnes, dennoch hatte er[85] guten Grund, sie deshalb keineswegs mit den gemeinen Betrügerinnen ihrer Nation zu verwechseln, ja ihn ergriff das tiefste Mitleid, wenn er bedachte, daß eben dieses unbegreifliche Wesen, das an Agnesens Verrückung Schuld war, selbst ein trauriges Opfer des Wahnsinns sei. So verhielt es sich wirklich und in diesen Zustand mischte sich eine Leidenschaft für Theobald, von deren wunderbarer Entstehung wir dem Leser in der Folge Rechenschaft geben werden. Die Unglückliche glaubte sich in Agnes von einer Nebenbuhlerin befreien zu müssen, und leider kam der Zufall, wie wir gesehen haben, ihrer Absicht gar sehr zu Hülfe. Ihre List mochte übrigens leicht von der Art sein, wie sie sich bei Verrückten häufig mit der höchsten Gutmütigkeit gepaart findet, und Larkens entschuldigte sie um so mehr, da er Elisabeth (so hieß das Mädchen) immer von einer äußerst arglosen, ja kindlichen Seite kennengelernt hatte. Wieviel eigentliche Lüge und wieviel Selbstbetrug an jener verhängnisvollen Prophezeiung Anteil gehabt, wäre daher nicht wohl zu entscheiden, nur wird es jetzt um so begreiflicher, daß die Erscheinung und der ganze Ausdruck der Prophetin eine so gewaltsame und hinreißende Wirkung auf das kränklich reizbare Gemüt Agnesens machen konnte.

Einige Augenblicke war der Schauspieler entschlossen, sogleich mit dem ganzen Paket zu seinem Freunde zu eilen. Aber die Sache näher betrachtet verbot solches die Klugheit. Nolten wäre im gegenwärtigen Zeitpunkt zu einer unbefangenen Ansicht der Dinge nicht fähig gewesen und es war zu befürchten, daß ihm die Oberzeugung von der Tadellosigkeit des Mädchens jetzt eben nicht willkommen wäre, daß er, von zweien Seiten aufs äußerste gedrängt, an einen Abgrund widersprechender Leidenschaften gezerrt, nichts übrig hätte, als an allem zu verzweifeln. Larkens sah dies deutlich ein, und stand wirklich eine Zeitlang ratlos, was zu tun sei. »Ich muß auf einen Kapitalstreich sinnen«, rief er aus, »das Zögern wird mir gefährlich, es ist Zeit, daß man dem Teufel ein Bein breche!«

Vor allem wollte er suchen, es gelte was es wolle, einen Bruch mit der Gräfin vorzubereiten. Aus einzelnen Spuren hatte er neuerdings von der Neigung Noltens doch ernstlichere Begriffe bekommen, und er fing an, mehr und mehr an der Offenheit seines Freundes in diesem Punkte zu zweifeln, wie denn auch wirklich der Vorfall im Parke bisher ganz und gar ein Geheimnis für Larkens geblieben war. Für jetzt dachte dieser[86] nur auf schleunige Beruhigung des Mädchens durch einen abermaligen Brief, den er auch sogleich, und mit ungewöhnlicher Wärme und Heiterkeit des Ausdrucks, niederschrieb.


Es gingen, bis Nolten wieder eine Einladung zu Zarlins erhielt, zwei volle Wochen auf, und wenn diese lange Zwischenzeit unserem Freunde desto unausstehlicher vorkam, je bedeutender seine gegenwärtige Stellung zu Constanzen war, so stand er nun doch betroffen und unentschieden, ob Furcht oder Freude mächtiger in ihm sei. Aber als er sich nun an dem bestimmten Abende mit Larkens wieder in jenen geliebten Wänden, in jener edlen Umgebung fühlte, als die Gräfin nun die Versammlung bewillkommte und auch ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte, wie man sie sonst kaum an ihr wahrnahm, da schien sich um ihn und über sein ganzes Dasein ein Lichtglanz herzugießen, in welchem sich alle Vergangenheit und Zukunft seines Lebens wie durch Magie verklärte: und doch war es nur die Sorglosigkeit ihrer Miene, es war die edle Freiheit ihres Benehmens, was ihn so tief erquickte, und was ihm, auch abgesehen von jeder andern Vorbedeutung, die uneigennützigste Rührung hätte abgewinnen müssen, indem es ihm die Wiederherstellung des schönen Friedens ihrer Seele verbürgte, welchen gestört zu haben er sich zum Verbrechen rechnete.

Von ähnlicher Munterkeit wurde denn auch die übrige Gesellschaft belebt, und die letzte beengende Rücksicht bei Nolten fiel vollends weg mit der Nachricht, Herzog Adolph werde heute nicht gegenwärtig sein.

Herren und Damen saßen bereits in bunter Ordnung, als die Gräfin sich mit den Worten an Larkens wandte: »Sie sagten ja von etwas ganz Besonderem, das Sie uns diesmal zum besten geben wollten, machen Sie doch die Gesellschaft mit Ihrem Vorhaben bekannt, ich zweifle nicht, wir dürfen uns etwas recht Hübsches, zum mindesten etwas Ungewöhnliches versprechen.«

»Es liegt«, antwortete Larkens mit guter Laune, »in diesem Komplimente etwas so verzweifelt Bedingtes, daß ich nun erst schüchtern werde, mit meinem Schatz hervorzutreten. Wirklich, es ist immer gewagt, wenn ein einzelner oder wenn zwei Mitglieder eines gebildeten Kreises die Unterhaltung ausschließlich über sich nehmen wollen, und obendrein ist mein Gegenstand von der Beschaffenheit, daß ihm ein allgemeines Interesse sehr schwerlich zukommen möchte, wenigstens insoweit ich dabei[87] betätigt bin. Aber was mich tröstet, ist einzig die Unterstützung durch meinen Freund Nolten, der Ihnen bei dieser Gelegenheit ein ganz neues Genre seiner Kunst vorführen wird.«

»Ich meines Teils«, erwiderte der Maler, »muß die Gesellschaft untertänigst bitten, auf diese Bedingung hin von ihren Forderungen an Larkens nicht nagelsgroß nachzulassen, da mein Beitrag als bloße Verzierung und Erläuterung der Hauptsache an und für sich nicht in Betracht kommen kann.« –

»Kurz, meine Gnädigsten«, fiel der Schauspieler ihm ins Wort »was wir Ihnen diesmal zeigen, ist nichts anderes, als ein Schattenspiel.«

»Ein Schattenspiel!« riefen die Damen in die Hände klatschend, »ach, das ist ja ganz unvergleichlich! wirklich ein ordentliches, chinesisches werden wir sehen?«

»Allerdings«, sagte der Graf, »und zwar ein ganz neu eingerichtetes, wozu Herr Nolten die Bilder auf Glas gemalt, und dieser Herr, der als Dichter noch allzuwenig von sich hören ließ, den Text geliefert hat. Soviel ich weiß, besteht der letztere durchaus in einer dramatisierten Fabel, rein von der Erfindung des Herrn Larkens.«

»Diese Fabel«, bemerkte der Schauspieler, »und der Ort, wo sie vorgeht, ist freilich närrisch genug, und es bedarf einer kleinen Vorerinnerung, wenn man den Poeten nicht über alle Häuser wegwerfen soll.

Ich hatte in der Zeit, da ich noch auf der Schule studierte einen Freund, dessen Denkart und ästhetisches Bestreben mit dem meinigen Hand in Hand ging; wir trieben in den Freistunden unser Wesen miteinander, wir bildeten uns bald eine eigene Sphäre von Poesie, und noch jetzt kann ich nur mit Rührung daran zurückdenken. Was man auch zu dem Nachfolgenden sagen mag, ich bekenne gern, damals die schönste Zeit meines Lebens genossen zu haben. Lebendig, ernst und wahrhaft stehen sie noch alle vor meinem Geiste, die Gestalten unserer Einbildung, und wem ich nur einen Strahl der dichterischen Sonne, die uns damals erwärmte, so recht gülden, wie sie war, in die Seele spielen könnte, der würde mir wenigstens ein heiteres Wohlgefallen nicht versagen, er würde selbst dem reiferen Manne es verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang in die duftige Landschaft jener Poesie machte und sogar ein Stückchen alten Gesteins von der geliebten Ruine mitbrachte Doch zur Sache. Wir erfanden für unsere Dichtung[88] einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeschlossene Insel, worauf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verschiedene Stämme, Grenzen und Charakterabstufungen geteilt, aber mit so ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt haben soll. Die Insel hieß Orplid, und ihre Lage dachte man sich in dem Stillen Ozean zwischen Neuseeland und Südamerika. Orplid hieß vorzugsweise die Stadt des bedeutendsten Königreichs: sie soll von göttlicher Gründung gewesen sein und die Göttin Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands den Namen hatte, war ihre besondere Beschützerin. Stückweise und nach den wichtigsten Zeiträumen erzählten wir uns die Geschichte dieser Völker. An merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht. Unsere Götterlehre streifte hie und da an die griechische, behielt aber im ganzen ihr Eigentümliches; auch die untergeordnete Welt von Elfen, Feen und Kobolden war nicht ausgeschlossen.

Orplid, einst der Augapfel der Himmlischen, mußte endlich ihrem Zorne erliegen, als die alte Einfalt nach und nach einer verderblichen Verfeinerung der Denkweise und der Sitten zu weichen begann. Ein schreckliches Verhängnis raffte die lebende Menschheit dahin, selbst ihre Wohnungen sanken, nur das Lieblingskind Weylas, nämlich Burg und Stadt Orplid, durfte, obgleich ausgestorben und öde, als ein traurig schönes Denkmal vergangener Hoheit stehen bleiben. Die Götter wandten sich auf ewig ab von diesem Schauplatz, kaum daß jene erhabene Herrscherin zuweilen ihm noch einen Blick vergönnte, und auch diesen nur um eines einzigen Sterblichen willen, der, einem höheren Willen zufolge, die allgemeine Zerstörung weit überleben sollte.

Neuerer Zeiten, immerhin nach einem Zwischenraum von beinahe tausend Jahren, geschah es, daß eine Anzahl europäischer Leute, meist aus der niedern Volksklasse, durch Zufall die Insel entdeckte und sich darauf ansiedelte. Wir Freunde durchstöberten mit ihnen die herrlichen Reste des Altertums, ein gelehrter Archäologe, ein Engländer, mit Namen Harry, war zum Glück auf dem Schiffe mitgekommen, seine kleine Bibliothek und sonst Materialien verschiedenen Gebrauchs waren gerettet worden; Nahrung aller Art zollte die Natur im Überfluß, die neue Kolonie gestaltete sich mit jedem Tage besser und bereits blüht eine zweite Generation in dem Zeitpunkte, wo unser heutiges Schauspiel sich eröffnet.[89]

Was nun diese dramatische, oder vielmehr sehr undramatische Kleinigkeit betrifft, so sind meine Wünsche erfüllt, wenn die verehrten Zuschauer sich mit einiger Teilnahme in die geistige Temperatur meiner Insel sollten finden können, wenn sie für die willkürliche Ökonomie meines Stückes einen freundschaftlichen Maßstab mitbringen und sich mehr nur an den Charakter, an das Pathologische der Sache halten. Das ganze Ding machte sich, ich weiß nicht wie, vor kurzem erst, nachdem mir seit langer Zeit wieder einmal eines Abends die alten Erinnerungen in den Ohren summten. Eine längst gehegte tragische Lieblingsvorstellung drang sich vorzüglich in dem Charakter des letzten Königs von Orplid auf; dagegen gab es Veranlassung, zwei moderne, aus dem Leben gegriffene Nebenfiguren lustig einzuflechten, wovon die eine in der Laufbahn meines Freundes Nolten dergestalt Epoche gemacht, daß diese Person – und sie soll ja neuerdings wieder in unserer Stadt spuken – sogar einigen der Anwesenden als eine nicht ganz unbekannte Fratze wiederbegegnen wird.«

Hier steckten sich einige begierige Köpfe zusammen, und als es hieß, daß jener diebische Bediente Noltens im Schattenspiel seine Aufwartung machen werde, verlautete allgemein ein herzliches Vergnügen; man machte sich überhaupt auf eine ergötzliche Unterhaltung gefaßt, nur Tillsen fühlte sich im stillen durch jene komische Berührung verletzt, wiewohl niemand an etwas Beleidigendes dachte.

»In einem andern Subjekt«, fuhr der Schauspieler fort, »in dem Kameraden des vorigen zeig ich Ihnen meinen eigenen ehmaligen Sancho; es machte mir Freude, diese beiden Tröpfe einmal treulich zu kopieren, Nolten verfehlte keinen Zug, und die Gesellschaft muß uns schon vergeben, wenn wir sie auf einen Augenblick in das Dachstübchen dieser Schmutzbärte zu schauen zwingen.«

Indessen hatte Larkens den erforderlichen Apparat aus seinem Hause holen lassen; der Diener brachte ein braunes Kästchen, worin das Zaubergeräte verschlossen war; zugleich zog der Schauspieler ein Manuskript hervor, blätterte und sagte: »In Absicht auf die Art und Weise, wie die Tableaux den Text begleiten, versteht sich von selbst, daß der Schauplatz zuweilen, wiewohl nur selten, leer bleiben wird, daß für den Maler nicht jede Szene gleich brauchbar sein konnte, daß er von einer Szene meist nur einen Moment, eine hervorstechende Gruppe darstellen[90] konnte, daß jedoch so viel Varietät als nur immer möglich in die Bilder gebracht wurde. Nun hab ich nur noch eine Bitte, den Vortrag des Dialogs betreffend. Ich werde zwar sämtliche männliche Personen aus meinem Munde mit abwechselnder Stimme unter sich sprechen lassen, für die weiblichen aber und für die Kinderkehlen sollte mir doch eins und das andre der Fräulein zur Seite stehen und mit mir aus der Rolle lesen. Welche von den Damen würde wohl die Gefälligkeit haben? Sie, Fräulein von R. und von G. erfreuten uns schon auf dem Liebhabertheater, an Sie richt ich meine Bitte im Namen aller.«

Die Schönen mußten sich's gefallen lassen, sie traten mit dem dargereichten Hefte beiseit, es vorläufig zu durchsehen, während Larkens sich von der Gräfin einen geheizten Saal mit weißen Wänden ausbat und seine Einrichtung traf.

Nach kurzer Zeit ertönte sein Glöckchen, das die Gesellschaft hinüber lud in den verdunkelten Saal. Hinter einer spanischen Wand, die nach einer Seite offen war, befanden sich Larkens und seine Gehülfinnen neben der magischen Laterne, welche inzwischen nur einen runden hellen Schein an die Zimmerdecke warf. Man nahm im Halbkreise Platz, und Nolten hatte sich so gesetzt, daß er Constanzen ins Auge fassen konnte.

Nachdem alles stille geworden, begann hinter der Gardine eine einleitende Symphonie auf dem Klavier von einem Mitgliede der Gesellschaft gespielt und von Larkens mit dem Violoncello begleitet. Unter den letzten Akkorden erschien an der breitesten, völlig freien Wandseite des Saales in bedeutender Größe die Ansicht einer fremdartigen Stadt und Burg, im Mondschein, vom See bespült, links im Vorgrund drei sitzende Personen und der Dialog nahm seinen Anfang.

Wir bedenken uns nicht, den Leser an dem Spiele teilnehmen zu lassen, da es nachher in den Gang unserer Geschichte einschlägt und die wichtigsten Folgen hat. Zugleich mag es einen lebhaften Begriff von dem inneren Leben jenes Schauspielers geben, welcher bereits unsere Aufmerksamkeit erregte und noch mehr künftig unsere Teilnahme gewinnen wird.[91]

Der letzte König von Orplid

Ein phantasmagorisches Zwischenspiel


Erste Szene

Anblick der Stadt Orplid mit dem Schlosse; vorn noch ein Teil vom See. Es wird eben Nacht. Drei Einwohner sitzen vor einem Haus der unteren Stadt auf einer Bank im Gespräch. Suntrard, der Fischer, mit seinem Knaben, und Löwener, der Schmied.


SUNTRARD. Lasset uns hieher sitzen, so werden wir nach einer kleinen Weile den Mond dort zwischen den zwei Dächern heraufkommen sehen.

KNABE. Vater, haben denn vor alters in all den vielen Häusern dort hinauf auch Menschen gewohnt?

SUNTRARD. Jawohl. Als unsere Väter, vom Meersturm verschlagen, vor sechzig Jahren zufälligerweise an dem Ufer dieser Insel, was das Einhorn heißt, anlangten, und tiefer landeinwärts dringend sich rings umschauten, da trafen sie nur eine leere steinerne Stadt an; das Volk und das Menschengeschlecht, welches diese Wohnungen und Keller für sich gebauet, ist wohl schon bald tausend Jahr ausgestorben, durch ein besonderes Gerichte der Götter, meint man, denn weder Hungersnot noch allzu schwere Krankheit entsteht auf dieser Insel.

LÖWENER. Tausend Jahr, sagst du, Suntrard? Gedenk ich so an diese alten Einwohner, so wird mir's, mein Seel, nicht anders, als wie wenn man das Klingen kriegt im linken Ohr.

SUNTRARD. Mein Vater erzählt, wie er, ein Knabe damals noch, mit wenigen Leuten, fünfundsiebzig an der Zahl, auf einem zerbrochenen Schiffe angelangt, und wie er sich mit den Genossen verwunderte über eine solche Schönheit von Gebirgen, Tälern, Flüssen und Wachstum, wie sie darauf fünf, sechs Tage herumgezogen, bis von ferne sich auf einem blanken, spiegelklaren See etwas Dunkeles gezeigt, welches etwan ausgesehen, wie ein steinernes Wundergewächs, oder auch wie die Krone der grauen Zackenblume. Als sie aber mit zweien Kähnen darauf zugefahren, war es eine felsige Stadt von fremder und großer Bauart.

KNABE. Eine Stadt, Vater?[92]

SUNTRARD. Wie fragst du, Kind? Ebendiese, in der du wohnest. – Des erschraken sie nicht wenig, vermeinend, man käme übel an; lagen auch die ganze Nacht, wo es in einem fort regnete, vor den Mauern ruhig, denn sie getrauten sich nicht. Nun es aber gegen Morgen dämmerte, kam sie beinahe noch ein ärger Grauen an; es kräheten keine Hähne, kein Wagen ließ sich hören, kein Bäcker schlug den Laden auf, es stieg kein Rauch aus dem Schornstein. Es brauchte dazumal jemand das Gleichnis, der Himmel habe über der Stadt gelegen, wie eine graue Augbraun über einem erstarrten und toten Auge. Endlich traten sie alle durch die Wölbung der offenen Tore; man vernahm keinen Sterbenslaut als den des eigenen Fußtritts und den Regen, der von den Dächern niederstrollte, obgleich nunmehr die Sonne schon hell und goldig in den Straßen lag. Nichts regte sich auch im Innern der Häuser.

KNABE. Nicht einmal Mäuse?

SUNTRARD. Nun, Mäuse wohl vielleicht, mein Kind. Er küßt den Knaben.

LÖWENER. Ja, aber Nachbar, ich bin zwar, wie du, geboren hier und groß geworden, allein es wird einem doch alleweil noch sonderlich zumut, wenn man so des Nachts noch durch eine von den leeren Gassen geht und es tut, als klopfte man an hohle Fässer an.

KNABE. Aber warum doch wohnen wir neuen Leute fast alle wie ein Häuflein so am Ende der Stadt und nicht oben in den weitläuftigen schönen Gebäuden?

SUNTRARD. Weiß selber nicht so recht; ist so herkommen von unsern Eltern. Auch wäre dort nicht so vertraut zusammennisten.

LÖWENER. Wo wir wohnen, das heißt die untere Stadt, hier waren vor alters wahrscheinlich die Buden der Krämer und Handwerker. Die ganze Stadt aber beträgt wohl sechs Stunden im Ring.

SUNTRARD. Wenn der Mond vollends oben ist, laßt uns noch eine Strecke aufwärts gehen, bis wo die Sonnenkeile1 ist. Nachbar, als ein kleiner Junge, wenn wir Buben noch abends spät durch die unheimlichen Plätze streiften bis zur Sonnenkeile,[93] so trieb und plagte mich's immer, den Stein mit dem Finger zu berühren, weil ein Glauben in mir war, daß er den warmen Strahl der Sonne angeschluckt, wie ein Schwamm, und Funken fahren lasse, welches im Mondschein so wunderlich aussehen müsse.

LÖWENER. Hört, was weiß man denn auch neuerdings von dem Königsgespenst, das an der Nordküste umgeht?

SUNTRARD. Kein Gespenst! wie ich dir schon oft versicherte. Es ist der tausendjährige König, welcher dieser Insel einst Gesetze gab. Der Tod ging ihn vorbei; man sagt, die Götter wollten ihn in dieser langen Probezeit und Einsamkeit geschickt machen, daß er nachher ihrer einer würde, wegen seiner sonstigen großen Tugend und Tapferkeit. Ich weiß das nicht; doch er ist Fleisch und Bein, wie wir.

LÖWENER. Glaub das nicht, Fischer.

SUNTRARD. Ich hab es sicher und gewiß, daß ihn der Kollmer, der Richter ist in Elnedorf, jeweilig insgeheim besucht; sonst sieht ihn kein sterblicher Mensch.

KNABE. Gelt, Vater, er trägt einen Mantel und trägt ein eisern spitzig Krönlein in den Haaren?

SUNTRARD. Ganz recht, und seine Locken sind noch braun, sie welken nicht.

LÖWENER. Laßt's gut sein! ist schon spät. Das Licht dort in der äußersten Ecke vom Schloß ist auch schon aus. Dort wohnt Herr Harry, der bleibt am längsten auf. Will noch eine Weile in die Schenke. Gut Nacht!

SUNTRARD. Schlaf wohl, Freund Löwener. Komm Knabe, gehen zur Mutter.

Zweite Szene

Öder Strand. Im Norden.


KOLLMER allein. Hier pflegt er umzugehn, dies ist der Strand.

Den er einförmig mit den Schritten mißt.

Mich wundert, wo er bleiben mag. Vielleicht

Trieb ihn sein irrer Sinn auf andre Pfade,

Denn oft konnt ich gewahren, daß sein Geist

Und Körper auf verschiedner Fährte gehn.

O wunderbar! mich jammert sein Geschick,

Denk ich daran, was doch kaum glaublich scheint,[94]

Daß die Natur in einem Sterblichen

Sich um Jahrhunderte selbst überlebt –

Wie? tausend Jahre? – tausend – ja nun wird mir

Zum ersten Male plötzlich angst und enge,

Als müßt ich's zählen auf der Stell, durchleben

In einem Atemzug – Hinweg! man wird zum Narren!

Hm, tausend Jahr; ein König einst! – o eine Zeit

So langsam, als man sagt, daß Steine wachsen.

Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft –

Gäb es für die Vernunft ein drittes noch,

So müßt er dort verweilen in Gedanken.

Sind's aber einmal tausend, ja, so können

Unzählige noch kommen; sagt man nicht

Daß auch ein Ball, geworfen über die Grenze

Der Luft, bis wo der Erde Atem nicht mehr hinreicht,

Nicht wieder rückwärts fallen könne, nein

Er müsse kreisen, ewig, wie ein Stern.

So, fürcht ich, ist es hier.

Auch spricht man von der Inselgöttin Weyla,

Daß sie ein Blümlein liebgewann von seltner

Und nie gesehner Art, ein einzig Wunder,

Dies schloß die Göttin in das klare Wasser

Des härtsten Diamants ein, daß es daure

Mit Farben und Gestalt; wahrhaftig nein,

Ich möchte so geliebt nicht sein von Weyla,

Doch diesem König hat sie's angetan.

Oft ahnte mir, er selber sei ein Gott,

So anmutsvoll ist sein verfinstert Antlitz;

Das ist sein größtes Unglück, darum ward,

Wie ich wohl deutlich merke, eine Fee

Von heißer Liebe gegen ihn entzündet,

Und er kann ihrem Dienste nicht entgehn,

Sie hat die Macht schon über ihn, daß er,

Sooft sich ihr Gedanke nach ihm sehnt,

Tag oder Nacht, und aus der fernsten Gegend,

Nach ihrem Wohnsitz plötzlich eilen muß.

Wenn dieser Ruf an ihn ergeht, so reißt

Der Faden seines jetzigen Gedankens

Auf einmal voneinander, ganz verändert

Erscheint sein Wesen, hellres Licht durchwittert

Des Geistes Nacht, der längst verschüttete Brunn[95]

Der rauhen und gedämpften Rede klingt

Mit einmal hell und sanft, sogar die Miene

Scheint jugendlicher, doch auch schmerzlicher:

Denn greulich ist verhaßter Liebe Qual.

Drum sinnt er sicherlich in schwerem Gram,

Wie er sich ledig mache dieser Pein;

Dahin auch deut ich jene Worte mir,

Die er einst fallenlassen gegen mich:

»Willst du mir dienstbar sein, so gehe hin

Zur Stadt, dort liegt in einem unerforschten Winkel

Ein längst verloren Buch von seltner Schrill,

Das ist geschrieben auf die breiten Blätter

Der Thranuspflanze, so man göttlich nennt,

Das suche du ohn Unterlaß, und bring es.«

Drauf lächelt' er mitleidig, gleich als hätt er

Unmögliches verlangt, und redete

Zeither auch weiter nicht davon. Nun aber

Kam mir zufällig jüngst etwas zu Ohren

Von ein paar schmutzigen, unwissenden Burschen,

Die hätten der Art einen alten Schatz

Bestäubt und ungebraucht im Hause liegen.

Vielleicht, es träfe sich; so will ich denn

Vom König nähere Bezeichnung hören;

Doch aber zweifl' ich, zweifle sehr – Horch! ja, dort kommt er

Den Hügel vor. O trauervoller Anblick!

Sein Gang ist müde. Horch, er spricht mit sich.

KÖNIG. O Meer! Du der Sonne

Grüner Palast mit goldenen Zinnen!

Wo hinab zu deiner kühlen Treppe?

KOLLMER. (Ob ich es wagen darf, ihn anzurufen?)

Mein teurer König!

KÖNIG. Wer warf meinen Schlüssel in die See?

KOLLMER. Mein hoher Herr, vergönnt –

KÖNIG ihn erblickend.

Was willst du hier? Wer bist du? Fort! Hinweg!

Fort! willst du nicht fort? Fluch auf dich!

KOLLMER. Kennst du mich nicht mehr? dem du manches Mal

Dein gnädig Antlitz zugewendet hast?

KÖNIG. Du bist's, ich kenne dich. So sag mir an,

Wovon die Rede zwischen uns gewesen

Das letztemal. Mein Kopf ist alt und krank.[96]

KOLLMER. Nach jenem Buche hießest du mich suchen.

KÖNIG. Wohl, wohl, mein Knecht. Doch suchet man umsonst,

Was Weyla hat verscharrt, die kluge Jungfrau,

Nicht wahr?

KOLLMER. Gewiß, wenn nicht ihr Finger selbst

Mich führt; wir aber hoffen das, mein König.

Für jetzt entdeck mir mehr vom heilgen Buche.

KÖNIG. Mehr noch, mein Knecht? das kann schon sein, kann sein,

Will mich bedenken; wart, ich weiß sehr gut –

– Wär vor der Stirn die Wolke nicht! merkst du?

Elend! Elend! hier, hier, merkst du? die Zeit

Hat mein Gehirn mit zäher Haut bezogen.

Manchmal doch hab ich gutes Licht...

KOLLMER. Ach Armer!

Laß, laß es nur, sei ruhig! Herr, was seh ich?

Was wirfst du deine Arme so gen Himmel,

Ballst ihm die Fäust ins Angesicht? Mir graut.

KÖNIG. Ha! mein Gebet! meine Morgenandacht! Was?

Willst einen König lehren, er soll knien?

Seit hundert Jahren sind ihm wund die Kniee –

Was hundert –? o ich bin ein Kind! Komm her,

Und lehr mich zählen – Alte Finger! Pfui!

Auf, Sklave, auf! Ruf deine Brüder all!

Sag an, wie man der Götter Wohnung stürmt!

Sei mir was nütze, feiger Schurke du!

Die Hölle laß uns stürmen, und den Tod,

Das faule Scheusal, das die Zeit verschläft,

Herauf zur Erde zerren ans Geschäft!

Es leben noch viel Menschen; Narre du,

Mir ist es auch um dich! willst doch nicht ewig

Am schalen Lichte saugen?

KOLLMER. Weh! er raset.

KÖNIG. Still, still! Ich sinne was. Es tut nicht gut,

Daß man die Götter schmähe. Sag, mein Bursch,

Ist dir bekannt, was, wie die Weisen meinen,

Am meisten ist verhaßt den sel'gen Göttern?

KOLLMER. Lehr mich's, o König.

KÖNIG. Das verhüte Weyla,

Daß meine Zunge nennt was auch zu denken

Schon Fluch kann bringen. – Hast du wohl ein Schwert?

KOLLMER. Ich habe eins.[97]

KÖNIG. So schone deines Lebens,

Und laß uns allezeit die Götter fürchten! –

Was hülf es auch, zu trotzen? Das Geschick

Liegt festgebunden in der Weissagung,

So deins wie meines. Nun – wohlan, wie lautet

Der alte Götterspruch? ein Priester sang

Ihn an der Wiege mir, und drauf am Tag

Der Krönung wieder.

KOLLMER. Gleich sollst du ihn hören;

Du selber hast ihn neulich mir vertraut.


Ein Mensch lebt seiner Jahre Zahl:

Ulmon allein wird sehen

Den Sommer kommen und gehen

Zehnhundertmal.


Einst eine schwarze Weide blüht,

Ein Kindlein muß sie fällen,

Dann rauschen die Todeswellen,

Drin Ulmons Herz verglüht.


Auf Weylas Mondenstrahl

Sich Ulmon soll erheben,

Sein Götterleib dann schweben

Zum blauen Saal.


KÖNIG. Du sagst es recht, mein Mann; ein süßer Spruch!

Mich dünkt, die wen'gen Worte sättigen rings

Die irdische Luft mit Weylas Veilchenhauch.

KOLLMER. Ergründest du der Worte Sinn, o Herr?

KÖNIG. Ein König, ist er nicht ein Priester auch?

Still, meine heil'ge Seele kräuselt sich,

Dem Meere gleich, bevor der Sturm erscheint,

Und wie ein Seher möcht ich Wunder künden,

So rege wird der Geist in mir.

– Freilich, zu trüb, zu trüb ist noch mein Aug –

Ha, Sklave, schaff das Buch! mein lieber Sklave!

KOLLMER. Beschreib es mir erst besser.

KÖNIG. Nur Geduld.

Ich sah es nie und kein gemeiner Mensch.

Von Priesterhand verzeichnet steht darin,[98]

Was Götter einst Geweihten offenbarten,

Zukünftger Dinge Wachstum und Verknüpfung;

Auch wie der Knoten meines armen Daseins

Dereinst entwirrt soll werden, deutet es.

(Laß mich vollenden, weil die Rede fließt –)

Im Tempel Nidru-Haddin hütete

Die weise Schlange solches Heiligtum,

Bis daß die große Zeit erfüllet war,

Und alle Menschen starben; sieh, da nahm

Die Göttin jenes Buch, und trug es weg

An andern Ort, wer wollte den erkunden?

Auch meinen Schlüssel nahmen sie hinweg,

Die Himmlischen, und warfen ihn ins Meer.

KOLLMER. Herr, welchen Schlüssel?

KÖNIG. Der zum Grabe führt

Der Könige.

KOLLMER. Was zitterst du? erbleichst?

KÖNIG. Die Zaubrin lockt – Thereile reißt an mir –

Leb wohl! Ich muß –


Beide nach verschiedenen Seiten ab.

Dritte Szene

Nacht.

Ein offener, grüner Platz an einem sanften Waldabhang beim Schmettenberg, ohnweit des Flusses Weyla.

Thereile, eine junge Feenfürstin. Kleine Feen um sie her. König an der Seite, mehr im Vorgrund.


THEREILE. Seid ihr alle da?

MORRY. Zähl nur, Schwester, ja!

THEREILE. Ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.

Silpelitt ist ausgeblieben!

Hat doch stets besondre Nester!

Nun, so sucht, ihr faulen Dinger,

Steckt euch Lichtlein an die Finger!


Kinder eilen davon.


MORRY die heimlich zurückbleibt, leise.

Weithe!

WEITHE. Was?[99]

MORRY. Siehst du nicht dort

Ihren Buhlen bei der Schwester?

Darum schickt sie uns nun fort,

Dieses hat was zu bedeuten.

WEITHE. Ei, sie mag ihn gar nicht leiden.

MORRY. Bleibe doch! und laß uns lauschen,

Wie sie wieder Küsse tauschen.

Guck, wie spröd sie tut zum Scheine,

Trutzig ihre Zöpfe flicht!

Sie nur immer ist die Feine,

Unsereins besieht man nicht.

WEITHE. Aber wir sind auch noch kleine.

MORRY. Nun, so sag, ist dieses Paar

Nicht so dumm wie eines war?

Darf sich süße Feenbrut

Einem Sterblichen wohl gatten?

Beide zwar sind Fleisch und Blut

Doch die Braut wirft keinen Schatten.

WEITHE. Ja, das ist doch unanständig.

MORRY. Aber stets war sie unbändig.

WEITHE. Morry, laß uns lieber fort!

Mir wird angst an diesem Ort

MORRY. Wie sich wohl dies Spiel noch endet!

Beide stehen abgewendet;

Wahrlich, wie im tiefsten Schlummer

Steht der König, unbeweglich.

WEITHE. Ach, wie traurig scheint der Mann!

Liebe Schwester, ist's nur möglich,

Daß man so betrübt sein kann?

MORRY. Seine Stirne, voller Kummer,

Seine Arme sind gesenkt!

WEITHE. Was nur unsre Schwester denkt!

MORRY. Wär er mir wie ihr so gut,

Ich ließ mich küssen wohlgemut.

WEITHE. Bitte, komm und laß uns gehn!

Wollen nach dem Walde sehn,

Ob die holden Nachtigallen

Bald in unsre Netze fallen. Beide ab.[100]

Vierte Szene

König und Thereile allein.


KÖNIG für sich.

Still, sachte nur, mein Geist; gib dich zur Ruhe!

Lagst mir so lang in ungestörter Dumpfheit,

Hinträumend allgemach ins Nichts dahin,

Was weckt dich wieder aus so gutem Schlummer?

Lieg stille nur ein Weilchen noch!

Umsonst! umsonst! es schwingt das alte Rad

Der glühenden Gedanken unerbittlich

Sich vor dem armen Haupte mir!

Will das nicht enden? mußt du staunend immer

Aufs neue dich erkennen? mußt dich fragen,

Was leb ich noch? was bin ich? und was war

Vor dieser Zeit mit mir? – Ein König einst,

Ulmon mein Name; Orplid hieß die Insel;

Wohl, wohl, mein Geist, das hast du schlau behalten;

Und doch mißtrau ich dir; Ulmon – Orplid –

Ich kenne diese Worte kaum, ich staune

Dem Klange dieser Worte – Unergründlich

Klafft's da hinab – O wehe, schwindle nicht!

Ein Fürst war ich? So sei getrost und glaub es.

Die edle Kraft der Rückerinnerung

Ermattete nur in dem tiefen Sand

Des langen Weges, den ich hab durchmessen;

Kaum daß manchmal durch seltne Wolkenrisse

Ein flüchtges Blitzen mir den alten Schauplatz

Versunkner Tage wundersam erleuchtet.

Dann seh ich auf dem Throne einen Mann

Von meinem Ansehn, doch er ist mir fremd,

Ein glänzend Weib bei ihm, es ist mein Weib.

Halt an, o mein Gedächtnis, halt ein wenig!

Es tut mir wohl, das schöne Bild begleitet

Den König durch die Stadt und zu den Schiffen.

Ja, ja, so war's; doch jetzt wird wieder Nacht. –

Seltsam! durch diese schwanken Luftgestalten

Winkt stets der Turm von einem alten Schlosse,

Ganz so, wie jener, der sich wirklich dort

Gen Himmel hebt. – – Vielleicht ist alles Trug[101]

Und Einbildung und ich bin selber Schein.


Er sinkt in Nachdenken; blickt dann wieder auf.


Horch! auf der Erde feuchtem Bauch gelegen

Arbeitet schwer die Nacht der Dämmerung entgegen,

Indessen dort, in blauer Luft gezogen,

Die Fäden leicht, kaum hörbar fließen,

Und hin und wieder mit gestähltem Bogen

Die lustgen Sterne goldne Pfeile schießen.

THEREILE noch immer in einiger Entfernung.

Wie süß der Nachtwind nun die Wiese streift,

Und klingend jetzt den jungen Hain durchläuft!

Da noch der freche Tag verstummt,

Hört man der Erdenkräfte flüsterndes Gedränge,

Das aufwärts in die zärtlichen Gesänge

Der reingestimmten Lüfte summt.

KÖNIG. Vernehm ich doch die wunderbarsten Stimmen

Vom lauen Wind wollüstig hingeschleift,

Indes mit ungewissem Licht gestreift

Der Himmel selber scheinet hinzuschwimmen.

THEREILE. Wie ein Gewebe zuckt die Luft manchmal,

Durchsichtiger und heller aufzuwehen,

Dazwischen hört man weiche Töne gehen

Von sel'gen Elfen, die im blauen Saal

Zum Sphärenklang,

Und fleißig mit Gesang,

Silberne Spindeln hin und wieder drehen.

KÖNIG. O holde Nacht, du gehst mit leisem Tritt

Auf schwarzem Samt, der nur am Tage grünet,

Und luftig schwirrender Musik bedienet

Sich nun dein Fuß zum leichten Schritt,

Womit du Stund um Stunde missest,

Dich lieblich in dir selbst vergissest –

Du schwärmst, es schwärmt der Schöpfung Seele mit!


Thereile legt sich auf einen Rasen,

das Auge sehnsüchtig nach dem Könige gerichtet.

Er fährt fort, mit sich selbst zu reden.


Im Schoß der Erd, im Hain und auf der Flur

Wie wühlt es jetzo rings in der Natur

Von nimmersatter Kräfte Gärung!

Und welche Ruhe doch, und welch ein Wohlbedacht!

Dadurch in unsrer eignen Brust erwacht

Ein gleiches Widerspiel von Fülle und Entbehrung.[102]

In meiner Brust, die kämpft und ruht,

Welch eine Ebbe, welche Flut!


Pause.


Almissa – –! Wie? Wer flüstert mir den Namen,

Den langvergeßnen, zu?

Hieß nicht mein Weib

Almissa? Warum kommt mir's jetzt in Sinn?

Die heilge Nacht, gebückt auf ihre Harfe,

Stieß träumend mit dem

Finger an die Saiten,

Da gab es diesen Ton.

Vielleicht genoß ich

In solcher Stunde einst der Liebe Glück – –


Langes Schweigen.

Aufschauend endlich gewahrt er Thereilen,

die sich ihm liebevoll genähert hat.


Ha! bin ich noch hier? Stehst du immer da?

So tief versank ich in die stummen Täler,

Die mir Erinnrung grub in mein Gehirn,

Daß mir jetzt ist, ich säh zum erstenmal

Dich, die verhafte Zeugin meiner Qual.

O warf ein Gott mich aus der Menschheit Schranken,

Damit mich deine fluchenswerte Gunst

Gefesselt hält in seligem Erkranken,

Mich sättigend mit schwülem Zauberdunst,

Mir zeigend aller Liebesreize Kunst,

Indes du dich in stillem Gram verzehrst

Um den Genuß, den du dir selbst verwehrst?

Denn dieser Leib, trotz deinen Mitteln allen,

Ist noch dem Blut, das ihn gezeugt, verfallen;

Umsonst, daß ich den deinen an mich drücke,

Vergebens diese durstig schöne Brust,

So bleiben unsre Küsse, unsre Blicke

Fruchtlose Boten unbegrenzter Lust!


Für sich.


Weh! muß ich eitle Liebesklage heucheln,

Mir Mitleid und Erlösung zu erschmeicheln? –

Darum, unsterblich Weib, ich bitte sehr,

Verkenne dich und mich nicht länger mehr!

Verbanne mich aus deinem Angesicht,

So endigst du dies jammervolle Schwanken,

Mein unwert Bildnis trage länger nicht

Im goldnen Netze liebender Gedanken!

THEREILE. Ganz recht! was ungleich ist, wer kann es paaren?

Wann wäre Hochzeit zwischen Hund und Katze?[103]

Und doch, sie sind sich gleich bis auf die Tatze.

Wie soll, obwohl er Flossen hat, der Pfeil

Alsbald, dem Fische gleich, den See befahren?

Hat ja ein jedes Ding sein zugemessen Teil;

Doch weiß ich nichts, das wie des Menschen Mund

So viel verschiedne Dienste je bestund.

Ei, der kann alles trennen und vereinen,

Kann essen, küssen, lachen oder weinen,

Nicht selten spricht er, wenn er küssen soll;

Muß aber einmal doch gesprochen sein,

So ist es Wahrheit, sollt ich meinen,

Schön Dank! da ist er aller Lügen voll.

Denn sieh, mit welcher Stirn wirfst du mir ein,

Wir glichen uns nur halb, und nur zum Schein?

Kann der von Bitter sagen oder Süß

Den ich den Rand noch nicht des Bechers kosten ließ?

Still, still! ich will nichts hören, nicht ein Wort!

So wenig lohnt es sich mit dir zu rechten,

Als wollt ich einem Bären Zöpfe flechten.

Tu, was du magst. Geh, trolle dich nur fort!

Ich bin des Schnickeschnackens müde.

KÖNIG. Ist es dein Ernst?

THEREILE. Ernst? o behüte!

Jetzt überfällt mich erst die wahre Lust,

Dir zum Verdruß dich recht zu lieben.

Komm, laß uns tanzen! Komm, mein Freund, du mußt!


Sie fängt an zu tanzen.


KÖNIG für sich. Wie haß ich sie! und doch, wie schön ist sie!

Hinweg! mir wird auf einmal angst und bange

Bei dieser kleinen golden-grünen Schlange.

Von ihren roten Lippen träuft

Ein Lächeln, wie drei Tropfen süßes Gift,

Das in dem Kuß mit halbem Tode trifft.

Ha! wie sie Kreise zieht, Anmut auf Anmut häuft!

Doch stößt's mich ab von ihr, ich weiß nicht wie.


Es ruft etwas entfernt: »Thereile! Ach Thereile!«


KÖNIG. Horch!

THEREILE. Die Kinder kommen: welch Geschrei![104]

Fünfte Szene

Die Vorigen und die Kinder mit Silpelitt.


THEREILE. Was habt ihr denn? was ist geschehn? sprich, Malwy! Talpe, oder du!

MALWY. Ach Schwester!

THEREILE. Nun! Der Atem steht euch still. Wo habt ihr Silpelitt?

SILPELITT hervortretend. Hie bin ich.

MALWY. Als wir Silpelitt suchten, konnten wir sie gar nicht finden. Wir rannten wohl neun Elfenmeilen, darfst glauben, und stöberten in dem Schilf herum, wo sie zu sitzen pflegt, wenn sie sich verlaufen hat. Auf einmal an dem Fels, wo das Gras aus den mauligen Löchern wächst, steht Talpe still und sagt: »Hört ihr nicht Silpelitts Stimme, sie redet mit jemand und lacht.« Da löschten wir die Laternlein aus und liefen zu. Ach du mein! Thereile, da ist ein großer, grausam starker Mann gewesen, dem saß Silpelitt auf dem Stiefel und ließ sich schaukeln. Er lachte auch dazu, aber mit einem so tückischen Gesicht –

TALPE. Schwester, ich weiß wohl, das ist der Riese, er heißt der sichere Mann.

THEREILE. Über das verwegene, ungeratene Kind! Warte nur, du böses, duckmäuseriges Ding! Weißt du nicht, daß dieses Ungeheuer die Kinder alle umbringt?

TALPE. Bewahre, er spielt nur mit ihnen, er knetet sie unter seiner Sohle auf dem Boden herum und lacht und grunzt so artig dabei und schmunzelt so gütig.

THEREILE zum König. Mir tötete er einst den schönsten Elfen durch diese heillose Beschäftigung. Er ist ein wahrer Sumpf an Langerweile.

TALPE zu einem andern Kind. Gelt? ich und du wir haben ihn einmal belauscht, wie er bis über die Brust im Brulla-Sumpf gestanden, samt den Kleidern; da sang er so laut und brummelte dazwischen: ich bin eine Wasserorgel, ich bin die allerschönste Wassernachtigall!

THEREILE. Hast du dieses Ungetüm schon öfter besucht, Silpelitt? Ich will nicht hoffen.

SILPELITT. Er tut mir nichts zuleide.

KÖNIG für sich. Wer ist das Kind? Es gleicht den andern nicht.[105]

Mit sonderbarem Anstand trägt es sich,

Und ernsthaft ist sein Blick. Nein, dieses ist

Kein Feenkind, vielleicht die Fürstin hat

Es grausam aus der Wiege einst entführt.


Man hört in der Ferne eine gewaltige Stimme.


Trallirra – a – aa – aü – ü –

Pfuldararaddada – –!


Die Anwesenden erschrecken heftig.

Die Kinder hängen sich schreiend an Thereile.


THEREILE. Seid stille! seid doch ruhig! Er kommt gar nicht daher, es geht gar nicht auf uns. Zum König: Es ist die Stimme dessen, von dem wir vorhin sprachen.

KÖNIG. Horch!

THEREILE. Horcht! ...

KÖNIG. Dies ist der Widerhall davon; das Echo, das durch die Krümmen des Bergs herumläuft.

THEREILE. Habt gute Ruhe, Kinder. Jetzt muß er schon um die Ecke des Gebirges gewendet haben.

Nun auf und fort ihr närrischen Dinger alle!

Und sammelt tausend wilde Rosen ein;

In jeder soll mit grünem Dämmerschein

Ein Glühwurm, wie ein Licht, gebettet sein,

Und damit schmückt, noch eh der Morgen wach,

Mein unterirdisch Schlafgemach

Im kühlen Bergkristalle!


Die Kinder hüpfen davon.

Thereile wendet sich wieder an den König.


Du bist heut nicht gelaunt zum Tanz,

Den alten Trotzkopf seh ich wieder ganz.

Was möcht ich doch nicht alles tun,

Dir nur die kleinste Freude zu bereiten!

Laß uns in sanfter Wechselrede ruhn,

Zwei Kähnen gleich, die aneinander gleiten.

Sieh, wie die Weide ihre grünen Locken

Tief in die feuchte Nacht der Wasser hängt,

Indessen dort der erste Morgenwind

Ihr ihre keuschen Blütenflocken

Mutwillig zu entführen schon beginnt.

KÖNIG. Und siehst du nicht dies hohe Feenkind,

Vom Atemzug der lauen Nacht beglückt,[106]

Nicht ahnend, welche schmeichelnde Gefahr

Auf ihre Tugend nah und näher rückt?

THEREILE. Du bist ein Schalk! Dies ist nicht wahr!

KÖNIG. Gestatte wenigstens, daß wir nun scheiden,

Und, möcht es sein, für immerdar;

Ich sehe keine Rettung sonst uns beiden,

Wenn nicht dein Herz, verbotner Liebe voll,

So wie das meine, ganz verzweifeln soll.

THEREILE. O Gimpel! ich muß lachen über dich.

Leb wohl für heute. Morgen siehst du mich.


Sie stößt ihn fort.

Sechste Szene

THEREILE allein; nach einer Pause, auffahrend.

O Lügner, Lügner! schau mir ins Gesicht!

Sprich frei und frech, du liebst Thereile nicht!

Dies nur zu denken zitterte mein Herz,

Und hinterlegte sich's mit kümmerlichem Scherz.

Nun steh mir, Rache, bei...! Doch dies ist so:

Von nun an wird Thereile nimmer froh.

Hätt ich den Hunger eines Tigers nur,

Dein falsches Blut auf einmal auszusaugen!

Ha, triumphiere nur, du Scheusal der Natur,

Ich sah es wohl – allein mit blinden Augen.

Doch, bleibt mir nicht die Macht, ihn festzuhalten?

Ist er gefesselt nicht durch ein geheimes Wort?

Ich bann ihn jeden Augenblick,

Wenn ich nur will, zu mir zurück.

So fliehe denn, ja stiehl dich immer fort,

Ich martre dich in tausend Spukgestalten!


Sie sinnt wieder nach.


Oft in der Miene seines Angesichts

Ahnt ich schon halb mein jetziges Verderben;

Ich hatte Wunden, doch sie taten nichts:

Da ich sie sehe, muß ich daran sterben!


Ab.
[107]

Siebente Szene

Wirtsstube in der Stadt Orplid. Kollmer aus Elne und einige Bürger sitzen an den Tischen umher, trinkend und schwatzend.


EIN WEBER. Hört, Kollmer! Ihr habt ja neulich wieder nach den beiden Lumpenhunden gefragt, von denen ich Euch sagte, daß sie gern die alte Chronik an Euch los wären, die kein Mensch lesen kann. Wenn Ihr noch Lust habt, so mögt Ihr dazutun, sie wollen's aufs Schloß dem gelehrten Herrn bringen, dem Harry; der ist Euch wie besessen auf dergleichen Schnurrpfeifereien aus.

KOLLMER. Seid außer Sorgen, ich hab den Schatz schon in Händen und wir sind bereits halb handelseinig. Diesen Abend wird es vollends abgemacht.

GLASBRENNER. Wenn ich Euch raten darf, laßt Euch nicht zu tief mit den saubern Kameraden ein; Ihr habt sie sonst immer aufm Hals.

MÜLLER. Mir denkt's kaum, daß ich sie einmal sah.

WEBER. O sie liegen ganze Nachmittage im lieben Sonnenschein aufm Markt, haben Maulaffen feil, schlagen Fliegen und Bremsen tot und erdenken allerlei Pfiffe, wie sie mit Stehlen und Betrügen ihr täglich Brot gewinnen. Es sind die einzigen Taugenichtse, die wir auf der Insel haben; Schmach genug, daß man sie nur duldet. Wenn's nicht den Anschein hätte, als ob die Götter selbst sie aus irgendeiner spaßhaften Grille ordentlich durch ein Wunder an unsern Strand geworfen, so sollte man sie lange ersäuft haben. Nehmt nur einmal: Unsere Kolonie besteht schon sechzig Jahre hier, ohne daß außer den Störchen und Wachteln auch nur ein lebend Wesen aus einem fremden Weltteil sich übers Meer hieher verirrt hätte. Die ganze übrige Menschheit ist, sozusagen, eine Fabel für unsereinen; wenn wir's von unsern Vätern her nicht wüßten, wir glaubten kaum, daß es sonst noch Kreaturen gäbe, die uns gleichen. Da muß nun von ungefähr einem tollen Nordwind einfallen, die paar Tröpfe, den Unrat fremder Völker, an diese Küsten zu schmeißen. Ist's nicht unerhört?

SCHMIED. Wohl, wohl! Ich weiß noch als wär's von gestern, wie eines Morgens ein Johlen und Zusammenrennen war, es seien Landsleute da aus Deutschland. All das Fragen und Verwundern hätt kaum ärger sein können, wenn einer warm vom Mond gefallen wär. Die armen Teufel standen keuchend[108] und schwitzend vor der gaffenden Menge, sie hielten uns für Menschenfresser, die zufällig auch deutsch redeten. Mit Not bracht man aus ihnen her aus, wie sie mit einer Ausrüstung von Dingsda, von – wie heißt das große Land? nun, von Amerika aus, beinah zugrund gegangen, wie sie, auf Booten weiter und weiter getrieben, endlich von den andern verloren, sich noch zuletzt auf einigen Planken hieher gerettet sahen.

GLASBRENNER. Hätt doch ein Walfisch sie gefressen! Der eine ist ohnehin ein Hering, der winddürre lange Flederwisch, der sich immer für einen gewesenen Informator ausgibt, oder wie er sagt, Professor. – Der Henker behalt alle die ausländischen Wörter, welche die Kerls mitbrachten. Ein Barbier mag er gewesen sein. Sein Gesicht ist wie Seife und er blinzelt immer aus triefigen Augen.

SCHMIED. Ja, und er trägt jahraus jahrein ein knappes Fräcklein aus Nanking, wie er's nennt, und grasgrüne Beinkleider, die ihm nicht bis an die Knöchel reichen, aber er tut euch doch so zierlich und schnicklich, wie von Zucker und bläst sich jedes Stäubchen vom Ärmel weg.

WEBER. Ich hab ihn nie gesehen, wo er nicht ängstliche, halbfreundliche Gesichter gemacht hätte, wie wenn er bei jedem Atemzug besorgte, daß ihm sein Freund, der Buchdrucker, eins hinters Ohr schlüge. Ich war Zeuge, als ihm dieser von hinten eine Tabakspfeife mit dem Saft auf seine Häupten ausleerte, um einen Anlaß zu Händeln zu haben.

GLASBRENNER. Richtig, der mit dem roten schwammigten Aussehen, das ist erst der rechte; so keinen Säufer sah ich in meinem Leben. Sein Verstand ist ganz verschlammt, er redt langsam und gebrochen, auf zehn Schritte riecht er nach Branntwein.

WEBER. So haltet nur die Nase zu, denn dort seh ich beide edle Männer an der Tür.

KOLLMER. Sie werden mich suchen wegen des Kaufs. Auf Wiedersehn, ihr Herren!


Ab.


SCHMIED. Was will denn der Kollmer mit dem unnützen Zeug, dem Buch, oder was es ist?

WEBER. Er sagt, er lege vielleicht eine Sammlung an von dergleichen alten Stücken.

SCHMIED. Ein sonderbarer Kauz. Es heißt auch, er gehe mit Gespenstern um.

WEBER. Man redt nicht gern davon. Was geht's mich an![109]

Achte Szene

Eine kleine schlechte Stube.


BUCHDRUCKER allein; er steht an die Wand gelehnt mit geschlossenen Augen. Den Fund hab ich getan, nicht du! So ist die Sache. Du hast keinen Teil an der Sache, miserable Kreatur! Ich hab die Rarität entdeckt, ich hab im alten Keller im Schloß, hab ich das eiserne Kistel – alle Wetter! hab ich's nicht aufgebrochen? Willst gleich mein Stemmeisen an Kopf, Nickel verfluchter?


Er schaut auf und kommt zu sich.


Wieder einmal geschlafen. Ah! – Der Musje Kollmer wird jetzt bald dasein. Muß ihn der Teufel just herführen, wenn ich besoffen bin? Nimm dich zusammen, Buchdrucker, halt die Augen offen, lieber Drucker. – Und der Tropf, der Wispel muß weg, wenn mein Besuch kommt, er geniert mich nur; der Affe würde tun, als gehörte der Profit ihm und die Ehre.

WISPEL kommt hastig herein. Durchaus mit Affektation. Bruder, geschwind! Wir wollen aufräumen, wir wollen uns ankleiden. Der Herr wird gleich kommen, er will Bunkt ein Uhr kommen. Jetzt haben wir gerade zwölf.

BUCHDRUCKER. Ja, man muß sich ein wenig einrichten. Ich will mich etwas putzen. Wenn ich mich heut mit lauem Wasser wasche, kann er zufrieden sein; er wird es zu rühmen wissen.

WISPEL geschäftig hin und her. Es kömmt darauf an daß ich in größter Eile meine Toilette rangiere oder embelliere.

BUCHDRUCKER. Wo wirst du dich indessen aufhalten, während mich der Fremde spricht?

WISPEL schnell. Ich bleibe, Guter, ich bleibe. Wo ist das Zähnebürstchen, das Zäh – – die Schuhbürste wollt ich sagen. – Aber meine Zähne sind ebenfalls häßlich und teilweise ausgefallen. – Ei, was tut's aber? ich bekomme dadurch eine sehr weiche Aussprache, eine Diktion, die mich besonders bei den Damen sehr empfehlen muß, denn, verstehst du, weil der Buchstabe R in seiner ganzen Roheit gar nicht ohne die Zähne ausgesprochen werden kann, so darf ich von meinen ausgefallenen Zähnen füglich sagen, es seien lauter elidierte Erre. Durch dergleichen Elisionen gewinnt aber eine Sprache unendlich an süßem italienischem Charakter. Aber, mein Gott, dieses Hemd ist gar zu schmutzig – Nun![110]

BUCHDRUCKER stellt sich dicht neben ihn. Wo willst du denn hingehen, solang der Herr mich abfertigt, mich honoriert?

WISPEL. – und meine Kamaschen ebenfalls etwas abgetragen. Wie? Ich bleibe, ich bleibe, Bester.

BUCHDRUCKER. Vielleicht machst du in dieser Zeit einen Gang um die Stadt, Bruder? Geh, führ dich ab!

WISPEL. Freilich, wir sollten ihn eher an einem dritten Ort empfangen, du hast recht. Es ist doch gar zu unreinlich in unserm Zimmerchen, in unserm kleinen Appartementchen. Eine unsäuberliche Mansarde präsentiert sich nicht gut – malpropre.

BUCHDRUCKER für sich. Er muß fort – er muß fort. Wie er sich putzt! Ich würde wie ein Schwein aussehen neben ihm; neben seiner geläufigen Zunge müßte ich wie ein einfältiger unwissender Weinzapf dastehn. Ich kann es nicht ertragen, daß er zusehn soll, wie ich meinen Profit einstreiche, er würde gleich auch seine knöcherne Tatze dazwischenstrecken, mein Seel, er wär imstand und bedankte sich mit allerhand Ausdrücken für die Bezahlung. Laut. Was hast du denn in dem großen Hafen da?

WISPEL. Es is nur ein Schmalznäpfchen, Bruder. Ich habe das Näpfchen unterwegs – ä – ä – entlehnt, um meine Haare ein wenig zu befetten, weil wir keine Pomade haben für unsre beiderseitigen Kapillen. Es is nur – e – nämlich, daß man nicht ohne alle Elegance erscheint vor dem Manne; mein Gott!

BUCHDRUCKER. Das ischt ja aber eine wahre Schweinerei!

WISPEL. Nämlich – ä – nein, es is –

BUCHDRUCKER für sich. Aber er wird sich doch gut damit herausstaffieren, er wird für einen Prinzen neben mir gelten. Herr Gott! was sich diese Spitzmaus einreibt! was sich dieser unscheinbare weiße Ferkel auf einmal herausstriegelt!


Der Buchdrucker taucht jetzt die Hand auch in den Topf und streicht sich's auf. Es stehen beide um den Tisch; in der Mitte der Topf.


WISPEL. Hör mal, Bruder, es soll gar ein kurioser Mann sein, auf Ehre; ganz eichen, welcher seine Liebhaberei an abenteuerlichen, seltsamen, dunkeln Redensarten und Ideen hat. Ich denke recht in ihn einzugehen, recht mit ihm zu konservieren. Ich freue mich sehr, wahrhaftig.

BUCHDRUCKER. Nein, nein, nein! bitt dich! just das Gegenteil! Je weniger man redt, je stummer und verstockter man ist,[111] desto mehr nimmt man an Achtung bei diesem eigenen, allerdings raren Manne zu.

WISPEL. Gottlob, daß mich mein beseligter Vater in der Erziehung nicht vernachlässigte. Ich werde ihm z.B. von dem eigentlichen sinnigen Wesen der unterirdischen Quellen oder Fontänen, von den Kristallen unterhalten.

BUCHDRUCKER für sich. So wahr ich lebe, Kristallknöpfe trägt er wirklich an seinem Rock. Ich werde ihm auch von Korallen und Steinen allerhand sagen.

WISPEL im Ankleiden. Seit meiner berühmten Seefahrt hab ich gewiß allen Anspruch auf Distinktion, ich werde mich erbieten, ein praktisches Kollegium über Nautik und höhere Schwimmkunst vorzutragen; ich werde dem guten Kollmer überhaupt dieses und jenes Phantom kommunizieren. Und was das seltene Buch betrifft, so überlaß nur mir, zu handeln. Man muß etwa folgendergestalt auftreten: Mein Herr! Es is'n Band, der, wie er einmal vor uns liegt, ohne Eigendünkel zu reden, in der Tat ein antiquarisches Interesse, eine antiquarische Gestalt annimmt. Wenn Sie zu dem bereits festgesetzten Kaufpreis, nämlich zu den drei Butten Mehl, dem Fäßchen Honig und dem goldenen Kettlein, etwa noch eine Kleinigkeit, eine Hemdkrause eine Busennadel oder dergleichen – ä – hinzufügen wollten, so möcht es gehen. Nun macht er entweder Basta oder macht nicht Basta; ich werde jedoch auf jeden Fall delikat genug sein, um schnell abzubrechen; es wäre gemein, werd ich sagen, zu wuchern um etwas ganz Triwiales; transilieren wir auf andere Materie. Ich habe oft eigene Gedanken und Ideen, mein Herr, auch weiß ich, daß Sie nicht minder Liebhaber sind. So z.B. fällt mir hier ein, es wäre eichen, wenn sich ä – wart, ich hab es sogleich – Ja, nun eben stößt mir's auf, ich hab es: – nämlich in der Natur, wie sie einmal vor uns liegt, scheint mir alles belebt, rein alles, obgleich in scheinbarer Ruhe schlummernd und fantatisierend; so par exemple, wenn sich einmal die Straßensteine zu einem Aufruhr gegen die stolzen Gebäude verschwüren, sich zusammenrotteten, die Häuser stürzten, um selbst Häuser zu bilden? Wie? heißt das nicht eine geniale Fantaisie? Comment?

BUCHDRUCKER. Esel! So? Wenn sich die Finger meiner Hand auch zusammenrottieren und machen eine Faust und schlagen dir deinen Schafskopf entzwei? Comment?[112]

WISPEL lächelt. Ä hä hä hä! ja das wäre meine Idee etwas zu weit ausgeführt, Bester. – Aber was treibst du –? Ciel! Deine Haare werden ja so starr wie ein Seil! Dein Haupt ist ja wie eine Blechhaube! Du leertest ja die Hälfte des Topfes aus!

BUCHDRUCKER. Alle Milliarden Hagel Donnerwetter! Warum sagst du's nicht gleich! du hundsföttischer neidischer Blitz!


Mißhandelt ihn.


WISPEL. Himmel! wie konnt ich es früher äußern, da ich es in diesem Moment erst gewahre? so wahr ich lebe, Bruder – Himmel! du beschmutzest ja mein Fräckchen völlig – schlag auf die Wange, lieber auf die Wange! um deiner Freundschaft willen –

BUCHDRUCKER. Daß dich das höllische Pech! Du Krötenlaich! Du Stinktier! Schwerenot! die Brüh läuft mir den Hals runter! Ein' Kamm her! Ein' Kamm!

WISPEL trocknet ihn mit einem Tuch. So. So. Es is ja alles wieder gut und hübsch – Ich habe dich nie so glänzend gesehen, auf Ehre. So. Jetzt sind wir ja fix und fertig. Geht vor ein kleines Spiegelchen und hüpft freudig empor. Ach alle Engel! Ich sehe aus wie gemalt. Singt:


Das Bräutlein schön zu grüßen

Stürz ich vor ihre Füßen –


Sieh her, du hättest eben freilich auch solche kleine Löckchen zwirbeln sollen – Schau – ich hab hier mehrere Dutzende auf der Stirn; allein du siehst, wie gesagt, nicht so übel aus, gar nicht so übel aus – Horch! Es klopft doch nicht?

BUCHDRUCKER. Laß es klopfen!

WISPEL. Schön gesagt! das erinnert treffend an Don Giovanni, wo der Geist auftreten muß – Eine treffliche Oper.

BUCHDRUCKER gibt ihm eine Ohrfeige. Da hast du einen Schiowanni und eine Ooper. Und jetzt gehst du auf der Stell, weil mich jemand sprechen will, weil ich einen Wert von drei Louisdor einnehmen will – Geh spazieren!


Man hört anklopfen.


WISPEL. Er kömmt! – Bruder – Was stößt mir auf – wir sind noch nicht balbiert!

BUCHDRUCKER. Laß dich vom Henker einseifen, Chinese!

WISPEL. Soll ich durch den Spalt wispern und sagen: er soll[113] in einer halben Stunde wiederkommen, wir seien zwar schon rasiert, aber wir hätten – ä noch einen Brief zu schreiben?

BUCHDRUCKER. Dummer Hund! – Herein!

EIN MÄDCHEN des Wirts tritt herein. Drunten hat ein Knecht von Elne einige Sachen gebracht, und einen Gruß von Herrn Kollmer.

WISPEL. Mein! Will denn der Herr nicht selbst kommen?

MÄDCHEN. Scheint nicht.

WISPEL. Ich bin des Todes! Mich so um nichts und wieder nichts präpariert – mich bei zwei Stunden – o himmelschreiend! Denke nur, gutes Kind, ich hatte ihm die wichtigsten Eröffnungen zu machen!

MÄDCHEN. Mein Vater, der Wirt, läßt die Herren ersuchen, Sie möchten bei dieser Gelegenheit auch an die halbjährige Rechnung denken.

WISPEL. Ja Mädchen, ich wollte Herrn Kollmern sogar den Plan zur Grundlegung einer gelehrten Gesellschaft mitteilen. So was wie die Académie française.

MÄDCHEN. Der Vater läßt fragen, ob er Ihre Schuldigkeit nicht lieber gleich von den bei uns niedergelegten Sachen abziehen soll, die der Knecht gebracht hat.

WISPEL. So manche Erfindungen der gebildeten Europa dachte ich auch auf unserer armen Insel einzuführen! z.B. die Buchdruckerkunst, welch ein herrlicher Wirkungskreis gleich für dich, mein Bruder! – sodann die Fabrikation des Schießpulvers – das Münzwesen – ein Nationaltheater – ein hôtel d'amour – ich wollte der Schöpfer eines neuen Paris werden.

MÄDCHEN. Was sag ich denn meinem Vater als Antwort?

WISPEL. Und dieser Monsieur Kollmer wäre offenbar der einzige Mann, den ich mir assoziieren könnte.

MÄDCHEN. Ade, ihr Herren!

BUCHDRUCKER. Bleibe sie ein wenig bei uns, lieber Schatz. Vertreibe sie uns ein wenig die Zeit!

WISPEL. Ja, lassen Sie uns einiger Zärtlichkeit frönen!


Mädchen macht sich schnell davon.


BUCHDRUCKER nach einem Stillschweigen. Jetzt muß eine ganz besondere Maßregel ergriffen werden, und ergib dich nur gutmütig drein.

WISPEL. Was soll dieser Strick, Bruder?

BUCHDRUCKER. Bei meiner armen Seele, und so wahr ich selig werden will, ich drehe dir den Kragen um, wenn du nicht[114] alles stillschweigend mit dir anfangen läßt, was ich mit diesem Strick vorhabe.

WISPEL. Grand Dieu! o Himmel! nur schone mein bißchen Leben, nur juguliere mich nicht! bedenke, was ein Brudermord besagt!

BUCHDRUCKER. Schweig, sag ich! Er bindet ihm beide Füße an einen Pfosten und knebelt ihn fest. So. Ich will nur nicht haben, daß du beim Auspacken meines Profits die Nase überall voraus habest, Racker! Addio indessen.


Ab. Wispel wimmert und seufzt, dann fängt er in der

Langeweile an, mit dem Saft seines Mundes künstliche Blasen nach Art der Seifenblasen zu bilden. Der Buchdrucker sieht ihm eine Zeitlang durchs Schlüsselloch zu. Endlich schläft Wispel ein.

Neunte Szene

Nacht. Mondschein.

Waldiges Tal. Mummelsee. Im Hintergrunde den Berg herab gegen den See schwebt ein Leichenzug von beweglichen Nebel gestalten. Vorne auf einem Hügel der König, starr nach dem Zuge blickend. Auf der andern Seite, unten, den König nicht bemerkend, zwei Feenkinder.


DIE FEENKINDER im Zwiegespräch.

Vom Berge, was kommt dort um Mitternacht spät

Mit Fackeln so prächtig herunter?

Ob das wohl zum Tanze, zum Feste noch geht?

Mir klingen die Lieder so munter.

Ach nein!

So sage, was mag es wohl sein?


Das was du da siehest ist Totengeleit,

Und was du da hörest sind Klagen;

Gewiß einem Könige gilt es zu Leid,

Doch Geister nur sind's, die ihn tragen.

Ach wohl!

Sie singen so traurig und hohl.


Sie schweben hernieder ins Mummelseetal,

Sie haben den See schon betreten,[115]

Sie rühren und netzen den Fuß nicht einmal,

Sie schwirren in leisen Gebeten.

O schau!

Am Sarge die glänzende Frau!


Nun öffnet der See das grünspiegelnde Tor

Gib acht, nun tauchen sie nieder!

Es schwankt eine lebende Treppe hervor

Und – drunten schon summen die Lieder.

Hörst du?

Sie singen ihn unten zur Ruh.


Die Wasser, wie lieblich sie brennen und glühn!

Sie spielen in grünendem Feuer,

Es geisten die Nebel am Ufer dahin,

Zum Meere verzieht sich der Weiher.

Nur still,

Ob dort sich nichts rühren will? –


Es zuckt in der Mitte! O Himmel, ach hilf!

Ich glaube, sie nahen, sie kommen!

Es orgelt im Rohr und es klirret im Schilf;

Nur hurtig, die Flucht nur genommen!

Davon!

Sie wittern, sie haschen mich schon!


Die Kinder entfliehen. Der Zug streicht wieder den Berg hinan. Während er verschwindet, ruft der König mit ausgestreckten Armen nach.


KÖNIG. Halt! Haltet! Steht! Hier ist der König Ulmon!

Ihr habt den leeren Sarg versenkt, o kommt!

Ich, der ihn füllen sollte, bin noch hier.

Almissa, Königin! hier ist dein Gatte!

Hörst du nicht meine Stimme? kennst sie nimmer?

Nein, kennst sie nimmer. Weh, o weh mir, weh!

Könnt ich zur Leiche werden, sie vergönnten

Mir auch so kühles Grab. Leb ich denn noch?

Wach ich denn stets?

Mir deucht, ich lag in dem kristallnen Sarge,

Mein Weib, die göttliche Gestalt, sie beugte

Sich über mich mit Lächeln; wohl erkannt ich

Sie wieder und ihr liebes Angesicht.[116]

Fluch! wenn sie einen anderen begraben,

Wenn einem Fremden sie so freundlich tat!

Wie? so starb Lieb und Treue vor mir hin?

Freilich, zu lange säumt ich hier im Leben –

O Weyla, hilf! laß schnell den Tod mich haben!

Auf kurze Weile nur führ mich hinab

Ins Reich der Abgeschiedenen, daß ich eilig

Mein Weib befragen mag, ob sie mir Treue

Bewahrt, bis daß ich komme.

Und wenn dem nicht so wäre, wenn ich ganz

Vergessen wäre bei den sel'gen Toten?

O Weyla hilf! Laß dieses Ärgste mich

Nicht schauen, dies nur nicht! Denn eher fleh ich,

Wenn deine Gottheit keinen Ausweg weiß,

Laß lieber hier mich an der irdschen Sonne,

Die traurgen Tage durch die Ewigkeit

Fortspinnend, leben, fern gebannt von jenen,

Die meine königliche Seele so Gekränkt.

O schändlich, schändlich! unbegreiflich!

Almissa, du mein Kind? Sollt ich das glauben?


Man hört eine besänftigende Musik. Pause.


Das Nachtgesichte, das ich vorhin sah,

Ich wag es nun zu deuten – Ja, mir sagt's

Der tiefe Geist.

Die Götter zeigten wohlgesinnt und gütig

Im Schattenbilde mir das baldge Ende

All meiner Not. Es war das holde Vorspiel

Des Todes, der mir zubereitet ist.

Vor Freude stürmt mein Herz!

Und schwärmt schon an des Sees Ufern hin

Wo endlich mir die dunkle Blume duftet.

Oh, eilet, Götter, jetzt mit mir! Laßt bald

Mich euren Kuß empfangen! sei es nun

Im Wetterstrahl, der schlängelnd mich verzehre,

Sei es im Windbauch, der die stillen Gräser

Vorüberwandelnd neigt und weht die Seele

Ulmons dahin.


Ab.
[117]

Zehnte Szene

Mittag.

In der Nähe des Meeres.


KOLLMER allein.

Welch Wunder wird geschehen durch dies Buch!

Ja, welch ein Wunder hat sich schon ereignet

In meiner Gegenwart! Denn als ich ihm,

Dem König, jene Blätter übergab,

Warf er sein Haupt empor mit solchem Blick,

Als sollt es kommen, daß vom Himmel ein Stern

Herniederschießend rückwärts würde prallen

Vorm Sterne dieses siegestrunknen Auges.

Dann, alsbald meiner Gegenwart vergessend,

Lief er mit schnellem Schritt davon. Gewiß

Ist jenes dunkle Buch die Weissagung

Und Lösung seines Lebens, es enthüllet

Das Rätsel der Befreiung – Horch,

Es donnert! Horch! Die Insel zittert rings,

Sie hüpfet wie ein neugebornes Kind

In den Windeln des Meers!

Neugierige Delphine fahren rauschend

Am Strand herauf, zu Scharen kommen sie!

Ha! welch ein lieblich Sommerungewitter

Flammt rosenhell in kühlungsvoller Luft

Und färbt dies grüne Eiland morgenfrisch!

Ihr Götter, was ist dies? Mich wundert' nicht,

Wenn nun, am hellen Tag, aus ihren Gräbern

Gespenster stiegen, wenn um alle Ufer

In grauen Wolken sich die Vorzeit lagerte!


Ein heftiger Donnerschlag. Kollmer flieht.


Eilfte Szene

Mondnacht. Wald.

König tritt herein. Silpelitt springt voraus.


SILPELITT. Hier ist der Baum, o König, den du meinst,

Den meine Schwester manche Nacht besucht;

Das Haupt anlehnend pflegt sie dann zu schlummern.[118]

KÖNIG. Von gelber Farbe ist der glatte Stamm,

Sehr schlank erhebt er sich, und, sonderbar,

Die schwarzen Zweige senken sich zur Erde,

Wie schwere Seide anzufühlen. Kind,

Wir sind am Ziel. Sei mir bedankt, du hast

Mich mühsam den versteckten Pfad geleitet,

Die zarten Füße hat der Dorn geritzt,

Doch sind wir noch zu Ende nicht. Sag mir –

SILPELITT. Ich will dir alles sagen, nichts verschweigen –

KÖNIG. Was hast du? Warum fängst du an zu zittern?

Nicht dich zu ängstigen kam ich hieher.

SILPELITT. Nein, du mußt alles wissen, aber nur

Der Schwester sage nichts –

KÖNIG. Gewißlich nicht.

SILPELITT. Schon seit der Zeit, als ich mich kann besinnen,

War ich Thereilen untertan, der Fürstin;

Doch nur bei Nacht (dies ist der Feen Zeit)

War ich gehorsam, gleich den andern Kindern;

Allein am Morgen, wenn sie schlafen gingen,

Band ich die Sohlen wieder heimlich unter,

Nach Elnedorf zu wandern, und im Nebel

Schlüpft ich dahin, von allen unbemerkt.

Dort wohnt ein Mann, heißt Kollmer, dieser nennt

Mich seine Tochter, warum? weiß ich nicht.

Er meint, ich wäre gar kein Feenkind.

Er ist gar gütig gegen mich. Bei Tag

Sitz ich an seinem Tisch, geh aus und ein

Mit andern Hausgenossen, spiele dann

Mit Nachbarkindern in dem Hofe, oder

Wenn ich nicht mag, so zerren sie mich her

Und schelten mich ein stolzes Ding; ei aber

Sie sind zuweilen auch einfältig gar.

Zur Nachtzeit geh ich wieder fort und tue,

Als lief ich nach der obern Kammertür,

So glaubt der Vater auch, denn droben steht

Mein Bettlein, wo ich schlafen soll. Allein

Ich eile hinten übern Gartenzaun

Durch Wald und Wiesen flugs zum Schmettenberg,

Damit Thereile meiner nicht entbehre;

Auch hat sie's nie gemerkt, doch einmal fast.

KÖNIG. Besorge nichts; vertraue mir; bald hörst du weiter.


[119] Silpelitt verliert sich während des Folgenden etwas im Walde.


KÖNIG. Dies ist die Frucht von einem seltnen Bund,

Den vor elf Jahren eine schöne Fee

Mit einem Sterblichen geschlossen hat;

Nachher verließ sie ihn, ja sie benahm

Ihm das Gedächtnis dessen, was geschah,

Vermittelst einer langen Krankenzeit;

Nur dieses Kind sollt ihm als wie ein eignes

Lieb werden und vertraut. Ja, sonder Zweifel

Ist es der Mann, der, wenn mein Geist nicht irrt,

Mich oft besucht und mir das Buch verschaffte.

So also ward der Vater Silpelitts

Zum ersten Werkzeug meiner Rettung weislich

Erlesen von den Göttern, doch das Kind

Soll noch das Werk vollenden, aber beide

Erwartet gleicher Lohn. Dies liebliche Geschöpf

Wird eine Handlung feierlicher Art

Nach Ordnung dieses Buchs mit mir begehen,

Und in dem Augenblicke, wo der Zauber

Thereilens von mir weicht durch dieses Kinds

Unschuldge Hand, ist auch das Kind befreit;

Ein süß Vergessen kommt auf seine Sinne,

Und der geliebte Vater wird in ihm

Die eigne Tochter freudevoll umarmen.

Zum ersten Male morgen, Silpelitt,

Wirst du den Fuß ins kleine Bettlein setzen,

Das noch bis jetzt dein reiner Leib nicht hat

Berühren dürfen; dennoch sollst du glauben,

Du wärst es so gewohnt, Thereile aber

Wird dir ein fabelhafter Name sein.

– Wo bleibst du, Mädchen?

SILPELITT kommend. Sieh, hier bin ich schon.

Ich war den Felsen dort hinangeklettert,

Mein' Schwester Morry hat einmal auf ihm

'nen roten Schuh verloren.

KÖNIG. Sei bereit,

Hier rechter Hand die Schlucht hinabzusteigen.

Dort wirst du eine Grotte finden –

SILPELITT. Wohl.

Ich kenne sie. Noch gestern hat der Riese,

Der starke Mann, den Felsen weggeschoben.[120]

Jetzt ist der Eingang frei. Ich sah ihm zu

Bei seiner Arbeit. Herr, die Erde krachte,

Da er den Block umwarf, ihm stund der Schweiß

Auf seiner Stirn, doch sang er Trallira!

Und sagte: dies wär nur ein Kinderspiel.

Dann nahm er mich und setzt' mich auf den Gipfel;

Ich bat und weint, er aber ließ mich zappeln,

Bis ich ihm oben ein hübsch Liedchen sang.

Nun trollt er weg und brummt: ich soll dich grüßen,

Wenn du ihn wieder brauchest, sollst's nur sagen.

Verzeih, daß ich's vergaß.

KÖNIG. Schon gut; nun höre!

Durch jene schmale Öffnung dringest du

Zu einer Höhle, deren Innerstes

Ein Schießgerät mit einem Pfeil verwahrt.

Dies beides hole mir.


Sie geht.


So lehret mich

Das Buch des Schicksals, so heißt mich ein Gott.

Dort lehnt ein uralt schwer Geschoß, zeither

Von keines Menschen Hand berührt, nur heute

Soll dieser Bogen an das Tageslicht,

Den Pfeil zu schleudern in den giftgen Auswuchs

Reizvoller Liebe, die nach kurzem Schmerz

Zur Heilung sich erholet. O Thereile,

Ich nehme bittern Abschied, denn es fährt

Die feige Schneide, die uns trennen soll,

Bald rücklings in dein treues Herz; hier steht

Der träumerische Baum, in dessen Saft

Du unser beider Blut vor wenig Monden

Hast eingeimpft.

Jetzt kreiset es in süßer Gärung noch

Im Innern dieses Stammes auf und nieder.

Wie sehr die Nacht auch stille sei, mein Ohr

Bestrebet sich vergeblich, zu vernehmen

Den leisen Takt in diesem Webestuhl

Der Liebe, die mit holden Träumen oft

Dein angelehnet Haupt betöret hat.

Bald aber rinnet von dem goldnen Pfeil

Der Liebe Purpur aus des Baumes Adern,

Und alsbald aus der Ferne spürt dein Herz[121]

Die Qual der schrecklichen Veränderung,

Doch nach vertobtem Wahnsinn wird im Schlummer

Sich Ruhe senken auf dein Augenlid.

O Himmel! wie verlangt mich nach Erlösung!

Die Senne jenes göttlichen Geschosses

Zu spannen, fordert tausendjährge Stärke,

Ich habe sie; doch wahrlich, o wahrhaftig,

Auch ohnedem fühl ich die Kraft in mir,

Gleich jenem Gott, der den demant'nen Pfeil

Zum höchsten Himmel schnellte, daß er knirschend

Der Sonne Kern durchschnitt und weiterflog,

Bis wo des Lichtes letzter Strahl verlöschte.


Das Kind kommt zurück mit einer Art von Armbrust. Er spannt sie mit leichter Mühe, legt auf, und reicht sie dem Mädchen in der Richtung nach dem Baume. Silpelitt drückt ab und in dem Augenblicke wird es

ganz finster. Man hört ein Seufzen von der getroffenen Stelle her. Beide schnell ab.

Zwölfte Szene

Vor Tagesanbruch.

Tal.

Die Feenkinder treten auf.


MORRY. Hurtig! nur schnelle!

Entspringt und versteckt euch

Da hier ins Gebüsche!

Laß keine sich blicken!

Los bricht schon das Wetter.

TALPE. Was hast du? Was schnakst du,

MORRY. Gift speit die Schwester!

Sie raset, sie heulet

Mit Wahnsinnsgebärde

Dort hinter dem Felsen

Durchs Wäldchen daher.

WEITHE. Was ist ihr begegnet?

Ach laßt uns ihr helfen!

Hat Dorn sie gestochen?

Eidechslein gebissen?[122]

MORRY. Dummköpfige Ratte,

Halt's Maul und versteck dich!

Das ist ihre Stimme –

Die Kniee mir zittern.


Alle ducken sich zur Seite ins Gesträuch.


THEREILE tritt auf.

Sieh her! Sieh her, o Himmel!

Seht an, seht an, ihr Bäume,

Thereile, die Fürstin,

Die Jammergestalt!

Die Freud hin auf immer!

Verraten die Treue!

Und weh! nicht erreichen,

Und weh! nicht bestrafen

Kann ich den Verräter,

Entflohen ist er.

O armer Zorn!

Noch ärmere Liebe!

Zornwut und Liebe

Verzweifelnd aneinandergehetzt,

Beiden das Auge voll Tränen,

Und Mitleid dazwischen,

Ein flehendes Kind.

Hinweg! kein Erbarmen!

Ich muß ihn verderben!

Ha! möcht ich sein Blut sehn,

Ihn sterben sehen,

Gemartert sterben

Von diesen Händen,

Die einst ihm gekoset,

Die Stirn ist ihm gestreichelt –

Wie zuckt mir die Faust!

Vergebliche Rachlust!

So reiß ich zerfleischend

Hier, hier mit den Nägeln

Die eigenen Wangen,

Die seidenen Haare –

Du hast sie geküsset,

O garstiger Heuchler!

Weh! Schönheit und Anmut –

Was frag ich nach diesen![123]

Ist Freud hin auf immer,

Ist brochen die Liebe,

Was hilft mir die Schönheit

Was frag ich darnach!

Und bleibt nichts zu hoffen?

Ach leider, ach nimmer!

Der Riß ist geschehen,

Er traf aus der Ferne

Mir jählings das Leben,

Mein Zauber ist aus.

WEITHE hervorstürzend. Ich halt mich nicht –

O liebe süße Schwester!

THEREILE. Du hier? und ihr? Was ist's, verdammte Fratzen?

WEITHE. Gewiß nicht lauschen wollten wir; sie fürchten

Sich nur vor deiner argen Miene so,

Da steckten wir uns neben ins Gebüsch.

THEREILE. Was glotzt ihr so, gefällt euch mein Gesicht?

Könnt's auch so haben, wenn ihr wollt.

Wo habt ihr Silpelitt? Antwort! ich will's!

WEITHE. Sei gütig, Schwester, wir verschulden's nicht;

Sie fehlt uns schon seit gestern.

THEREILE. Wirklich? So?

Ihr falschen Kröten! Ungeziefer! Was?

Ich will euch lehren, eure Augen brauchen.


Mißhandelt sie.


Daß euch die schwarze Pest! Ja, wimmert nur!

Ich brech euch Arm und Bein, ihr sollt's noch büßen!


Alle ab.

Dreizehnte Szene

Nacht. Wald. Bezauberte Stelle.

Feenkinder.


TALPE. Dies ist der Platz; dort steht die schwarze Weide.

Was nun? sagt, wie befahl die Fürstin uns?

WINDIGAL. Was kümmert's mich? Ich rühre keine Hand.

TALPE. Hast du die Püffe schon versaust von gestern?

WINDIGAL. Pfui! Bückel und Beulen übern ganzen Leib!

Ich lege mich ins weiche Moos; kommt nur,

Wir ruhen noch ein Stündchen aus und plaudern;[124]

Zur Arbeit ist noch Zeit; die andern sind

Auch noch nicht da. – Seht' eine feine Nacht!

MALWY. Vollmond fast gar.

WINDIGAL. Wir singen eins; paßt auf!


Sie singen.


Bei Nacht im Dorf der Wächter rief:

Elfe!

Ein ganz kleines Elfchen im Walde schlief;

Elfe!

Und meint', es rief ihm aus dem Tal

Bei seinem Namen die Nachtigall,

Oder Silpelitt hätt ihm gerufen.

Drauf schlüpft's an einer Mauer hin,

Daran viel Feuerwürmchen glühn:

»Was sind das helle Fensterlein!

Da drin wird eine Hochzeit sein,

Die Kleinen sitzen beim Mahle

Und treiben's in dem Saale;

Da guck ich wohl ein wenig 'nein –«

Ei, stößt den Kopf an harten Stein!

Elfe, gelt, du hast genug?

Gukuk! Gukuk!

MORRY kommt mit den andern.

Ei brav. So? tut sich's? Nun, das ist ein Fleiß;

Wollt ihr nicht lieber schnarchen gar? Thereile

Wird euch fein wecken. Das vertrackte Volk,

Noch bluten Maul und Nasen ihm, und doch

Um nichts gebessert.

TALPE leise. Schaut, wie sie sich spreizt!

Sie äfft der Schwester nach, als wenn sie nicht

So gut wie wir voll blauer Mäler wäre.

MORRY. Den Baum sollt ihr umgraben, rings ein Loch,

Bis tief zur Wurzel, dann wird er gefällt.

Dies alles muß geschehen sein, bevor

Die erste Lerche noch den Tag verkündet.

Rasch, sputet euch, faßt Hacken an und Schaufel!

WINDIGAL. Hört ihr nicht donnern dort?

TALPE. Beim Käuzchen, ja.

Es wetterleuchtet blau vom Häupfelberg,

Der Mond packt eilig ein; gleich wird es regnen.[125]

MORRY. Dann habt ihr leidlich graben. Frisch daran!

THEREILE tritt auf in Trauerkleidern, für sich.

Zum letztenmal betritt mein scheuer Fuß

Den Ort der Liebe, den ich hassen muß.

Vor diesem Abschied wehret sich mein Herz

Und krümmt sich wimmernd im verwaisten Schmerz!

Verblutet hast du, vielgeliebter Baum,

Vom goldnen Pfeil, zerronnen ist dein Traum.

Wie grausam du es auch mit mir geschickt,

Seist du zu guter Letzte doch geschmückt!

Ach, mit dem Schönsten, was Thereile hat,

Bekränzet sie der Liebe Leichenstatt:

Ihr süßen Haargeflechte, glänzend reich,

Mit dieser Schärfe langsam lös ich euch

Umwickelt sanft die Wunde dort am Stamm!

Noch quillt die Sehnsucht nach dem Bräutigam.

Mit euch verwese Liebeslust und Leiden

Auf solche will ich keine neuen Freuden!

Und du, verwünschtes, mördrisches Geschoß,

Um das die Träne schon zu häufig floß,

Mein Liebling hat dich wohl zuletzt berührt,

So nimm den Kuß, ach, der dir nicht gebührt!

Und nun, ihr kleinen Schwestern, macht ein Grab,

Und berget Stamm und Zweige tief hinab.

Seid ohne Furcht, und wenn ich sonsten gar

Zu hart und ungestüm und mürrisch war –

Von heute an, geliebte Kinder mein,

Wird euch Thereile hold und freundlich sein.


Ab.

Vierzehnte Szene

Morgen.


Mummelsee. König steht auf einem Felsen überm See.


KÖNIG.


»Ein Mensch lebt seiner Jahre Zahl,

Ulmon allein wird sehen

Den Sommer kommen und gehen

Zehnhundertmal.


Einst eine schwarze Weide blüht,

Ein Kindlein muß sie fällen,[126]

Dann rauschen die Todeswellen,

Drin Ulmons Herz verglüht.


Auf Weylas Mondenstrahl

Sich Ulmon soll erheben,

Sein Götterleib dann schweben

Zum blauen Saal.«


So kam es und so wird es kommen. Rasch

Vollendet sich der Götter Wille nun.

Noch einmal tiefaufatmend in der Luft,

Die mich so lang genährt, ruf ich mein Letztes

Der Erde zu, der Sonne und euch Wassern,

Die ihr dies Land umgebet und erfüllt.

Doch du, verschwiegner See, empfängst den Leib,

Und wie du grundlos, unterirdisch, dich

Dem weiten Meer verbindest, so wirst du

Mich flutend führen ins Unendliche,

Mein Geist wird bei den Göttern sein; ich darf

Mit Weyla teilen bald das ros'ge Licht.

Gehab dich wohl, du wunderbare Insel!

Von diesem Tage lieb ich dich; so laß

Mich kindlich deinen Boden küssen; zwar

Kenn ich dich wenig als mein Vaterland,

So stumpf, so blind gemacht durch lange Jahre

Kenn ich nicht meine Wiege mehr; gleichviel,

Du warst zum wenigsten Stiefmutter mir,

Ich bin dein treustes Kind – Leb wohl, Orplid!

Wie wird mir frei und leicht! wie gleitet mir

Die alte Last der Jahre von dem Rücken!

O Zeit, blutsaugendes Gespenst!

Hast du mich endlich satt? so ekelsatt

Wie ich dich habe? Ist es möglich? ist

Das Ende nun vorhanden? Freudeschauer

Zuckt durch die Brust! Und soll ich's fassen das?

Und schwindelt nicht das Auge meines Geistes

Noch stets hinunter in den jähen Trichter

Der Zeit? – Zeit, was heißt dieses Wort?

Ein hohles Wort, das ich um nichts gehaßt;

Unschuldig ist die Zeit; sie tat mir nichts.

Sie wirft die Larve ab und steht auf einmal

Als Ewigkeit vor mir, dem Staunenden.[127]

Wie neugeboren sieht der müde Wandrer

Am Ziele sich.

Er blickt noch rückwärts auf die leidenvoll

Durchlaufne Bahn; er sieht die hohen Berge

Fern hinter sich, voll Wehmut läßt er sie,

Die stummen Zeugen seines bittern Gangs:

Und so hat meine Seele jetzo Schmerz

Und Heiterkeit zugleich. Ha! fühl ich mir

Nicht plötzlich Kräfte gnug, aufs neu den Kreis

Des schwülen Daseins zu durchrennen – Wie?

Was sagt ich da? Nein! Nein! o gütge Götter,

Hört nimmer, was ich nur im Wahnsinn sprach!

Laßt sterben mich! O sterben, sterben! Nehmt,

Reißt mich dahin! Du Gott der Nacht, kommst du?

Was rauscht der See? was locken mich die Wellen –

Was für ein Bild? Ulmon, erkennst du dich?

Fahr hin! Du bist ein Gott! ...


(Bei den letzten Worten stieg Silpelitt in der Mitte des Sees mit einem großen Spiegel hervor, den sie ihm entgegenhielt. Wie der König sich im Bildnis als

Knaben und dann als gekrönten Fürsten erblickt, stürzt er unmächtig vom Felsen und versinkt im See.)


Das Spiel war beendigt. Das Pianoforte machte nach einigen erhebenden Triumphpassagen zuletzt einen wehmütig beruhigenden Schluß, der den übriggebliebenen Eindruck vom Grame Thereilens mild verklingen lassen sollte. Die Gesellschaft erhob sich unter sehr geteilten Empfindungen. Einige, besonders die Männer, klatschten den herzlichsten Beifall, drei oder vier Gesichter sahen zweifelhaft aus und erwartungsvoll, was andere urteilen würden. Schon während der Vorstellung war hin und wieder ein befremdetes, deutelndes Flüstern entstanden, jetzt schienen ein paar hochweise unglückverkündende Frauennasen nur auf Constanzens Miene und Äußerung gespannt, aber sie zogen sich eilig wieder ein, als die liebenswürdige Frau ganz munter und arglos, bald dem Schauspieler, bald Theobalden das ungeheucheltste Lob erteilte, wobei die Mehrzahl der Männer und Damen fröhlich mit einstimmte Endlich konnten die Bedenklichen sich doch der bescheidenen Frage nicht enthalten, ob nicht irgend etwas Politisches, Satirisches, Persönliches dem[128] Stücke zugrunde liege? irgendein versteckter Sinn? denn für das, was es nur obenhin an Poesie prätendiere, könne man es doch nicht einzig nehmen.

»Und warum denn nicht, meine Gnädigste?« fragte Larkens die Hofdame, indem er jenes schneidend scharfe Gesicht zeigte, das einem durch die Seele ging.

»Weil – weil – ich meinte nur –«

»Aber wie? wenn ich Sie alles Meinens und Vermutens überhebe, wenn ich Sie versichere, es ist ein reines Kindermärchen, womit ich Sie zu unterhalten wagte? Doch Sie vermissen die Pointe dabei – ja, so ist der Dichter eben ein ruinierter Mann!«

»Er mag nur sorgen, daß er kein solcher wird, wenn man die Pointe wirklich herausgefunden haben sollte«, raunte der Baron von Vesten einem Geheimenrat ins Ohr und zog ihn beiseite »merken Sie denn nicht, daß das Ganze ein Pasquill auf unsern verewigten König und seine Geschichte mit der Fürstin Viktorie ist?«

»Was sagen Sie? Ja, wahrlich, jetzt geht mir ein Licht auf! Mir deucht, die Figur im Schauspiel hatte Ähnlichkeit mit den Zügen des Höchstseligen –«

»Allerdings! allerdings! nun? ist das aber nicht ein ungeziemender Spaß? ist es nicht impertinent von diesem Larkens? aber ich hielt ihn von jeher für einen maliziösen Menschen.«

»Fein und edel wär's auf keinen Fall, ich muß sagen, wenn es sich wirklich so verhielte. Denn, was man auch behaupten mag, der Verewigte war doch ein geistreicher, vortrefflicher Mann. Es ist seine Schuld nicht, daß er in der Folge krank und elend wurde, daß er zum Verdruß gewisser Patrioten ein übermäßiges Alter erreichte, daß ihn die Fürstin – nun! könnten wir uns aber nicht etwa täuschen, wenn wir diese Beziehungen –«

»Täuschen? täuschen? Gerechter Gott! Sind Sie blind, Exzellenz? Stieß ich denn nicht nach dem zweiten Auftritt gleich meine Frau an? und fiel es ihr nicht auch plötzlich auf? Treffen nicht die meisten Umstände zu? Daß der Vogel sich dann wieder hinter andere unwesentliche Züge versteckte, das hat er schlau genug gemacht, aber er mag sich wahren; es gibt Leute, die die Lunte riechen, und ich tue mir in der Tat etwas darauf zugute, daß ich die Bemerkung zuerst gemacht.«

»Jedoch, nur das noch, Baron! mir deuchte doch, der alte Narr in der Piece da, er benimmt sich, wenigstens der Absicht[129] des Poeten nach, immer recht nobel, besonders vis-à-vis der Hexe oder was es ist, und es widerfährt ihm, wie mir's vorkam, zuletzt noch gleichsam göttliche Ehre.«

»Spott! Spott! lauter infame Ironie! ich will mich lebendig verbrennen lassen, wenn es was anders ist.« »Und wie gemein mitunter«, lispelte die bleichsüchtige Tochter Vestins, hinzutretend, »wie pöbelhaft!«

Die übrigen hatten sich inzwischen wieder in das vordere Zimmer begeben. Man unterhielt sich noch eine Weile über das sonderbare Stück, allein bald stockte das Gespräch ein vorsichtiges Ansichhalten, eine gewisse Verlegenheit teilte sich auch dem Unbefangensten mit, es glaubten endlich mehrere, es müsse jemand aus der Gesellschaft beleidigt worden sein, und man sah einander lauschend an. Wer sich allein nicht irremachen ließ, das war die schöne Wirtin des Hauses, und dann Larkens selbst, welcher nur desto mehr schwatzte, lachte, dem Wein zusprach, je kälter das Benehmen der übrigen war, das er im stillen gutmütig mehr nur als eine verzeihliche Gleichgültigkeit gegen sein fremdartiges Produkt, denn als Spannung auslegte.

Da es übrigens schon spät war, ging man in kurzem auseinander. Constanze beehrte den verkannten Schauspieler noch auf der Schwelle mit der Bitte, sein Manuskript zu nochmaliger Erbauung dagelassen zu dürfen, und Freund Nolten bekam eine, wie ihm schien, ungewöhnlich freundliche »Gute Nacht« mit auf den Weg.


Im Heimgehen machte Theobald seinen Begleiter auf jene Störung aufmerksam. »Gott weiß«, antwortete Larkens, »was die Fratzen im Kopfe hatten! Am Ende war's nur Unbeholfenheit, was sie zu dem exotischen Ding sagen sollten; wären wir doch lieber damit zu Hause geblieben oder hätten ihnen eine gutbürgerliche Komödie gegeben – Ei aber ein verdammter Streich müßt es doch sein, wenn sie eine Neckerei mit der alten Majestät darunter suchten!«

»Das fürcht ich«, erwiderte Nolten, »und riet ich dir nicht damals schon, wie du mich mit der Sache bekannt machtest, es lieber bei dir zu behalten, weil für keine Mißdeutung zu stehen sei? Es war vorauszusehen. Denn daß dir der alte Nikolaus und die Mätresse bei der ganzen Komposition vorgeschwebt, gestehst du selber und hat sich heute nur zu sehr gerechtfertigt –«[130]

»Zumal«, unterbrach der andere ihn mit Gelächter, »zumal, wenn es wahr sein sollte, daß dir selbst der Teufel auch einigemal in den Pinsel gefahren ist, weil du, wie du sagtest, den herrlichen Kopf des Alten auf dem Porträt über meinem Schreibtisch länger als rätlich war, ins Auge gefaßt!«

»Leid genug auf alle Fälle sollte mir's sein«, gestand Nolten nach einigem Besinnen, »man weiß nicht, wie so was umkommt und sich in der Leute Mund verunstaltet.«

»Was da!« rief der andere, »wer wird so abgeschmackt sein und etwas Böses da herauskombinieren wollen? weißt du mir was Tolleres? Gar zu klein fänd ich es schon, wenn diese Kreaturen, die sich Gebildete nennen, überhaupt einem fremden Gedanken dabei Raum geben und über das Poetische der schlichten Fabel hinausgehen konnten. Aber das ist ganz in der Art eines schöngeistigen Klubs, das weiß man ja lange. Lassen wir's halt gut sein; werden uns den Prozeß nicht machen.«

So kamen die beiden in ihrer Wohnung an. Theobald, ganz nur in der heimlich entzückten Erinnerung an die Güte der Geliebten schwelgend, ließ sich den ärgerlichen Gegenstand wenig anfechten, er freute sich auf die Stille seines Zimmers, wo er ungestört mit seinem Herzen weiterreden konnte. Larkens pfiff wie gewöhnlich, wenn er bei der Nachhausekunft den Schlüssel in die Türe steckte, seine fröhliche Arie, und so überließ sich denn jeder sich selber.

Dem Leser aber mag zum Verständnisse des Obigen Folgendes dienen.

Der seit etwa zwei Jahren mit Tod abgegangene König Nikolaus, Vater und Vorfahrer des regierenden, galt bis in sein späteres Alter für einen ausnehmend schönen und auch sonst sehr begabten Mann. Er hatte mit einer ungleich jüngeren Dame aus einem anverwandten Fürstenhause ein zärtliches Verhältnis, das die letztere mit einiger Aufdringlichkeit und – so glaubte man – aus eigennützigen, politischen Absichten auch dann noch fortzusetzen wußte, als der Monarch für die Reize der Jugend bereits abgestorben sein sollte, oder ihnen auch wirklich schon entsagt hatte. Aber Schwäche des Charakters, oder eine Verbindlichkeit, der er nicht ausweichen konnte, machten ihn gegen die Zauberin nachgiebiger, als wohl seinem Rufe dienlich war. Eine beschwerliche Nervenkrankheit, aber mehr noch die Sorge, er genüge als Regent seinem Volke nimmer, verbitterte ihm vollends das Leben, er sehnte sich mit einer Ungeduld, deren[131] Ausbrüche oft schauerlich gewesen sein sollen, dem Tod entgegen, und man wollte wissen, daß er einen mißlungenen Versuch zum Selbstmorde gemacht. Bekannt genug war die Anekdote, wonach er einst in einem Anfall von Verzweiflung bitter scherzend ausgerufen. »Der Himmel will einen neuen Methusalah aus mir haben, und Viktorie zerrt mich mit Gewalt in die Jünglingsjahre zurück.« Diese Worte klangen um so komischer, je mehr man der boshaften Meinung einiger Spötter trauen wollte, daß die schneeweißen Locken Seiner Majestät sich noch immer nicht ungerne von den Rosen der jungen Fürstin schmeicheln ließen. Wie dem auch gewesen sein mag – unter denjenigen, welchen das Gedächtnis dieses merkwürdigen, früher sehr wohltätigen Regenten höchst ehrwürdig, ja heilig blieb, war auch unser Larkens, und zwar abgesehen von der persönlichen Gunst des Königs gegen ihn als Schauspieler, war Nikolaus in seinen Augen ein großartiges tragisches Rätsel der Menschennatur, eine mächtige graue Trümmer an dem uralten Königspalast. Geschmäht von dem Geschmacke einer frivolen Zeit, angestaunt von wenigen edleren Geistern, hätte sich die herrliche Säule, wie sie bereits mit halbem Leibe schon in die Erde eingesunken war, gramvoll lieber vollends unter den Boden verborgen mit ihren für dieses Geschlecht unlesbar gewordenen Chiffern, aber es war anders mit ihr beschlossen, und so konnte oder wollte sie auch den Trost nicht von sich abwehren, daß ein jugendlicher Efeu sich liebevoll an ihr hinanschlinge.

Zu entschuldigen ist es nun, wenn der Freund einen Teil jener Idee mit frommem Sinne auf ein Gebilde seiner Phantasie übertrug, und gewissermaßen eine Apotheose jenes unglücklichen Fürsten liefern wollte, ohne weder zu hoffen noch zu fürchten, daß andere, denen er seinen Versuch vorgeführt, auch nur entfernterweise geneigt sein könnten, irgendeine – würdige oder unwürdige – Deutung zu machen.


Es war eine überaus klare und schöne Winternacht. Die Glocke schlug soeben eilf. Im Zarlinschen Hause war alles schon stille geworden, nur das Schlafzimmer der Gräfin finden wir noch erhellt. Constanze, im weißen Nachtgewande, allein vor einem Tischchen bei dem Bette sitzend, ist beschäftigt, die schönen Haare loszuwickeln, das Ohrgehänge und die schmale Perlschnur abzulegen, die ihrem Halse immer so ein fach reizend gestanden. Sie hob die Schnur nachdenklich spielend am kleinen[132] Finger gegen das Licht, und wenn wir recht auf ihrer Stirne lesen, so ist es Theobald, an den sie gegenwärtig denkt. Scheint es doch, als wüßte sie, daß sie ihm diese Gabe verdanke, daß das Geschenk nur vermittelst eines künstlichen Umwegs aus seiner Hand durch eine dritte in die ihre gelangt war! – aber, in der Tat, sie wußte es nicht; und doch wiederholte sie sich heute nicht zum erstenmal jene Worte, die er einst, im Anschaun ihrer Gestalt verloren, gegen sie hatte fallenlassen. »Perlen«, sagte er, »haben von jeher etwas eigen Sinn – und Gedankenvolles in ihrem Wesen für mich gehabt, und wahrlich, diese hier hängen um diesen Hals, wie eine Reihe verkörperter Gedanken, aus einer trüben Seele hervorgequollen. Ich wollte, daß ich es hätte sein dürfen, der das Glück hatte, Ihnen das Andenken umzuknüpfen. Es liegt ein natürliches unschuldiges Vergnügen darin, zu wissen, daß eine Person, die wir verehren, der wir stets nahe sein möchten, irgendeine Kleinigkeit von uns bei sich trage, wodurch unser Bild sich ihr vergegenwärtigen muß. Warum dürfen doch Freunde, warum dürfen entferntere Bekannte sich einander nicht allemal in diesem Sinne beschenken? muß das edlere Gefühl überall der Konvenienz weichen?«

Constanze erinnerte sich gar wohl, wie sie damals errötete, und was sie scherzhaft zur Antwort gab. Ach, seufzte sie jetzt vor sich hin, wüßte er, wie tief ich sein Bild im Innersten des Herzens bewahre, er würde den Geber dieser armen Zierde nicht beneiden.

Unruhig stand sie auf, unruhig trat sie ans Fenster und ließ den herrlich erleuchteten Himmel mit aller seiner Ahnung, mit all seiner Hoheit auf ihre Seele wirken. Die Liebe zu jenem Manne, von ihren ersten unmerklichen Pulsen bis zu dem bestürzten Zustande des völligen Bewußtseins, von der Zeit an, wo ihr Gefühl bereits zur Sehnsucht, zum Verlangen ward, bis zu dem Gipfel der mächtigsten Leidenschaft – alles durchlief sie in Gedanken wieder und alles schien ihr unbegreiflich. Sie sah unter leisem Kopfschütteln, mit schauderndem Lächeln in die reizende Kluft des Schicksals hinab. Die Augen traten ihr über wie damals in der Grotte, wo die noch getrennten Elemente ihrer Liebe, durch Noltens unwiderstehliche Glut aufgereizt, zum erstenmal in volle süße Gärung überschlugen und alle Sinne umhüllten. Sie hatte nichts zu beweinen, nichts zu bereuen, es waren die Tränen, die dem Menschen so willig kommen, wenn er, sich selbst anschauend, das Haupt geduldig in[133] den Mutterschoß eines allwaltenden Geschicks verbirgt, das die Waage über ihm schweben läßt; er betrachtet sich in solchen Momenten mit einer Art gerührter Selbstachtung, die höhere Bedeutsamkeit einer Lebensepoche macht ihn in seinen eigenen Augen gleichsam zu einem seltenen Pflegekinde der Gottheit, es ist, als fühlte er sich hoch an die Seite seines Genius gehoben.

Lange, lange noch starrte Constanze, stillversunken, einer Bildsäule gleich an die Fensterpfoste angelehnt, hinaus in die schöne Nacht. Jetzt überwältigte sie der Drang ihrer Gefühle; sie sank unwillkürlich auf die Kniee nieder, und indem sie die Hände faltete, wußte sie kaum, was alles in ihrem Innern durcheinanderflutete; und doch, ihr Mund bewegte sich leise zu Worten des brünstigen Dankes, der innigsten Bitten.

Nachdem sie sich wieder erhoben, glaubte sie, der Himmel wolle ihr in der ruhigen Heiterkeit, wovon ihre Seele jetzt wie getragen war, Erhörung ihres Gebets ankündigen. In der Tat, jetzt war sie auch beherzt genug, um endlich nicht länger die Frage abzuweisen: was denn zuletzt von dieser Liebe zu hoffen oder zu fürchten sei? was es mit Theobald, was es mit ihr werden solle? Sie stellte sich aufrichtig alle Verhältnisse vor, sie verschwieg sich keine Bedenken, keine Schwierigkeit, sie wog jegliches gegeneinander ab, und mehr und mehr vertraute sie der Möglichkeit einer ehrenvollen und glücklichen Vereinigung, ja, wenn sie sich genauer prüfte, so fand sie diese Hoffnung längst vorbereitet im Hintergrund ihrer Seele gelegen. Aber nicht allzukühn durfte sie ihr sich überlassen, denn schon der nächste Augenblick wies ihr so manches Hindernis, worunter der Adelstolz der Familie keineswegs das geringste war, in einem strengeren Lichte, als es ihr noch kaum vorher erschien. Es bemächtigte sich ihrer eine nie empfundene Angst; sie wollte sich für heute der Sache ganz entschlagen, sie griff nach einem Buche: umsonst, kein Gedanke wollte haften; Mitternacht war vorüber; sollte sie sich niederlegen, schlafen? Es wäre unmöglich gewesen, so bang, so heiß und unbehaglich wie ihr war.

Ich will Emilien wecken, fiel ihr endlich ein, das Mädchen soll mit mir plaudern. Sie bedachte sich um so weniger, die Gesellschaft des Kammermädchens zu suchen, da zu ihrer Verwunderung wirklich noch der Schein eines Lichtes in dem Erker zu sehen war, wo jene schlief. Sie ging leise über den Gang, öffnete das Kabinett und fand das Mädchen fest eingeschlafen im Bette, daneben das Licht, ausflammend in den Leuchter[134] hinabgesunken. Eine offene Brieftasche und eine Anzahl zerstreuter Blätter lag unter den Händen der Schlafenden. Auf einen Anruf erwachte diese, heftig erschrocken, und ihre erste Bewegung war, schnell Tasche und Papiere zu verbergen, so daß Constanze dadurch aufmerksam gemacht, gelassen fragte: was sie hier gelesen?

»Ach!« war die bebende Antwort, »zürnen Sie nicht, gnädige Frau! es sind alte Briefe, die ich nach langer Zeit einmal wieder vornahm, und darüber muß der Schlaf mich überrascht haben – wieviel Uhr ist es doch?«

»Wieviel?« sagte Constanze, sie scharf ansehend, »ich denke es ist halb – gelogen, was du da sprichst. Laß doch sehen!«

»O bitte, liebste, süße gnädige Frau! ich habe ja gewiß nichts Unrechtes – aber erlassen Sie's mir!«

»Nichts weiter, mein Kind, verlang ich, als einen Blick, mich zu überzeugen.«

So reichte denn Emilie mit Zittern alles hin, indem sie in lautes Weinen ausbrach. Aber Constanze, wie mußte sie erschrecken, als der Anblick der Tasche, als die goldgedruckten Lettern T. N. auf der dunkelblauen Saffiandecke zur Genüge den Eigentümer bezeichneten.

»Wie kommst du zu diesem?« fragte sie, mit Mühe ihre Verlegenheit bergend.

»Drüben«, schluchzte das Mädchen, »wo die Herren heute das Spiel machten, lag die Tasche hinter dem Schattenspielkästchen, ich wollte mir nur die bunten Gläser ein wenig besehen, und da – nun da nahm ich –«

»Hinter dem Kästchen, sagst du?«

»Ja ja, gnädige Frau! ich sage nun die reine Wahrheit, es hälfe mir ja doch nichts mehr, und aufgeschlagen lag sie da, ganz nachlässig, als hätte man sie eben erst gebraucht und dann vergessen; – richtig! die Bleifeder war auch herausgenommen, sie muß noch auf dem Tischchen zu finden sein. Wahrhaftig, wäre nicht alles so offen dagelegen, ich hätte mich nicht unterstanden.«

»Eine Entschuldigung ist das in keinem Falle. Indessen – blieb nichts mehr zurück? Sieh im Bette nach!«

»Sie haben das letzte Papierchen.«

»Ich werde das zu mir nehmen bis morgen. Lösche dein Licht. Gute Nacht!« – Unwillig und ängstlich eilte sie auf ihr Zimmer. Daß das, was sie in Händen hielt, Nolten zugehöre, zweifelte sie keinen Augenblick; auch wie es zu dem Larkensschen[135] Apparate gekommen, erklärte sie sich leicht daher, daß Theobald einmal hinter die Gardine getreten war, um mit irgend etwas auszuhelfen, wobei er vielleicht der Tasche bedurfte. Aber die Möglichkeit, es könnte außer dem Mädchen sonst noch jemand neugierig auf den Inhalt derselben gewesen sein, beunruhigte sie um so stärker, je mehr sie Ursache hatte zu der Vermutung, daß auch ihr Name und damit ein gefährliches Geheimnis darin berührt sein könnte. Diese Rücksicht und vielleicht mitunter ein verzeihliches Interesse des eigenen Herzens bewog sie, zwar mit beklommenem Atem, erst nur einen halben Blick, dann einen ganzen, endlich mehrere und immer gierigere Blicke in die Blätter zu werfen. Aber mitten im wärmsten Zuge riß ihr das Gefühl von etwas Unerlaubtem, Verächtlichen die Tasche wieder aus der Hand. Vor lauter ängstlicher Hast hatte sie bis jetzt nichts Zusammenhängendes lesen können, und sie sagte das ihrem Gewissen zum Troste, während sie, dennoch mit einiger Überwindung, den Schatz beiseite legte Allein plötzlich steigt ihr eine Besorgnis auf, die alles Blut in ihre Wangen jagt. Sie hatte vorhin nur oberflächlich einige Briefe von zarter, unbekannter Schrift gesehen, und, ohne zu wissen warum, an eine Schwester Theobalds dabei gedacht; jetzt meldete sich noch ein ganz anderer Gedanke. Entschlossen kehrte sie zu dem Gegenstande ihres Verdachts zurück und griff einiges Geschriebene heraus, sie las und las, errötend, erblassend; ihr Busen kämpfte mit lauten Schlägen; jetzt entfällt das Papier ihren Fingern, sie sinkt auf das Lager, einer Leiche gleich, keines Lautes, keiner Träne mächtig.

Ein Pochen an der Tür bringt sie endlich zu sich, sie fährt auf, und indem sie verworren umherblickt, lächelt die Arme, wie fragend, ob jenes Entsetzliche ihr bloß im Schlummer begegnet sei, und lächelt wieder, aber wie eine Verzweifelte, da das Blatt auf dem Boden ihr die traurige Wahrheit bezeugt.

Es klopfte von neuem an und eine klägliche Mädchenstimme ließ sich hören: »Nein! ich kann nicht ruhen, ich will erfrieren hier, bis ich sie gesprochen habe, bis sie mir vergeben hat! – Gnädige Frau! Liebe! Gute!«

Da keine Antwort erfolgte, bat es wiederholt im flehentlichsten Tone: »Um Gottes willen, lassen Sie Emilien ein, nur auf zwei Minuten, nur auf zwei Worte! Vergeben Sie mir!«

»Ja, ja doch! geh nur, mein Kind!« erwiderte Constanze kaum hörbar, und das Mädchen schlich getröstet weg, ohne alle[136] Ahnung, welchen Schmerz sie ihrer Herrin bereitet. Wir wagen es nicht, diesen Schmerz zu schildern. Aber wie alles zum Äußersten und Unnatürlichen Gesteigerte sich nicht lange auf dieser Höhe erhält, so fiel alsbald ein unwiderstehlicher tiefer Schlaf über die Erschöpfte her und versenkte sie in ein wohltätiges Vergessen ihres mitleidswerten Zustandes.

Ebenso ruhig und gelassen wie vor einer Stunde, da der Blick der Sterne das Gebet einer Glücklichen zu segnen schien, funkelten sie jetzt auf das Lager des unglücklichsten Weibes herab. So rasch kann sich an die höchste irdische Wonne das Dasein unübersehbaren Jammers drängen.


Noch ehe es vollkommen Tag geworden, erwachte Constanze, und leider schnell genug besann sie sich auf den betäubenden Schlag. Sie bat Gott um Stärkung und Fassung, stand ermattet auf und ordnete mit trockenem Aug die Brieftasche, woraus ihr zum Überflusse noch eine Haarlocke, ohne Zweifel von der unbekannten Briefstellerin, entgegenfiel.

Sie erschien sich selber im Spiegel wie ein verändertes Wesen, das, seitdem etwas Ungeheures mit ihm vorgegangen, gar nicht mehr in die bisherigen Umgebungen, in diese Wände, unter diese Geräte passen wolle, es schien sie alles umher wie einen lange entfernten Gast, ja als eine Abgeschiedene anzublicken, und sie selbst kam sich mit ihrem schwanken Tritt, mit ihrem schmerzverklärten, stillen Gefühl beinahe wie ein erst kurz aus dem Grabe Entlassenes vor, das noch nicht festen Fuß gefaßt und den Eindruck des letzten Todeskrampfes nur nach und nach loswerden kann.

Indessen sie sich langsam ankleidete, wunderte sie selbst ihre Ruhe, die freilich mehr Stumpfheit zu nennen war. Sie eilte aus dem traurigen Gemach und hinüber in die vorderen Zimmer, wo noch niemand war. Bald erschien die Morgensonne in den Fenstern und lud zu Heiterkeit und Leben ein. Gedankenlos schaute Constanze durch die Scheiben, und um nur etwas zu tun, rieb sie die Meubles mit dem Staubtuch ab, wobei sie manchmal zerstreut innehielt. – Emilie trat herein, voll Erstaunen, ihre Gebieterin schon hier zu treffen. »Ich habe dir dein Geschäft abgenommen!« sagte die Gräfin freundlich, »siehst du, zum Zeichen, daß ich wieder gut bin. Aber den Gefallen tu mir und rede kein Wort weiter darüber.« Ein warmer Handkuß dankte der Gütigen.[137]

Sehr willkommen war es der sonderbar gestimmten Frau, als jetzt auch ihr Bruder erschien. »Guten Tag, mein Schwesterchen! So früh wie der Vogel schon auf? Die Sorge um das Gewächshaus trieb mich aus den Federn; das war eine grimmkalte Nacht, mein Thermometer zeigt fast fünfundzwanzig; ich muß nur nachsehen, ob unten nichts gelitten hat.« »Ich darf dich begleiten!« sagte die Gräfin und warf die Saloppe um. Ihr Wesen, erzwungen munter und verstört, machte den Bruder einen Augenblick stutzig, aber er hatte fast keine Augen vor lauter Erwartung, wie es im Garten stehe.

Die streng frische Luft tat Constanzen wohl. In gereizten Stimmungen, wie die ihrige jetzt war, hat der Mensch auf einige Sekunden vielleicht die höchste Empfänglichkeit für die Natur, in welcher Gestalt sie ihm auch entgegentreten mag; er möchte mit einem Sprung sich ganz nur ihrer Freundschaft, ihres göttlich stillen Lebens bemächtigen, um auf einmal eine Last von alten Zuständen abzuwerfen und zu vergessen. Aber dieses schnell aufflackernde Gefühl ist nur der Sonnenblick, dem alsbald wieder die vorige Wolkentrübe folgt. Constanze erwehrte sich so gut wie möglich. Doch als der Graf zu seiner größten Freude die Gewächse meist unverletzt fand, und bei jedem neuen Stocke bemüht war, die Schwester von seinem Glück zu überzeugen, da konnte sie den wehmütigen Gedanken nicht bei sich unterdrücken: wie war mir zumute in der Stunde, als diesen Pflanzen, diesen edlen Stämmchen der Frost das Verderben drohte? Sie grünen noch und blühen, wie auch ich noch aufrecht stehe, mir selber zum Wunder; aber vielleicht der innerste Lebenskeim dieser zarten Staude ist doch angegriffen, es wird sich zeigen, ob sie uns nicht mit dem bloßen Scheine von Gesundheit täuscht, ob nicht heute abend schon diese Knospe erstorben dahängt, und – –

Constanzens künstliche Fassung war weg, sie eilte, ihr Gesicht bedeckend, mit schnellen Schritten nach dem Hause zu. Bei dem Wiedersehen ihres Zimmers, dessen Türe sie sogleich hinter sich zuriegelte, brach aller verhaltene Schmerz mit doppelter und dreifacher Gewalt hervor, und sie überließ sich ihm ohne Schonung. Nun erst überdachte sie, was geschehen war, nun erst wagte sie ganz in den Abgrund ihres Elends hinabzutauchen. Wie begierig auch ihr Verstand mitunter nach einer Auskunft, nach einem Troste umhertastete, wie scharfsinnig auch selbst die Verzweiflung noch war, um einen erträglichen[138] Zusammenhang der Sache zu entdecken, um den ungeheuren Widerspruch, worin Nolten in dem Doppelverhältnis zu ihr und einer Unbekannten erschien, beruhigend zu lösen oder doch zu erklären, sie fand keinen Ausweg, keinen Schimmer von Licht. Verglich sie alles dasjenige, wodurch er ihr die unzweideutigste Leidenschaft an den Tag gelegt, mit den fremden Briefen, deren ganzer Ausdruck ein längst begründetes und sehr blühendes Verlobtenverhältnis verriet, so blieb nichts übrig als Theobalden für den ruchlosesten Heuchler zu erkennen, der zwei Geschöpfe zugleich betrog, oder für einen Wahnsinnigen, Charakterlosen, welcher mit sich selber in unerhörtem Zwiespalte lebt. Beides aber ist mit der ganzen Art und Weise, wie Nolten sonst sich gab, schlechterdings nicht zu reimen. Denn selbst die Spuren exzentrischen Wesens an ihm waren bei weitem gemäßigter, als sie zuweilen sogar an geachteten Männern von verwandtem Talente und Bestreben hervorzutreten pflegen. Am wenigsten konnte Constanze die Güte seines Herzens aufgeben. Jeder einzelne Moment, den sie sich zurückrief und worin sie in die Falten seines eigensten Denkens und Empfindens geblickt zu haben glaubte, so mancher Anlaß, wo in wenigen treffend ausgesprochenen Worten über Leben, über Kunst, ein gedrungener Strahl seines Gemüts aufgestiegen war und auf eine ganze Versammlung anregend wirkte, endlich der ganze erschöpfende Begriff, den sie sich nach so langem Umgange von ihm abgezogen hatte – alles stritt mit dem finstern, unheimlichen Zerrbilde, das vielleicht ein blinder Zufall ihr aufdringen wollte, sie zu schrecken, zu ängstigen, und worüber der Geliebte, der wahre unverfälschte, wohl selbst verwundert lächeln würde. Ein Funke von Hoffnung beschleicht sie, sie schaut aufs neue nach dem Datum der Briefe, sie rechnet schnell Monate, Wochen, Tage, aber das Resultat ist immer nicht tröstlich, immerhin fällt ein Teil der zärtlichen Korrespondenz in die Zeit, wo Theobald Constanzen bereits unverkennbare Zeichen seiner Absichten gegeben. Und gesetzt auch, die Neigung, wovon jene Briefe zeugen, wäre bloß eine einseitige – was jedoch den Anschein gar nicht hat –, gesetzt, Nolten hätte, den Glauben des Mädchens hinhaltend, sich indessen heimlich einer unglaublichen Veränderung schuldig gemacht, was würde das Constanzen helfen? was hätte sie von einem solchen Manne zu gewarten? wie möchte sie ein anderes Geschöpf um seine teuersten Hoffnungen bestehlen? und ein Geschöpf, das sie wirklich[139] nicht hassen konnte, das allem nach das rührendste Bild der Unschuld, der hingebenden Liebe ist? ja, wie konnte ihr die heißeste Liebe Theobalds nur im entfernten noch schmeicheln, wenn diese der sündige Raub an einem fremden guten Wesen wäre?

Aber noch immer war ja die Frage nicht überwunden, wie nur Nolten eines so beispiellosen Betrugs fähig sein konnte?

Constanzens Auge stand weit, groß, nachdenkend in einen Winkel des Zimmers gerichtet, während ihr Geist sich nach und nach den unglückseligen Gedanken zurechtarbeitete: es könne denn doch wohl einen Menschen geben, der aus Schwäche, frevelhafter Selbstsucht und gelegentlich aus einem Rest ursprünglicher Gutmütigkeit zusammengesetzt, vor andern, wie zum Teil auch vor sich selber, einen Schein von Vortrefflichkeit zu erhalten und vor dem eigenen Gewissen jede Untat zu rechtfertigen wisse, es lasse sich ein Grad von Verstellung denken, der alle gewöhnlichen Begriffe übersteige. Der genaue Umgang Theobalds mit Larkens, so wenig sie dem letztern bis jetzt mißtraut hatte, konnte sie nun, wenn sie sich der Meinungen anderer erinnerte, in ihrem Urteile nur bestärken, und sie glaubte in ihm den Verführer entdeckt zu haben.

Teilnehmend blickte sie aufs neue nach den Briefen Agnesens, sie enthielt sich nicht, den reinen harmonischen Sinn zu bewundern, welcher sich in jedem Worte des Mädchens aussprach. »Arme Agnes!« sagte sie, »armes betrogenes Kind! Ist es möglich? sollte er sich nicht der Sünde gefürchtet haben, diese Seele zu hintergehen, wenn er sie auch nur so weit kennengelernt hatte, als ich sie aus diesen Blättern kennenlernte? Gütiger Gott! solch ein Lamm und solch eine Schlange, wie kommen sie zusammen? Mich hat Gottes Finger noch zu rechter Zeit gewarnt, aber sie – tue ich recht, wenn ich sie ihrem Schicksal überlasse? ist's nun nicht an mir, zu warnen? Ja, wahrlich, das kommt mir zu – – Und doch, es könnte übereilt sein; wer weiß, ob ich Schlimmes nicht schlimmer machte, ob der Verräter, wenn der Himmel ihn noch retten will, nicht einzig durch die Liebe dieses Engels zu retten ist?«

Der letzte Zweifel über die Gesinnungen Noltens verschwand vollends, als ein Dokument von seiner eigenen Hand zum Vorschein kam – das Konzept eines Schreibens an die Braut, das erst gestern entworfen worden war. Mit einem tiefen Gefühle von Unwillen, von Wehmut, von Verachtung, ja von Schauder[140] vernahm sie hier die Sprache der beredtesten Liebe und einen sehr redlichen, männlich klingenden Ton. Eine Stelle aber war ihr besonders merkwürdig. »Ich befand mich«, hieß es, »diese letzte Zeit her in einem vielleicht nicht ganz löblichen Rausche von Zerstreuungen aller Art, wobei denn die geistige Gestalt meiner Agnes doch immer aufs lebendigste durchblickte. Ja, ich darf dir wohl gestehen, daß ich seit der glücklichen Beilegung jenes argwöhnischen Skrupels mit doppelter Innigkeit in dir lebe.«

Die Äußerung sah fast aus wie ein verstecktes Geständnis seiner Herzensverirrung, das ihm vielleicht sein Gewissen notdürftig abgedrungen. Diese Verirrung selbst konnte nunmehr in Constanzens Augen, wenn auch keinen Entschuldigungsgrund, doch eine Art Erklärung für Noltens Betragen abgeben, wenn sie annahm, daß das Mißverständnis, wovon sie auch in einem Briefe Agnesens eine Spur gefunden, der Anlaß zu einer heftigen und nachhaltigen Verstimmung für Theobald geworden, daß er, seinem extremen Charakter nicht ungemäß, sich in einen desperaten Wechsel gestürzt habe, und daß sie als das Opfer dienen müssen. Seine Bekehrung war natürlich in die Zeit zwischen gestern und jener Lustpartie gefallen, und allem nach unterzog er sich ihr sehr willig.

Soviel Wahrscheinliches diese Schlüsse hatten, und sosehr sie auch geeignet schienen, ein wenigstens erträgliches Licht auf Noltens Benehmen zu werfen, so wenig Trost gaben sie der schönen Frau. Denn von dem Augenblicke an, wo ihre Achtung für ihn sich einigermaßen erholte, begann auch ihre Liebe wieder zu atmen, und nun war sie fast übler daran, als solange sie ihn getrost verabscheuen konnte. Also Noltens Glück war wiederhergestellt, das Mädchen selig in seinem Besitz und – sie selbst hatte nur auf eine kurze Zeit die Lücke gebüßt, um jetzt wieder allein, verlassen, vergessen dazustehen, den bittern Stachel im Herzen. Eine Regung von Zorn flammte in ihr auf, sie fühlte ihre weibliche Würde beleidigt, mit Füßen getreten, sie fühlte alle Qual verschmähter Liebe. Und hatte sie vorhin einen reinen Zug schwesterlicher Neigung zu Agnes empfunden, so konnte sie nun einer Anwandlung von schmerzlicher Mißgunst nicht widerstehen, so lebhaft sie sich auch darüber anklagte. Aber auch indem es ihr gelang, allen Groll von der Unschuldigen ab und auf den geliebten Überläufer zu werfen – es blieb nur das Bewußtsein ihrer Unmacht, ihrer Kränkung[141] übrig. Jede Erinnerung an das Vergangene, das kleinste Zeichen, womit sie ihm ihre Gunst verraten haben mochte, versetzte jetzt ihrem Stolze, ihrem Ehrgefühle Stich auf Stich. Noch gestern beim Abschied unter der Türe hatte sie ihn mit bedeutungsvoller Freundlichkeit entlassen und – so kam es ihr jetzt vor – ihm beliebte kaum ein kalter Dank darauf. Am meisten demütigte und beschämte sie der Auftritt in der Grotte, sie bedeckte bei diesem Gedanken ihr glühendes Gesicht mit dem Tuche, weinend und schluchzend.

Kein Wunder, wenn ihr jetzt die kläglichen Worte Thereilens aus dem gestrigen Schauspiele einkamen, das gleichsam weissagend von ihr gesprochen; kein Wunder, gab sie auf einen Augenblick dem widersinnigen Gedanken Raum, als hätte Larkens einigemal eine boshafte Anspielung auf sie im Sinne gehabt. Aber ganz ist ihr gegenwärtiger Zustand durch die leidenschaftlichen Zeilen bezeichnet:


O armer Zorn!

Noch ärmere Liebe!

Zornwut und Liebe

Verzweifelnd aneinandergehetzt

Beiden das Auge voll Tränen,

Und Mitleid dazwischen,

Ein flehendes Kind!


Desselben Morgens gegen zehn Uhr, als Larkens eben von einem Ausgange nach Hause kam, übergab sein Bedienter ihm das braune Kästchen, das die Laterna magica verwahrte; man habe es vor einer Viertelstunde aus dem Zarlinschen Hause hiehergebracht nebst dem Danke der gnädigen Frau. Unser Schauspieler öffnete den Deckel, zog begierig die zuoberst liegende Brieftasche heraus, untersuchte sie von allen Seiten und sein Mund verzog sich zu einem vergnügten, doch gewissermaßen befremdeten Lächeln, indem er ausrief: »Beim Himmel! die Falle hat gelockt, der Speck ist angebissen, und das wacker! kein Zettelchen blieb unverrückt. Ich sorge nur, der Spaß ist in plumpere Hände geraten, als ich gewollt hatte. Sei's drum; durch die Finger von Madame ist die Tasche auf jeden Fall auch gekommen, und ich müßte mich übel auf Evas Geschlecht verstehen, wenn diese Finger mehr Diskretion gehabt hätten,[142] als mir für den Kasus lieb wäre. Genug; es wird sich zeigen, die Wirkung kann nicht ausbleiben. Diesmal hättest du fürwahr meisterlich kalkuliert, Bruder Larkens, der Herr gebe seinen Segen dazu.«

Wirklich war es die Absicht des Freundes gewesen, daß Constanze die Tasche finden und sich ihrer Geheimnisse nicht enthalten möge; er konnte darauf zählen, daß man sie für das Eigentum Noltens erkennen würde, in der Tat aber war sie nur ein Geschenk, das dieser dem Freunde zu der Zeit gemacht hatte, wo er alles, was ihn an Agnes erinnern konnte, Briefe, Haare und hundert andere Kleinigkeiten, auf immer loswerden wollte.

Larkens hoffte durch jenen ausgedachten, wohlgemeinten Streich teils bei der Gräfin jeder möglichen Neigung gegen Theobald vorzubeugen, teils glaubte er, sie müßte von nun an, eingedenk des Verhältnisses mit Agnes, durch ihr Betragen unzugänglich für Nolten selber werden. Nun hatte zwar Larkens, zufolge der mißtrauischen Verschlossenheit seines Freundes mit der wahren Lage der Dinge unbekannt, sich in seinem Plane etwas geirrt; er hätte, wäre er besser unterrichtet gewesen, vielleicht einen ganz andern Weg eingeschlagen, aber auch auf diesem erreichte er, wie wir gesehen haben, seinen Hauptzweck vollständig, nur freilich auf eine grausamere Art, als er sich vorgestellt hatte. Sehr übereilt und tadelnswert würden wir seine eigenmächtige Handlungsweise nennen müssen, wenn er eine Ahnung von den großen Fortschritten gehabt hätte, welche Theobalds neue Liebe bereits gemacht hatte, weil Larkens jene Rechte der Braut nur auf große Kosten der Ehrlichkeit seines Freundes aufdecken konnte; übereilt und unsicher müßten wir sein einseitiges Verfahren auch insofern schelten, als er ja nicht wissen konnte, ob Nolten, wenn er sich auch bis jetzt noch gegen Constanze zurückgehalten, doch in kurzem nicht vielleicht ihr sein Herz anbieten werde, da er dann notwendig im zweideutigsten Lichte vor ihr erscheinen müßte; allein fürs erste hatte Larkens nicht die mindeste Vermutung davon, wie weit bereits das Verständnis der beiden gediehen war, und fürs zweite, was die Zukunft betrifft, ging er neuerdings ernstlich mit dem Gedanken um, Theobalden die Zeugnisse für Agnesens Unschuld vorzulegen, ihn zu näherer Prüfung der Sache zu vermögen, ihn im Notfall damit zu bedrohen, daß er die Gräfin selbst zur freundschaftlichen Schiedsrichterin darüber aufrufen werde.[143]

Vor allen Dingen widmete er der Frage, inwiefern es geraten sei, Theobalden schon jetzt seine Pflichten für die Verlobte aufzudringen, eine reifliche Überlegung. – Wir überlassen ihn jetzt seinen Gedanken und kehren in das Zarlinsche Haus zurück.

Dort meldete sich des andern Tages gegen Abend ein vornehmer Besuch. Herzog Adolph erschien, und Constanze, in Abwesenheit ihres Bruders, empfing ihn allein. Das ungewöhnlich blasse und verstörte Aussehen der schönen Frau mochte ihm sogleich auffallen, er erkundigte sich auf das angelegentlichste nach ihrem Befinden, ging dann mit einer leichten Wendung auf sein eigenes Anliegen über und erzählte mit sichtbarem Verdrusse, was ihm gestern von einer höchst ärgerlichen Sache bekannt geworden, wobei er bedaure, daß sie gerade in diesem, ihm so höchst schätzbaren, Hause habe vorfallen müssen. Der König, sein Bruder, dessen Ehre dabei beteiligt wäre, sei auf das genaueste davon unterrichtet und aus dessen eigenem Munde habe er es gehört.

Constanze erschrak, erklärte, wie sie zwar an jenem Abende die allgemeine Bewegung der Gesellschaft wahrgenommen, wie auch sie nachher den Grund davon erfahren, wie sie aber an einen solchen Frevel von solchen Männern nicht sogleich habe glauben können. Sie bat, man möge doch wenigstens sie aller Stimme dabei überheben, da Leute von besserer Einsicht, von bedeutenderem Urteil zugegen gewesen. Aber der Herzog gestand, daß der König die vorläufige Ausmittelung der Sache ihm anbefohlen, daß er das Manuskript und was dazugehöre, bereits in Beschlag genommen, daß er aber nach wiederholtem Lesen und genauer Prüfung alles einzelnen noch nicht ganz habe mit sich einig werden können. Er sei zuletzt auf den Einfall geraten, alles von der Entscheidung einer »ebenso scharfsinnigen, als unbefangenen Dame« abhängen zu lassen, und er werde diesfalls auf seiner Bitte beharren, ihrem Ausspruch werde er unbedingt vertrauen. »Freilich«, setzte er mit einem pikanten Akzente hinzu, »freilich, wenn meine getroste Voraussetzung von der gänzlichen Unbefangenheit meiner geliebten Freundin mich denn doch etwas trügte, wenn ihr einer oder der andere von den Beklagten mehr als billig am Herzen läge, dann, meine Gnädige, wäre es wirklich höchst undelikat, trotz Ihrer Weigerung einen gerechten Spruch aus Ihrem Munde zu verlangen.«[144]

Gelassen schaute die Gräfin ihn an und erwiderte: »Beide Männer waren mir sehr viel wert; Sie selbst haben diesen Nolten begünstigt, und schon um Ihretwillen, Adolph, sollte es mir leid sein, wenn Ihnen ein Freund unschuldig gekränkt würde. Was aber jenen Fehler, ich sagte füglich, jenes Verbrechen, betrifft, das man diesen Leuten schuld gibt, so will ich keineswegs der Gerechtigkeit im Wege stehen, nur sie zu befördern bin ich außerstande. Sie selbst können, dünkt mich, doch wohl am besten wissen, was Ihrem Freunde allenfalls zuzutrauen wäre, Sie dürfen von ihm aus dann getrost auf die Gesinnungen des Schauspielers schließen, denn beide sind ja ein Sinn und ein Gedanke. Richten Sie also. Sie waren zwar nicht Zeuge jenes Abends, aber die Dokumente liegen in Ihren Händen, was hätt ich demnach vor Ihnen voraus, das mich zu einem Urteil geschickter machte?«

Der Herzog stand auf, machte einige Schritte und sagte dann im freundlichsten Tone: »Ich tat Ihren Unrecht, meine Liebe! vergeben Sie's. Ich sehe, wir sind beide in einer und derselben Verlegenheit, und wären so ziemlich gleich geneigt, das Ganze zu entschuldigen, wenigstens zum Guten zu wenden. Ich finde nun erst, wie unbillig es von meinem Bruder war, mich in diesen schlimmen Fall zu setzen, wie töricht von mir, den Auftrag anzunehmen. Zwar auch meine Ehre mußte dabei interessiert sein, aber je leidenschaftlicher ich die Sache aufnahm, um so weniger konnt ich hoffen, klar darin zu sehen, und meinem Unwillen hielt auf der andern Seite die Neigung für Nolten kaum das Gleichgewicht, da diese, in der letzten Zeit gar zu lässig von ihm gepflegt, so gut wie eingeschlafen war; um so schlimmer für Noltens Recht, wenn ich ohnehin Ursache hatte, ihm böse zu sein. Bei Ihnen, Beste, spricht ein reines menschliches Gefühl zugunsten des übrigens so braven Künstlerpaares, und ich gestehe Ihnen, auch mich will in Ihrer Nähe die alte Vorliebe für diesen Maler wieder einnehmen, ohne daß Sie noch ein Wort zu seiner Verteidigung vorgebracht – aber vielleicht gerade darum könnt ich ihm verzeihen, weil Sie ihn nicht verteidigen. Könnte ich bei dem Lärm, bei der Erbitterung, die der tolle Vorfall schon bei Hofe veranlaßt hat, ganz ruhig sein, mich vor dem Verdachte der Parteilichkeit bei meinem Bruder sichern, ich möchte die Herren wohl freisprechen und alles zu vertuschen suchen; so aber bin ich der Sorge doch nicht los, und meiner Stellung zu dem guten Maler erwächst aus der[145] dummen Geschichte auf alle Fälle eine bleibende Schwierigkeit. Doch, was beschwere ich Sie mit diesen Unbilden – Lassen Sie uns davon schweigen. Am artigsten wär's«, setzte er scherzend hinzu, »man setzte ein Gericht nieder, bestehend aus einem Archäologen, einem Professor der Ästhetik und einem Advokaten, die sich über das Manuskript und die Bilder hermachen sollten. Nicht wahr, meine Schönste?«

Die wahre Gesinnung des Herzogs und seine schwierige Lage läßt sich übrigens leicht aus folgenden Bemerkungen erkennen.

Weit entfernt von der Torheit, in der fabelhaften Figur jenes tausendjährigen Königs eine ehrenrührige Beziehung zu entdecken, fand er diese Beziehung eher schön und wohlgemeint; dagegen ihm die Ähnlichkeit jener Feenfürstin mit Viktorien um so bedenklicher vorkam. Denn wenn gleich das wahre Verhältnis dieser Person zum verstorbenen Regenten nicht ganz getroffen sein mochte, so war die scheinbarste Seite davon doch so charakteristisch herausgehoben, daß man nicht leugnen konnte, ein sehr frappantes Bild von Viktoriens Erscheinung vor sich zu haben. Die Zeichnung des selbstsüchtigen schalkhaften und doch wieder so innigen Wesens ahmte wirklich die leisesten Nuancen nach. Das alles hätte noch hingehen mögen. Aber diese Dame glänzte noch am Hofe, das Vertrauen, das Nikolaus ihr geschenkt hatte, ward noch vom Sohne geehrt. Insoferne müssen wir jenes Spiel höchst unbedachtsam nennen. Dennoch hätte es vielleicht dem Herzog nicht schwer sein müssen, den möglichen Schaden abzulenken, wäre nicht der König selbst in einer müßigen Stunde auf das verschrieene Manuskript neugierig gewesen. Hier entging ihm denn so manche Verwandtschaft keineswegs, er äußerte sich mit großer Unzufriedenheit über eine so unschickliche Anspielung, namentlich die leichtfertige oder ernste Einführung der bewußten wertgeschätzten Frau empörte ihn als eine unverzeihliche Vermessenheit. Der Herzog besänftigte ihn vorläufig, indem er dieses und jenes noch problematisch darstellte, versprach, das Ganze nochmals genau zu durchgehen, sowie auch nähere Erkundigungen einzuziehen; weil er aber doch ein gerechtes Gefühl des Bruders nicht schlechterdings umgehen und das Zutrauen nicht mißbrauchen wollte, womit dieser ihm die Entscheidung des keineswegs gleichgültigen Gegenstandes überließ, so kam er wirklich mit einer doppelten Pflicht ins Gedränge, er hätte ebensogerne den Maler geschont als dem Bruder Genüge getan; daher denn auch jene[146] Anfrage bei Constanze nichts weniger als bloße Pantomime war, er dachte sie bei dieser Gelegenheit ein wenig zu schrauben, fand aber ein solches Frauenorakel wirklich bequem für seine Unschlüssigkeit, nur glaubte er auf den Fall, daß die Geschichte Rumor machen könnte, aus Diskretion gegen Viktorie den eigentlichen Grund des Ärgernisses verstecken und mehr das Allgemeine vorkehren zu müssen.

Constanze blickte noch immer ernst vor sich nieder, ohne eine Miene zu ändern. Den Herzog rührte ihr Anblick, worin er von jetzt an wirklich nur die edelste Teilnahme an dem Schicksale zweier Hausfreunde zu lesen glaubte; ihr ganzes Wesen von diesem Kummer leicht beschattet, deuchte ihm nie so reizend, so weich gewesen zu sein. Er setzte sich an ihre Seite und gab dem Gespräch eine andere Richtung, sie ging soviel möglich darauf ein, und der Zwang, den sie sich mitunter dabei antat, machte sie nur immer liebenswürdiger, kindlicher, unwiderstehlicher. Dazu kam die einladende Ruhe dieser Stunde, von zweien auf dem Tische brennenden Kerzen traulich verklärt. Der Herzog ergriff in der Unterhaltung die Hand seiner schweigsamen Nebensitzerin, er ließ die schmeichelhaftesten Vorwürfe gegen sie spielen über die karge Art, womit sie seiner Zärtlichkeit immer entgegne, auch jetzt erfuhr diese noch einigen Widerstand, doch – so schien es dem schlauen Manne – mehr einen anständigen als strenge zurückweisenden Widerstand.

Aber als ihr gepreßter Schmerz, ihre Unruhe, ihr Mißbehagen sich immer weniger verbarg, als der wärmer gewordene Liebhaber aufs neue mißtrauisch werden wollte, bald mit dringenden Worten, bald mit den lebhaftesten Liebkosungen zu einer Erklärung nötigte, da war es seltsam, jammervoll anzusehen, wie die arme Frau ganz außer sich geriet, in dem Augenblick, wo sie von ihrem unseligen Geheimnis aufs höchste bewegt, an die verlorene Liebe doppelt schmerzlich erinnert werden mußte, indem eine andere, bisher verhafte, sich hülfreich stürmisch aufdrang. Jetzt stößt sie den Herzog heftig weg, jetzt gibt sie sich seiner Kühnheit unerhört willig hin, dem bängsten Seufzer, dem heißesten Gusse von Tränen folgt plötzlich ein Lachen, dessen kindische Lieblichkeit, dessen herzlicher Klang unter jeden andern Umständen hätte bezaubernd sein müssen. Der Herzog sah in alle diesem nur den unbeschreiblich rührenden Ausdruck einer bis jetzt verhüllten Leidenschaft für ihn, welche sich endlich verraten und noch im entzückten Momente[147] der ersten Umarmung mit holder Scham und süßer Reue kämpfe, ihn selber jedoch zum seligsten der Men schen mache. Wie ganz anders sah es im Busen Constanzens aus! Oft war es ihr, als säße sie, von einem Dämon, von einem höllischen Wesen umschlungen, in entsetzlicher Unmacht festgebannt; Lust und Unlust empörten sich wechselseitig in ihrem Innern, sie überließ sich seinem Kusse mit einem schneidenden Gefühle von Widerwillen, ja von Ekel, sie empfand es unerträglich, wie elend sie sich verirrt, wie töricht rasend ihre Einbildung sei, als ob sie auf diese Art an jenem Verräter heimlich Rache üben könnte! Er – (so rief, so wimmerte es in ihrer Seele) ja er allein hat es verschuldet, daß Constanze so sich verleugnet, daß ich tue, was ich sonst verabscheut hätte, und doch – wie wird alles werden? wie soll das enden? wohl, wohl – mag es, wie es kann! – Sie rang sich los, drückte den Kopf in die Purpurkissen des Sofa, ihr Schluchzen zerriß dem Herzog das Herz, er berührte sie schüchtern, er bat, er beschwor sie um Fassung; sie möge sich doch besinnen, warum sie denn eigentlich verzweifle, ob das unfreiwillige Bekenntnis einer Neigung, die ihn auf ewig zu einem guten, mit Welt und Himmel glücklich ausgesöhnten Menschen zu machen bestimmt sei, ob die Furcht, daß dieses schöne Verständnis jemals dem rohen Urteil der Menschen bloßgestellt werden könne, ob ein Zweifel an seiner Verschwiegenheit, an seiner Treue, ein Zweifel an seiner Ehrfurcht vor ihrer Tugend sie quäle? »Constanze! Teure! Geliebte! blicken Sie auf! sagen Sie, daß ich für heute, für jetzt, mich entfernen soll, fordern Sie, daß ich Sie mein Leben lang durch nichts, durch kein halbes Wort, mit keiner Miene, keinem leisen Wunsche mehr an diesen Abend mahne! Mir aber darf er unvergeßlich bleiben, so wie jetzt wird auf ewig dieses Zimmer, wird das Licht dieser Kerze und wovon es Zeuge gewesen, vor meiner Erinnerung stehen – o Gott! und so, in dieser traurig abgewendeten Lage muß die Gestalt der edelsten Frau vor mir erscheinen, um allen himmlischen Reiz des vorigen Augenblicks wieder auszulöschen! ich werde vergehen, verzweifeln, wenn Sie sich nicht aufrichten, wenn ich Sie so verlassen muß.«

Er faßte sie schonend an beiden Schultern, und sanft rückwärts gebeugt lehnte sie den Kopf an ihn, so daß die offenen schwimmenden Augen unter seinem Kinne aufblickten. Freundlich gedankenlos schaut sie hinan, freundlich senkt er die Lippen auf die klare Stirne nieder.[148]

Lang unterbrach die atmende Stille nichts. Endlich sagt er heiter: »Ist's nicht ein artig Sprichwort, wenn man bei der eingetretenen Pause eines lange gemütlich fortgesetzten Gesprächs zu sagen pflegt: es geht ein Engel durch die Stube?«

Constanze schüttelte, als wollte sie sagen: der vorige, der gegenwärtige Auftritt habe doch wohl einen so friedsamen Geist nicht herbeilocken können.

Abermals versagt ihm ein weiteres Wort; er sinnt über den Zustand der Gräfin nach, der ihm aufs neue verschiedenes zu bedenken gibt. Nicht ohne Absicht kommt er daher spielend wieder auf Nolten und Larkens zurück. »Nein«, sagt er zuletzt, »es würde mir sehr angenehm sein, wenn Sie, meine Liebe, mir über den bösen Punkt Ihre Ansicht offenbaren wollten. Ganz gewiß sind Sie längst darüber im reinen, zum wenigsten haben Sie eine Meinung. Reden Sie mir, ich bitte recht ernstlich – Halten Sie die beiden für schuldig?«

Die Befragte bedenkt sich eine Weile und sagt mit einer sonderbar zuckenden Bewegung: »Schuldig? – er ist's!«

»Wer doch?«

»Nun, der Nolten –«

»Ich erstaune! – und Larkens?«

»Wohl ebensogut. Ja, mein Herr, darauf verlassen Sie sich.«

»Und sind strafbar?«

»So denk ich.«

»Nun, auf mein Wort! so sollen sie's bereuen.«

Der Herzog stand auf; Constanze blieb wie angefesselt. Er hatte dies strenge Urteil aus Constanzens Munde am wenigsten erwartet, um so gegründeter mußte es sein. Er fragte einiges, was ihre Ansicht näher bestimmen sollte, sie versicherte, nichts weiter zu wissen: er möge sich damit begnügen und auf keinen Fall sie verraten. Nun erst, da er Gewißheit zu haben glaubte, da selbst diese billig denkende Frau von solcher Ungebühr bewegt, entrüstet schien, erwachte Ärger und Verdruß in ihm, er enthielt sich der empfindlichsten Ausdrücke nicht, wiederholt dankte er der Geliebten ihre Aufrichtigkeit, die er als natürliche Folge einer zärtlich aufgeschlossenen Stimmung auslegte. Ihm ahnte nicht, von welchem Aufruhr widersprechender Gefühle die Gräfin innerlich zerrissen war, seitdem sie das Entscheidende ausgesprochen. Wie versteinert vor sich hinstarrend, blieb sie auf einer Stelle sitzen, war mehr als einmal versucht zu Milderung, zu völliger Widerrufung des Gesagten, aber ein[149] unbegreiflich Etwas band ihr die Zunge. Plötzlich hört man den Wagen des Grafen vor dem Haus anrollen, ein eiliger Kuß, ein schmeichelhaft Wort versiegelt von seiten des Herzogs das Geheimnis dieser Stunde.


Ehe wir noch auf die Folgen zu reden kommen, welche diese Vorgänge rasch genug nach sich gezogen, enthalten wir uns nicht, einen allgemeinen Blick auf die Gemüter zu werfen, zwischen denen sich durch die fatalste Verschränkung der Umstände, durch ein doppeltes und dreifaches Mißverständnis eine so ungeheure Kluft gebildet hatte.

Indem unser Maler sich den Aussichten eines unbegrenzten Glückes überläßt, mit jedem Tage der völligen Entscheidung desselben entgegenblickt und soeben beschäftigt ist, der Gräfin seine Wünsche, seine Anerbietungen in einem ruhig besonnenen Briefe frei und edel hinzulegen, spinnt ihm die Liebe selbst durch Constanze ein verräterisches Netz. Der redliche Wille eines Freundes, der im dunkeln seinen Zweck hartnäckig verfolgte ward zum Spiel eines schlimmer oder besser gesinnten Schicksals: die sorgsam aber grillenhaft angelegte Mine, womit Larkens einen gefährlichen Standpunkt der Personen nur leicht auseinanderzusprengen dachte, hat sich tückisch entladen und ist im Begriff, ihrer viere, und darunter ihn selber, mit bitterm Unheil zu treffen, so daß man kaum wüßte, wer von allen am meisten zu bedauern sei, wenn es nicht jenes unschuldige Mädchen ist, um dessen gerechtes Wohl es sich von Anfang an handelte. Aber, scheint Constanze unser Mitleid verscherzt zu haben, seitdem sie sich zu einer heftigen Rache hinreißen ließ und derselben einen falschen Grund unterzuschieben wußte, ja seitdem es den Anschein hat, als wolle sie sich an einen zweideutigen Verehrer wegwerfen, so werden wir doch billig genug sein, uns den Zustand eines weiblichen Herzens zu vergegenwärtigen, das aufs grausamste getäuscht, von der Höhe eines herrlichen Gefühls herabgestürzt, an sich selber, wie an der Menschheit, auf einen Augenblick irrewerden mußte. Was Theobalden selbst betrifft, so sehen wir schon jetzt, wie sich ein zwar sehr verzeihliches, aber dennoch übereiltes Mißtrauen in der Liebe durch ein ganz ähnliches an ihm bestraft, und wir wollen erwarten, ob diese harte Züchtigung mehr zu seinem Unglück oder zu seinem Heile ausschlagen soll.

Die auf Befehl des Herzogs geschehene Konfiskation des verdächtigen[150] Spielkästchens war den Freunden schon kein gutes Zeichen. Larkens geriet in Wut über diesen abgeschmackten Gewaltstreich, wie er's nannte. »Mögen sie sich doch«, rief er dem Maler zu, »die Zähne ausbeißen an diesen armseligen verklecksten Gläsern! und dem ersten Schöpsen, der die Nase in mein argloses Machwerk stecken wird, schlage der Geist des alten Nikolaus nur tüchtig hinters Ohr, zur Erleichterung des kritischen Verständnisses!«

Theobald wollte den Herzog selbst belehren, der Schauspieler gab es nicht zu, indem er behauptete, man müsse dem Pack den Gefallen nicht tun, man müsse abwarten, bis die Maus selbst aus dem unheilschwangeren Berg hervorspringe und die Dummheit sich prostituiere. Da demungeachtet der Maler in seiner gütlichen Absicht den fürstlichen Gönner aufsuchte, ward er zu seiner größten Bestürzung und Verdruß nicht vorgelassen. Ganz trostlos aber machte es ihn, als er sich seine letzte Zuflucht zu Zarlins auf gleiche unerhörte Weise abgeschnitten sah. Er wußte sich nicht zu helfen, nicht zu raten, er hätte mit Freuden den Haß des ganzen Hofes auf sich geladen, wenn er nur über Constanze hätte ruhig sein können.

Inzwischen ward jene mißliche Sache durch einen hinzugetretenen Umstand gar sehr verschlimmert, ja sie bekam eine völlig veränderte Gestalt. Wie immer ein Übel das andere erzeugt und in solchen Fällen des Unheils kein Ende ist, so hatten einige Stimmen nicht ermangelt, bei dieser Gelegenheit an gewisse vor längerer Zeit anhängig gemachte und zum Teil wirklich erhobene Kriminalfälle, geheime Umtriebe betreffend, zu erinnern, und obgleich diese Dinge bereits für abgetan galten, so glaubte man doch keinen unbedeutenden Nachtrag hinter dem Schauspieler suchen zu müssen.

Der unruhige Geist, welcher, von gewissen politischen Freiheitsideen ausgehend, eine Zeitlang die Jugend Deutschlands, der Universitäten besonders, ergriffen hatte, ist bekannt. Die Regierung, von welcher hier die Rede ist, behandelte dergleichen Gegenstände mit um so größerer Aufmerksamkeit, als sich entdeckte, daß immer auch einige durch reiferes Alter, Geist und übrigens unbescholtenen Charakter ausgezeichnete Männer nicht verschmäht hatten, an solchen Geheimverbindungen, im weiteren oder engeren Sinne, teilzunehmen. So hegten denn namentlich zwei genaue Bekannte unseres Schauspielers diese gefährliche Tendenz mit vieler Vorliebe, und der letztere, weit[151] entfernt von jedem ernstlichen Interesse an der Sache, verbarg diesen Leuten gegenüber seine Gleichgültigkeit und Geringschätzung hinter der Maske des feurigsten Enthusiasten, indem er sich das Vergnügen nicht versagen konnte, seine Genossen auf eine jedenfalls unverantwortliche Weise zum besten zu haben. Er schrieb ihnen Briefe voll schwärmerischen Schwungs, machte die absurdesten Vorschläge und wußte den Verdacht einer bloßen Äfferei durch eine kunstvolle ironische Einkleidung, durch abwechselnd vernünftige Gedanken, sowie durch die höchste Konsequenz in der persönlichen und mündlichen Darstellung zu entfernen, so daß ihn die Gesellschaft zwar für ein seltsam überspanntes, doch aber höchst talentvolles Mitglied ansprach, wenn es gleich an einzelnen klugen Köpfen nicht fehlte, die ihm heimlich mißtrauten und scharf auf die Finger sahen; er bemerkte dies, spielte den Gekränkten, zog sich noch eben zu rechter Zeit zurück und erhielt gegen das Versprechen der tiefsten Verschwiegenheit seine schriftlichen Aufsätze sämtlich zurück Als es zwei Jahre nachher von Staats wegen zur Untersuchung und Aufhebung der Verbrüderten kam, und entfernterweise auch seiner erwähnt ward, konnte es ihm bei der Diskretion der Bundesgenossenschaft wirklich gelingen, sich wie ein Aal aus der Klemme zu winden, während andre, zum Teil schon in öffentlichen Ämtern stehende, Männer zu nachdrücklicher Bestrafung gezogen wurden. So erfreute er sich geraume Zeit einer guten Sicherheit, aber sein frevelhafter Mutwille sollte nicht ungerächt bleiben. Das berüchtigte Schauspiel rief die alten Erinnerungen wieder hervor, übelwollende, wichtigtuende Aufklauber übten sogleich ihre ganze Geschäftigkeit, und der König sah sich bewogen, einen so verhaften Gegenstand abermals in öffentliche Anregung zu bringen. Der Herzog, seinerseits an die Erheblichkeit dieses neuen Verdachtes keineswegs glaubend, bedauerte diese höchst verdrießliche Wendung der ohnehin so schief gedrehten Geschichte um so aufrichtiger, je weniger Freund Nolten ungefährdet dabei bleiben konnte, und je weniger er selbst sich verhehlte, daß vielleicht einige glücklich angebrachte Winke von ihm hingereicht haben würden, den ersten schwierigen Eindruck des bewußten Gedichtes zu vernichten, und so jedem weiteren Nachhalle vorzubeugen. Er sah nur zu deutlich ein, wie es am Ende doch jenes einzige Wort aus Constanzens Munde gewesen, was seine Schritte geirrt und seine versöhnliche Gesinnung mit einem geheimen Aber angesteckt[152] habe. Jetzt konnte an eine Vertuschung nicht mehr gedacht werden, und alles nahm seinen strengen, gesetzlichen Gang.

Wie ein Donnerschlag traf es die Freunde, als ihre Verhaftung nun wirklich erfolgte. Eine Kommission ward beauftragt, ihre Papiere zu durchsuchen, und zum Unglück kam dies alles so rasch, so unvermutet, beide hatten so gar keine Ahnung von den neuesten Gerüchten, daß Larkens nicht von weitem daran dachte, jene verfänglichen Briefe auf die Seite zu schaffen; denn leider waren sie noch vorhanden, er hatte die Vertilgung so merkwürdiger Aktenstücke nicht über sich vermocht, vielmehr lagen sie über die Zeit der ersten Untersuchung als geheimes Depositum in dem Hause eines unverdächtigen Bekannten, später nahm sie der Verfasser wieder zu sich und ein versiegeltes Portefeuille in seinem Pult verwahrte den verräterischen Schatz. Wie sehr der Umstand unsern Schauspieler beunruhigen mußte in dem Augenblick, als ihm die Festnehmung seiner eigenen Person das Ernstliche der Absicht genugsam bewies, läßt sich denken; denn daß man die Briefe finden würde, daß der Inhalt, obwohl höchst komischer Natur, gar sehr gegen ihn zeugen müsse, war zu erwarten.

Die beiden wußten kaum, wie ihnen geschah, als sie sich eines Morgens in zwei abgesonderte Zimmer des sogenannten alten Schlosses zu trauriger Einsamkeit verwiesen sahen. Leopold und Ferdinand waren teilnehmende Begleiter auf dem verhaßten Gange. Beim Abschied konnte Nolten kein Wort vorbringen, kaum fand er Gelegenheit, dem Bildhauer ein kurzes Billett an den Grafen nochmals zu empfehlen. Larkens' Benehmen drückte einen knirschenden Schmerz aus, er kehrte das Gesicht ab, während er Noltens Hand zum letztenmal faßte.

Wenn der Mensch von einem unerwarteten Streiche des ungerechtesten Geschickes betäubt stille steht und sich allein betrachtet, abgeschlossen von allen äußeren mitwirkenden Ursachen, wenn das verworrene Geschrei so vieler Stimmen immer leiser und matter im Ohre summt, so geschieht es wohl, daß plötzlich ein zuversichtliches, fröhliches Licht in unserm Innern aufsteigt, und mit Heiterkeit sagen wir uns, es ist ja nicht möglich, daß dies alles wirklich mit mir geschieht, ungeheurer Schein und Lüge ist es! Wir fühlen uns mit Händen an, wir erwarten, daß jeden Augenblick der Nebel zerreiße, der uns umwickelt. Aber diese Mauern, diese sorgsam verriegelte Tür wiesen dem[153] armen Maler mit frecher Miene ihr festes unbezwingliches Dasein. Erschüttert, mit lautem Seufzen ließ er sich auf den nächsten Stuhl nieder, ohne einmal an das Fenster zu treten, das ihm eine weite Aussicht ins Freie und seitwärts einen kleinen Teil der Stadt freundlich und tröstlich hätte zeigen können. In der Tat hatte das Zimmer eine angenehme Lage, in dem obersten Teil des ohnehin hochgelegenen, altertümlichen, hie und da noch befestigten Gebäudes. Dieser eine Flügel war, die Wohnung des Kommandanten und des Wärters ausgenommen, ganz unbewohnt, von einer andern Seite, wo Garnison lag, tönte zuweilen ein munterer militärischer Klang, Trommel und Musik nicht allzu geräuschvoll. Auch die nächsten Umgebungen Theobalds nahmen sich eben nicht sehr düster aus, die Wände rein geweißt und trocken, die Eisenstäbe vor den Fenstern weit genug, um nichts zu verdunkeln, die Heizung regelmäßig, soweit die herankommende Frühlingszeit sie nicht gar entbehrlich machte. Aber an der notdürftigsten Unterhaltung mit Büchern, Schreibzeug und dergleichen fehlte es, und jede Art von Material für den Künstler insbesondere schien ausdrücklich verwehrt. Auch dachte unser Gefangener für jetzt noch an alle das keineswegs; vielmehr liefen seine Gedanken mit der Geliebten, mit dem ganzen zerrissenen und verhüllten Bilde seiner Zukunft beschäftigt, immer in demselben Schwindelkreise, wie an einem unübersteiglichen, von keiner Seite zugänglichen Walle, verzweifelnd hin und her. Und wenn er sich das Ärgste, das Äußerste vorgehalten, so kam ihm doch stets wieder der Glaube an Constanzens richtiges Gefühl, an ihre Klarheit, ihre treue Gesinnung mutig entgegen. Sie mochte ihn damals abgewiesen haben, weil ihre Stellung zum Hofe ihr diesen Zwang auflegte, sie mochte selbst, auf kurze Zeit vom allgemeinen Irrtum angesteckt, einigen Unwillen hegen, aber ihr Herz werde ihn freisprechen, werde mit ihm leiden, sie selbst werde eine Milderung des gegenwärtigen Übels zu befördern wissen. Diese seine Hoffnung gewann nach und nach so viel Stärke, daß ihm die Gestalt der schönen Frau nicht anders als mit dem Ausdruck mitleidiger Liebe wie ein Friedensbote vorschwebte, ja zuletzt mit dem reizenden Ungestüm einer angstvollen Braut, welche die Befreiung des Verlobten fordert. Aber furchtbar lastete die Zeit der Ungewißheit auf ihm, bis er den ersten gütigen Laut von ihr vernehmen könnte! Jenes Billett an den Grafen – kaum erinnerte er sich der hastig hingeworfenen Worte – drückte[154] eigentlich nur eine lebhafte Beteurung seiner Unschuld, einen schmerzlichen Klageton aus, der hauptsächlich auf das Gemüt Constanzens berechnet sein mochte. Ein früher entworfenes Schreiben an die letztere, wovon wir oben etwas gesagt, hatte er mit sich hiehergebracht; er las jetzt diese gemäßigten, freudig hoffenden, kühn versprechenden Linien aufs neue; er glaubte die Teure vor Augen zu haben, ihre zarte Hand zu ergreifen, ihre Zusage zu hören, den Hauch ihres Mundes zu fühlen, und ach! wie stumpfte dann wieder der Anblick dieser Zelle gegen den lebendigsten Traum!

Larkens an seinem Orte quälte sich nicht weniger mit Zweifeln und Sorgen auf und nieder. Es entbehrte seine Phantasie der immer noch lieblichen Hintergründe, womit jener Leidensbruder sich seinen Zustand aufschmeichelte. Überdies mußte er nach einer Äußerung, die ihm privatim zugekommen war, und die er schonungsvoll für sich allein behalten, die Aussicht auf baldige Lossprechung viel weiter hinaus denken, als man sonst geneigt war; und er empfand dies um so peinlicher, je mehr er alle Schuld dieses doppelten Mißgeschicks auf sich zurückführte. Für die auswärtigen Angelegenheiten seines Freundes glaubte er indessen vorläufig dadurch gesorgt zu haben, daß er, auf den Fall eines längeren Stillstandes im schriftlichen Verkehr mit Agnes, diese unter Vorschützung einer Geschäftsreise beruhigte. Einigen Vorteil für seinen geheimen Plan fand er in der Entfernung Noltens von der Person Constanzens. Aber dieser kleine Gewinn, wie teuer erkauft! Und bedachte er vollends, was er selbst entbehre durch die Trennung von Theobald, was in solcher Widerwärtigkeit der Trost eines gemeinsamen Gespräches wäre, erwog er die Unmöglichkeit, sich auch nur durch einen Buchstaben von Zeit zu Zeit wechselsweise mitzuteilen und anzufrischen, so hätte er laut toben, er hätte aufschreien mögen über die Einförmigkeit eines Daseins, wovon er, der ungebundene, keck verwöhnte und reizbare Mensch nie einen Begriff gehabt. Die einzige Hoffnung setzte er auf ein Verhör.

Schon waren einige Tage verstrichen, als die Lage der beiden durch die zugestandene Erholung mit Lektüre bereits erträglicher zu werden versprach, doch Larkens wies dergleichen starrsinnig von sich, und während Nolten bei allem erdenklichen Leidwesen doch den Vorzug genoß, daß ihm teils die Liebe, teils ein zu Hülfe gerufener Künstlersinn immer neuen Stoff zu innerlicher Belebung zuführte, so versank der Schauspieler[155] gar bald in die Finsternis seines eigenen Selbst, er wurde die freiwillige Beute eines feindseligen Geistes, den wir bisher nur wenig an ihm kennengelernt, weil er ihn selber bis auf einen gewissen Grad glücklich genug bekämpft hatte. Um uns übrigens hierin ganz verständlich zu machen, wird folgender Aufschluß hinreichen.

Von vermögenden Eltern herkommend, ohne sorgfältige Erziehung von Hause aus, bezog er sehr jung die Akademie, wo er, keinen festen Plan im Auge, neben einem lustigen kameradschaflichen Treiben dennoch schöne philosophische und ästhetische Studien machte. Eine Reise nach England und die Höhe des dortigen Schauspielwesens bekräftigte den Entschluß, sich mit höchstem Ernste dieser Kunst zu weihen. Seine erste theatralische Schule begleiteten bereits öffentliche Proben auf einem der angesehensten Schauplätze, und die Aufmerksamkeit des Publikums wurde zur Bewunderung, als er, obwohl ungerne, dem Rate eines erfahrenen Mannes folgend, sich eine Zeitlang in durchaus komischen Repräsentationen erging. In dem Maße, wie er, einem sonderbaren Naturzwang zufolge, wieder zum Ernsthaften einlenkte, nahm der allgemeine Beifall ab, und so schwankte er unbefriedigt, mißlaunisch ein volles Jahr hin und her, ohne einsehen zu wollen, welchem von beiden Fächern er sein Talent zuwenden müsse. Dazu kam der Übelstand, daß dem praktischen Künstler seine poetische Produktivität viel mehr hinderlich als förderlich war; er wollte im Reiche seiner eigenen Dichtung leben und empfand es übel, wenn ihn mitten in der schaffenden Lust das Handwerk störte, was um so unvermeidlicher war, da seine Arbeiten ganz außer der allgemeinen Bühnensphäre lagen und nur von einem engen Freundeskreise gefaßt und geschätzt werden konnten. Dieser widrige Konflikt des Dichters und des Brotmenschen brachte die ersten Stockungen und Unordnungen in seinem Leben hervor; aus Verdruß über die Unausführbarkeit seiner höhern Geisteswelt warf er sich in den Strudel der gemeinen, und die Leidenschaften, welche er durch kunstmäßige Darstellung im schönen Gleichgewichte mit seinem bessern Selbst zu erhalten gedacht hatte, ließ er jetzt in zügelloser Wirklichkeit rasen.

Um jene Zeit hatte sich unter seinen Freunden die eigene Sucht hervorgetan, sich durch Erfindung und Durchführung fein angelegter Intrigen zu zeigen. Larkens spielte in einem gutartigen Sinne hierin gerne den Meister, aber leider verwickelte[156] ihn dies Unwesen bald mit einer, als schön und witzig gleichbekannten, Schauspielerin, ein Umgang, der ihn bald in einen Wirbel der verderblichsten Genüsse niederzog. Sein Beruf ward ihm leidige Nebensache, und, mehr als einmal im Begriffe, verabschiedet zu werden, erhielt er sich nur dadurch, daß er von Zeit zu Zeit durch eine Vorstellung, worin er allem Genie aufbot, die Gunst seiner Leute gewaltsam an sich riß. Mit Schmerzen blickte man ihm nach, als er freiwillig den Ort verließ, welcher Zeuge seiner traurigen Versunkenheit gewesen. Er entsagte dem unwürdigen Leben, raffte sich zu neuer Tätigkeit auf, und ward ein erfreulicher Gewinn für die Stadt, worin wir ihn später als Noltens Freund kennenlernten Aber jene fleckenvolle Zeit seines Lebens hinterließ auch dann noch eine unüberwindliche Unruhe, eine Leere bei ihm, als er seine sittliche und physische Natur längst mit den besten Hoffnungen aus dem Schiffbruch gerettet hatte. Des heiteren geistreichen Mannes bemächtigte sich eine tiefe Hypochondrie, er glaubte seinen Körper zerrüttet, er glaubte die ursprüngliche Stärke seines Geistes für immer eingebüßt zu haben, obgleich er den zwiefachen Irrtum durch tägliche Proben widerlegte. Wie oft hielt er Theobalden, wenn dieser bemüht war, seine Grillen zu verjagen, mit wehmütigem Lachen das traurige Argument entgegen: »Das bißchen, was noch aus mir glänzt und flimmt, ist nur ein desparates Vexierlichtchen, durch optischen Betrug in euren Augen vergrößert und verschönert, weil sich's im trüben Hexendunste meiner Katzenmelancholien bricht.« Mit solchen Ausdrücken konnte er sich ganze Stunden gegen Theobald erhitzen, und erst nachdem er sich gleichsam völlig zerfetzt und vernichtet hatte, gewann er einige Ruhe, eine natürliche Heiterkeit wieder, wobei er, nach dem Zeugnis aller, die ihn umgaben, unglaublich sanft und liebenswürdig gewesen sein soll. Außer Theobald und etwa einem andern früheren Vertrauten kannte ihn jedoch keine Seele von dieser schwermütigen Seite, er wußte sie trefflich zu verbergen, und sein Betragen auf diesen Punkt gab selbst dem Menschenkenner niemals eine Blöße. Inzwischen war der gute Einfluß nicht zu mißkennen, den Noltens Umgang, sein kräftiger Sinn, auf jenes verdunkelte Temperament ausübte, denn wenngleich unser Maler selbst an einer gewissen Einseitigkeit leiden mochte, so war doch sein sittlicher Grundcharakter unerschütterlich, und ein Streben nach voller geistiger Gesundheit beurkundete sich zeitig in der mehr[157] und mehr zum Allgemeinen aufsteigenden Richtung seiner Kunst, mit Bereinigung alles dessen, was ihm von einer phantastischen Entwicklungsperiode noch anklebte. Larkens schöpfte mit Lust aus dieser Quelle ein reines Wasser auf sein dürres Land, er hielt sich leidenschaftlich an den neuerworbenen Freund, ohne doch diese Inbrunst stürmisch im Worte zu verraten; vielmehr geriet er unwillkürlich in die gemäßigte Rolle eines Mentors hinein, eines Meisters, welcher durch eigenen unsäglichen Schaden klug geworden, dem Jüngern gar wohl gelegentlich auf die rechte Spur helfen zu können glaubt. Und indem er so am raschen Strom eines in jugendlicher Fülle strebenden Geistes teilnahm, erwuchs ihm ein neues Zutrauen zu sich selber, die Schuppen seines veralteten Wesens fielen ab, eine frische Bildung erschien darunter. Immer seltener wurden jene selbstquälerischen Ausbrüche, ja sie verschwanden zuletzt völlig; was Wunder, daß nun ein Gefühl von Dankbarkeit ihn unserem Freunde auf ewig verband, daß er sich's zur Pflicht machte, mit aller Kraft für das Wohl des Geliebten zu arbeiten? Mögen wir auch an einem auffallenden Beispiele, das er von diesem warmen Eifer gab, einen Hang zum Seltsamen keineswegs verkennen, so war die Intention dennoch die lauterste brüderlichste, und wer wollte ihm verargen, wenn er bei der zarten Pflege, die er einem gebrochenen Liebesverhältnis widmete, zugleich seinem Herzen den Triumph bereitete, welcher in dem Zeugnis lag, daß er als ein vielversuchter Abenteurer sich dennoch mit unschuldiger Innigkeit an der eingebildeten Liebe eines engelreinen Wesens erfreuen konnte, eines Mädchens, das er nie mit Augen gesehen und an dessen Besitz er niemals gedacht hatte, so wünschenswert er auch erscheinen mochte. Gerne begnügte er sich mit der Fähigkeit, ein schönes Ideal noch in sich aufnehmen und außer sich fortbilden zu können; er fing an, mit sich selber, mit der Welt sich zu versöhnen. So weit war alles in gutem Geleise: nun aber herausgerissen aus aller Tätigkeit, aus einem gesellig zerstreuenden Leben, dem Elemente seines Daseins, gefoltert überdies von dem Gedanken, einem teuren Freunde Veranlassung zu bedenklichem Unfalle geworden zu sein, erwehrte er sich eines allgemeinen Trübsinnes nicht mehr, die alten Wunden brachen wieder auf, geschäftig wühlte er darin, Vergangenheit und Gegenwart flossen in ein grinzendes Bild vor ihn zusammen, er betrachtete sich als den elendesten der Menschen, er verlor sich mit Wollust in der Vorstellung,[158] daß dem Manne, durch Schuld und Jammer überreif, die Macht gegeben sei, das Leben eigenwillig abzuschütteln. Je gewisser er im äußersten Falle auf diese letzte Freistatt rechnen konnte, und je ruhiger er nach und nach den entsetzlichen Gedanken beherrschen lernte, desto mehr gewann sein Gemüt auf der andern Seite an Freiheit und an Mut, die nächste Zukunft duldend abzuwarten; sein Zustand wurde milder, sogar heiterer.

Eine unerwartete Unterbrechung dieses brütenden Stillesitzens, so angenehm sie erschien, wollte ihn doch beinahe störend überraschen, da er die ersten Fäden einer allmählichen Verpuppung durch den Zudrang frischen Lebenshauches wieder zerrissen, und sich selbst zu neuer Hoffnung aufgemuntert sah. Denn eines Morgens, in der vierten Woche der Gefangenschaft, trat der Kommandant ins Zimmer, mit der Nachricht: es solle beiden Herren erlaubt sein, zuweilen einen und den andern Freund bei sich zu sehen, doch jeder nur auf seinem eigenen Zimmer und ohne daß die Gefangenen selbst zusammengeführt würden Larkens dankte so gut er konnte, besonders verdroß ihn die letzte Bedingung; auch hatte der Offizier einem weiteren guten Vorurteil, das man aus dieser Vergünstigung ziehen mochte, nicht undeutlich vorgebeugt, und überdies vermutete Larkens, daß man diese Gunst nur der besonderen Attention des Herzogs gegen Nolten zu verdanken habe.

Den ersten Abend brachten Ferdinand und Leopold bei Theobald zu, den folgenden bei dem Schauspieler, wozu sich noch ein dritter Freund anschloß. So lebhaft ein solches Wiedersehen sein mußte, so freundlich die lieben Gäste mit Neuigkeiten aller Art und mit dem besten Weine zu Belebung der Gemüter das Ihrige taten, so war es doch nur erzwungene Freude, und Theobald wußte sich um so weniger zu lassen, da er gleich anfangs hören mußte, daß sein Billett an Zarlin zwar angenommen worden, daß jedoch bei einem Besuche, welchen Leopold im Hause gemacht, der Graf bloß ein allgemeines, ziemlich kühles Bedauern geäußert habe. Insofern Leopold nichts von der wahren Beziehung wissen sollte, welche Noltens Interesse für jene Familie hatte, so konnte dieser nur durch entfernte Fragen herauslauschen, daß Constanze gar nicht sichtbar, auch keine Rede von ihr gewesen sei.

Diese Lage der Dinge drückte nun freilich schwer auf das Herz des geängstigten Liebhabers, aber wie ward ihm vollends[159] zumute, als der Bildhauer sein vor einigen Wochen schon gemachtes Anerbieten wiederholte, einen Brief an Agnes zu besorgen, ja als er gutmütig äußerte, wie er die ganze Zeit her im Zweifel gewesen, ob er nicht selbst diese Pflicht übernehmen und dem Vater des Mädchens die leidigen Begebenheiten schonungsvoll beibringen solle, wie ihn aber ein Wort, das Larkens gleich anfangs hierüber fallenlassen, dennoch beruhigt habe. »Jawohl«, sagte Nolten, »dafür ist schon Rat geschafft!« und verdrängte diese Materie, während er im stillen aus der ablehnenden Äußerung, welche der Schauspieler getan haben sollte, nicht ganz klug werden konnte, und überhaupt auf die traurigsten Kombinationen verfiel.

Die Art, wie Larkens die Besuche aufnahm, war im Grunde ansprechender, denn er setzte von jeher einen Vorzug darein, sich vor Menschen zusammenzunehmen und eine wohlwollende Annäherung, auch wenn sie zur Unzeit kam, gutmütig, zart und gefällig zu erwidern. Die Nachricht aber, womit man ihn besonders zu erfreuen dachte, daß das Theater und dessen Liebhaber herzlich und laut um ihren besten Liebling trauern, nahm er gleichgültig auf und wollte nichts davon hören. Die Urteile der Stadt im allgemeinen betreffend, hieß es, man trage sich mit allerlei übertriebenen Meinungen von dem Vergehen der Verhafteten; die Vernünftigen zucken die Achsel, niemand wolle an eine gänzliche Unschuld der beiden glauben. Auch hatten indessen drei Verhöre stattgefunden, ohne daß man dadurch einer glücklichen Entscheidung um vieles nähergerückt wäre.

War der Zustand unseres Paares unter diesen Umständen beklagenswert genug, so sollte noch die schwerste Prüfung über den Maler ergehen, indem sich auf alle die heftigen Erschütterungen ein Fieber bei ihm ankündigte, das der Arzt sogleich für bedeutend erkannte. Der Kranke verließ seit drei Tagen das Bett nicht mehr, häufig lag er ohne Bewußtsein da und in freieren Stunden war das Gefühl seines Elends nur um so stärker; die Phantasien der Fieberhitze setzten ihr grelles Spiel auch im Wachen fort und schleuderten den Gequälten in unbarmherzigem Wechsel hin und her. Bald nahte sich Constanze seinem Lager, und wenn sein inniger Klageton ihr Mitleid, ihre Liebe ansprach, wenn sich die edle Gestalt soeben über den Leidenden herzusenken schien, floh sie entsetzt und zürnend wieder weg; bald zeigte sich die verstoßene Agnes an der[160] Tür, den stillen Blick betrübt auf ihn gerichtet, bis sie sich nicht mehr hielt und lautweinend neben ihm auf die Kniee stürzte, seine Hand mit tausend Küssen bedeckte und er die arme Reuevolle gleichfalls liebreich an sich herzuziehen genötigt war.

Dergleichen Vorstellungen, worin sich der Rest seiner Neigung zu jenem verkannten liebenswürdigen Kinde nun auf dem durch Krankheit und Schwäche erweichten Grunde seines Gemütes sonderbar und lebhaft abspiegelte, wiederholten sich immer häufiger und waren um so weniger abzuweisen, da sie ihm zunächst durch einen seltsamen Zufall von außen aufgedrungen worden waren. Denn eines Morgens erwachte er vor Tag aus einem unruhigen Halbschlafe an einem weiblichen Gesang, der aus der Küche des Wärters unter seinem Fenster zu kommen schien. Der Inhalt des Lieds, sowenig es ihm selber gelten konnte, traf ihn im Innersten der Seele, und die Melodie klang unendlich rührend durch das Schweigen der dunkeln Frühe, ja die Töne selber nahmen in seiner Einbildung eine wunderbare Ähnlichkeit mit der Stimme Agnesens an.


Früh, wenn die Hähne krähn,

Eh die Sternlein verschwinden,

Muß ich am Herde stehn

Muß Feuer zünden.


Schön ist der Flammen Schein,

Es springen die Funken,

Ich schaue so drein,

In Leid versunken.


Plötzlich da kommt es mir,

Treuloser Knabe!

Daß ich die Nacht von dir

Geträumet habe.


Träne auf Träne dann

Stürzet hernieder,

So kommt der Tag heran –

O ging' er wieder!


Zum ersten Male seit undenklicher Zeit fühlte Theobald wieder die Wohltat unaufhaltsamer Tränen. Die Stimme schwieg,[161] nichts unterbrach die Ruhe des langsam andämmernden Morgens. Der Kranke barg das Gesicht in die Kissen, ganz der Süßigkeit eines – den noch so bittern! Schmerzens genießend.


An demselben Morgen bekam Larkens, da er kaum das Bett verlassen hatte, von Leopold, dem Bildhauer, einen Besuch, der eigentlich Theobalden bestimmt war; auf die Nachricht vom Pförtner jedoch, daß der Kranke nach einer erträglichen Nacht soeben noch ruhig schlummere, wagte der Freund keine Störung und ließ sich das Zimmer des Schauspielers aufschließen. Er fand den letztern in der traurigsten Stimmung, worein ihn die Sorge um Nolten versetzte, und Leopold, gleichfalls heftig bewegt, hatte Mühe, ihn zu trösten.

Nach einiger Zeit fing der Bildhauer an: »Nun muß ich Ihnen eine Eröffnung machen, die freilich zunächst für Nolten gehörte, sie betrifft einen Vorfall, womit ich mich schon drei Tage herumtrage, ohne daß ich Gelegenheit erhalten konnte, ihn einem oder dem andern von Ihnen mitzuteilen; denn der Obrist schlug mir die Bitte zweimal ab, zumal da der Arzt den Kranken sowenig als möglich durch Gesellschaft beunruhigt wissen will; gestern bekam ich mit Not auf eine Stunde Erlaubnis; die Angst um Nolten und, ich darf wohl sagen, auch meine Neuigkeit ließ mir nicht Rast noch Ruhe mehr. Das was ich mitzuteilen habe, ist unerhört, ist ganz unbegreiflich, für Nolten taugt es unter gegenwärtigen Umständen auf keinen Fall.«

»Nun, nur um Gottes willen kein Unglück!« sagte der Schauspieler verdrießlich lächelnd über den langen Eingang; »ich meine schon von einer neuen Resolution hören zu müssen, daß wir armen Tropfen am Ende noch Karren schieben werden bei Wasser und Brot?«

»Nichts! Setzen wir uns, und hören Sie. Es war an dem Abend unserer neulichen Zusammenkunft; ich und Ferdinand hatten Sie kaum verlassen, das Schloß lag hinter uns, ich wollte soeben in die Prinzenstraße einlenken, so zeigt mir ein zufälliger Seitenblick in die leere Kastanienallee, wo wir vorüber mußten, ein weibliches Wesen ganz ruhig an einen der Bäume gelehnt. Das Auge der Unbekannten begegnete dem meinigen. Ich kam fast von Sinnen beim Anblick dieser Physiognomie, denn – doch zuvor muß ich fragen – Sie erinnern sich wohl des tollen Gemäldes von Nolten?«

»Welches?«[162]

»Der Organistin.«

»Ganz wohl.«

»Und wenn ich Ihnen nun sage, diese war's, werden Sie mir glauben?«

»Nicht, bis ich erst ausgerechnet, wie viel Bouteillen wir damals getrunken.«

»Spaßen Sie; es war heller Mondschein, ich sah das Gesicht deutlich wie am Tage, und was meine Nüchternheit betrifft –«

»Schon gut!« unterbrach ihn Larkens aufstehend und ging einigemal nachdenklich auf und ab, indessen Leopold fortfuhr. »Noch muß ich Ihnen gleich eine Schwachheit bekennen, lieber Larkens, und Sie mögen mich immerhin darüber ausschelten, aber wer in aller Welt ist ganz vorm Aberglauben sicher, sonderlich unter solchen Umständen? Kaum war mir vorgestern gesagt worden, Theobald habe sich gefährlich krank gelegt, so deutete ich mein Begegnis mit der gespenstischen Orgelspielerin urplötzlich als ein Omen aus, denn mir fiel ein, was man von Trauerfällen sagt, welche auf ähnliche Weise angekündigt worden. Und dieser dummen Furcht bin ich noch heute nicht ganz los, obwohl ich recht gut weiß, daß die Erscheinung keine Vision, noch Gespenst oder dergleichen, sondern ein ordentliches Menschenkind gewesen.«

»Aufrichtig gesprochen, mein Bester«, sagte Larkens, »ich zweifle an dieser Apparition so gar nicht im mindesten, daß ich Ihnen vielleicht selber den Schlüssel zu dem Rätsel geben kann. Doch, schweigen Sie darüber gegen unsern Freund, versprechen Sie mir reinen Mund zu halten.«

»Gewiß, wenn Sie's für nötig finden.«

»Nun denn – aber zuvor wär ich begierig, wie Ihr Abenteuer abgelaufen. Sie sprachen die Person?«

»Mein Gott, nicht doch! denn (beinahe schäme ich mich, es zu bekennen) die Erscheinung bestürzte mich dergestalt, daß ich mich wohl drei – viermal im Ring herumwirbelte, und während ich nach meinem zurückgebliebenen Begleiter umsah, war das Nachtbild schon verschwunden, auch mit aller Mühe nicht mehr aufzufinden. Das einzige erfuhren wir des andern Tages zufällig von Theobalds Bedientem, daß eine Bettlerin, deren Beschreibung mit jener Person vollkommen zusammenstimmte, sich tags vorher in Noltens Hause eingefunden und auf die Versicherung, er sei auf längere Zeit abwesend, sich wieder[163] fortgeschlichen. Alles mein Fragen und Forschen blieb fruchtlos.«

»Also« – fing Larkens an – »merken Sie auf. Zwei Tage vor der letzten Neujahrsnacht, die Ihnen hoffentlich noch im Gedächtnis ist, traf ich auf meinem Hausflur ein Mädchen an dessen Äußeres mich gleich frappierte, und zwar eben auch in der von Ihnen angegebenen Beziehung. Es war eine Zigeunerin, hoch, schlank gewachsen, nicht mehr ganz jung, aber immer noch eine wirkliche Schönheit, kurz die Ähnlichkeit mit jenem Bilde bis auf wenig zwischenliegende Jahre vollkommen Ein Korb mit hölzerner Schnitzware hing ihr am Arme, allein meine erste Ahnung, daß sie wohl in anderer Absicht als des Verkaufs wegen hiehergekommen, bestätigte mir bald ihre Frage nach einem Maler, der hier wohnen sollte; sie zog einen Brief hervor, es war die Handschrift von Noltens Braut, doch lautete die Adresse, ich weiß nicht mehr warum, an mich, die Sendung selbst gehörte für Nolten. Es hatte nämlich die Zigeunerin auf ihren Streifzügen auch Neuburg berührt und einen Gruß mit hiehergenommen. Mir war die Person nach mehrfältigen Erzählungen Theobalds nichts weniger als fremd, aber je genauer ich um ihre frühere Berührung mit unserm Freunde wußte, desto bedenklicher fand ich's, so ohne weiteres zur Erfüllung ihres Wunsches beizutragen, welcher dahin ging, den ›schönen herrlichen Jungen‹, wie sie ihn nannte, einmal wiederzusehen. Wenigstens, dacht ich, müßte der herrliche Junge vorbereitet werden, und bei näherer Betrachtung schien mir die Hintertreibung einer solchen Zusammenkunft das Sicherste und Zweckmäßigste. Ich gebrauchte allerlei Finten, sie ein für allemal von jedem Versuche abzuschrecken; da indessen das närrische Ding darauf bestand und ihr Verlangen ebenso gerecht als arglos und treuherzig erschien, so sann ich auf Mittel, wie Nolten ihr gezeigt werden könnte, ohne daß jedoch er sie gewahr würde. Das ließ sich nun wohl auf verschiedene Weise machen. Mir gefiel aber, wie ich gern gestehen will, ein etwas romantisch seltsamer Weg besser als etwa ein simples Gucken durch Spalt und Schlüsselloch, kurz, die Neujahrsmaskerade kam mir eben recht zu statten und –«

»Was?« rief Leopold verwundert, »am Ende wird noch der Nachtwächter vom Albaniturm aus der Geschichte hervorspringen!«

»Das errät sich nun leicht; so hören Sie kurz noch den Hergang.[164] Nachdem ich das Mädchen mit meinem Plane bekannt gemacht, den sie anfangs freilich gar nicht fassen wollte, nachdem sie mir ferner auf eine mir unvergeßlich rührende Weise das Versprechen gegeben, mit Willen schlechterdings nichts gegen meine genaue Instruktion zu tun oder merken zu lassen so diktiert ich ihr einige Seiten, welche sie zu meiner größten Freude mit fremden Zeichen schrieb, da sie unsere Buchstaben nur sehr schlecht zu machen wußte. Aber es kostete immer noch Mühe genug, bis ich ihr meine Worte geschickt in die Feder gegeben und noch mehr, bis sie sich die Rolle einigermaßen angeeignet hatte. Sodann schafft ich die nötige Kleidung, und wahres Vergnügen gewährte mir die naive Miene, womit sie sich selbst in ihrer idealischen Vermummung betrachtete. Sie behandelte das Ganze mit einer gewissen Feierlichkeit und gefiel sich gar wohl dabei; ihre Rezitation freilich war hart und trocken, allein ihr Begriff von dieser poetischen Figur so ziemlich richtig. Sämtliche Vorbereitungen geschahen in einem abgelegenen Zimmer außer dem Hause, wo ich Schauspielern beiderlei Geschlechts zuweilen Unterricht erteilte, so daß mein jetziges Geschäft niemandem auffiel. Wie anständig das Mädchen seine Sache machte, haben Sie ja gesehen, und ich selbst verwunderte mich im stillen über die glückliche Ausführung.«

Leopold ward kaum fertig, sein Erstaunen auszudrücken, indem er sich die Einzelheiten der Neujahrsfeier auf dem Turme zurückrief. Da er nun um so mehr Verlangen bezeugte, über die sonderbare Person der Zigeunerin und ihr früheres Verhältnis zu Theobald eines näheren belehrt zu werden, zeigte sich der Schauspieler nicht ungerne bereit; er wollte soeben seine Erzählung beginnen, als er sich bedenkend innehielt und endlich sagte: »Wissen Sie was, mein Lieber? Sie erfahren die kurze Geschichte am besten aus einigen Blättern, worin ich dasjenige, was mir Nolten im Anfange unserer Bekanntschaft vertraute, treulich darzustellen gesucht habe, da mir die Begebenheit gar wohl der Aufbewahrung wert geschienen; besonders merkwürdig ist das mit dem Ganzen verflochtene Schicksal eines gewissen längst gestorbenen Verwandten der Noltenschen Familie, in dessen Leben überhaupt ich die prototypische Erklärung zur Geschichte unseres Freundes zu finden glaube. Vor mehreren Wochen entlehnte ein Bekannter das Heft von mir, ich gebe Ihnen einige Zeilen an ihn mit und er wird es Ihnen einhändigen. Durchläuft man dies Bruchstück aus unsers Noltens Leben mit Bedacht, und[165] vergleicht man damit seine spätere Entwicklung bis auf die Gegenwart, so erwehrt man sich kaum, den wunderlichen Bahnen tiefer nachzusinnen, worin oft eine unbekannte höhere Macht den Gang des Menschen planvoll zu leiten scheint. Der meist unergründlich verhüllte, innere Schicksalskern, aus welchem sich ein ganzes Menschenleben herauswickelt, das geheime Band, das sich durch eine Reihe von Wahlverwandtschaften hindurchschlingt, jene eigensinnigen Kreise, worin sich gewisse Erscheinungen wiederholen, die auffallenden Ähnlichkeiten, welche sich aus einer genauen Vergleichung zwischen früheren und späteren Familiengliedern in ihren Charakteren, Erlebnissen, Physiognomieen hie und da ergeben (so wie man zuweilen unvermutet eine und dieselbe Melodie, nur mit veränderter Tonart, in demselben Stücke wiederklingen hört), sodann das seltsame Verhängnis, daß oft ein Nachkomme die unvollendete Rolle eines längst modernden Vorfahren ausspielen muß – dies alles springt uns offener, überraschender als bei hundert andern Individuen hier am Beispiel unseres Freundes in das Auge. Dennoch werden Sie bei diesen Verhältnissen nichts Unbegreifliches, Grobfatalistisches, vielmehr nur die natürlichste Entfaltung des Notwendigen entdecken. Die Spitze des Ganzen besteht aber in der Art und Weise, wie unser Freund als Knabe zur innigsten Vermählung mit der Kunst geleitet worden, deren ursprünglicher Charakter sich noch heute in einem großen Teil seiner Gemälde erkennen läßt. Genug, Sie mögen selbst urteilen. Aber ach! was werden Sie bei dieser Lektüre fühlen, wenn Sie denken, daß eben derjenige, dessen ahnungsvolle Knabengestalt Ihnen in den Blättern begegnet, nunmehr als Mann von der sinnlosen Faust eines fremdartigen Geschickes aus seiner eigenen Sphäre herausgestoßen, und noch ehe er die Hälfte seiner Rechnung abgeschlossen, hier in diesen Mauern eilig verwelken und vergehen soll! Denn, o mein Freund! ich fürchte alles, und dieser Kummer wird mich aufreiben, wird mich noch vor ihm töten – und möchte er nur! Sehen Sie mich an; ich glaube zu fühlen und mein Spiegel sagt es mir, daß der Gram dieser drei Tage mich um doppelt soviel Jahre älter gemacht hat. Still; ich muß abbrechen, wenn ich nicht von Sinnen kommen will. Gehen Sie hinüber zu dem Armen und drücken ihm die Hand im Namen des Larkens. Ach, möchte ich ihn wenigstens einmal wieder von Angesicht sehen! und doch – ich fürchtete mich davor.«[166]

Leopold griff nach dem Hute und erbat sich noch die Anweisung zu dem merkwürdigen Heft; da eben der Schließer eintrat, säumte er nicht länger, um vor allem den geliebten Patienten zu besuchen. Mit heißen Blicken sah ihm der Schauspieler nach, eine unbegrenzte Sehnsucht nach Theobald übermannte ihn, aber umsonst, die Türe zog sich zu und drüben hörte er das Schloß zum Zimmer des Geliebten rauschen.

So stand nun der Bildhauer vor dem Bette Noltens, und heimlich entsetzt über das äußerst elende Aussehen des Kranken mußte er alle Fassung aufbieten, um seine Bewegung nicht zu verraten. Den Gemütszustand Noltens konnte er im ganzen nicht gewahr werden, er sprach wenig und nur angestrengt mit matter Stimme. Einmal fragte er den Wärter, wer doch des Morgens in aller Frühe unten in der Küche so hübsch zu singen pflege? Etwas kleinlaut erwiderte der Alte: »Meine Tochter. Ich will's ihr aber untersagen, es schickt sich nicht, und ach! das Gesinge ist noch ihr einzig Leben.« Theobald bat sehr, man möge das Mädchen ja nicht irremachen in diesen Unterhaltungen; er fragte, wie es komme, daß sie nur ernste traurige Lieder zu kennen scheine? »Der Henker weiß«, war die Antwort, »woher sie all das Zeug herkriegt; sie war von Kindheit auf ein närrisches Ding, nicht auch lustig und rasch wie die andere Jugend, aber fleißig und verständig, und besorgt mir alles in der Haushaltung seit ihrer Mutter Tod.« Da der Alte sofort über den Verlust seiner Frau, deren Tugend er nicht genug rühmen konnte, in die beweglichsten Klagen ausbrach, auch zuletzt immer wärmer und aufrichtiger werdend eine unglückliche Liebschaft seines Kindes auseinanderzusetzen anfing, konnte man leicht bemerken, wie angreifend solche Dinge auf Nolten wirkten, daher Leopold dem Erzähler einen Wink gab. Endlich schied der Bildhauer mit ungewissem beklommenem Herzen. Er eilte, nachdem er sich zuvor das bewußte Manuskript verschafft, allein aus dem Geräusche der Stadt, einen selten betretenen Weg verfolgend. Ein warmer, sonnenheller Tag schmolz vollends die letzten Reste Schnee und Eis hinweg, eine erquickende Luft schmeichelte bereits mit Vorgefühlen des Frühlings. So gelangt unser ernster Fußgänger, eh er sich's versah, in die ländlichste Umgebung, ein freundliches Dorf lacht ihm entgegen. Dort sucht er nach einem stillen Garten hinter dem nächsten besten Wirtshause und findet auch bald ein hübsches erhöhtes Plätzchen zwischen Weinbergen mit Tisch und Bank,[167] von wo man die angenehmste Aussicht hat. Er bestellt eine Flasche Wein, setzt sich und holt jene Schrift hervor, deren Inhalt wir dem Leser nicht vorenthalten können.


Ein Tag aus Noltens Jugendleben


Die Zeit war wieder erschienen, wo der sechszehnjährige Theobald von der Schule der Hauptstadt aus die Seinigen auf zwei Wochen besuchen durfte. In dem Pfarrhause zu Wolfsbühl war daher gegenwärtig große Freude, denn Vater und Schwestern (die Mutter lebte nicht mehr) hingen an dem jungen blühenden Menschen mit ganzem Herzen. Ein besonders inniges Verhältnis fand aber zwischen Adelheid und dem nur wenig jüngeren Bruder statt. Sie hatten ihre eigenen Gegenstände der Unterhaltung, worein sonst niemand eingeweiht werden konnte sie hatten hundert kleine Geheimnisse, ja zuweilen ihre eigene Sprache. Es beruhte dies zarte Einverständnis vornehmlich auf einer gleichartigen Phantasie, welche in den Tagen der Kindheit unter dem Einfluß eines märchenreichen, fast abergläubischen Dorfes und einer merkwürdigen Gegend die erste Nahrung empfangen und sich nach und nach auf eine eigentümliche und sehr gereinigte Weise ihren bestimmten Kreis gezogen hatte. Von der Richtung, welche die beiden jugendlichen Gemüter genommen, war also, wie es schien, nichts zu befürchten, und selbst äußerlich wurde das Verhältnis keineswegs einseitig auf Kosten der übrigen drei minder empfänglichen Schwestern unterhalten. Es herrschte eine gutmütige heitere Verträglichkeit; nur die ältere Tochter, Ernestine, deren Sorge vorzüglich das Hauswesen überlassen blieb, zeigte mitunter ein finsteres, gebieterisches Wesen, und sie hatte den Vater bereits mehr als billig war auf ihre Seite gebracht.

An einem trüben Morgen in der letzten Zeit des Oktobers spazierten Theobald und seine Vertraute zusammen im Gärtchen hinter dem Hause. Er erzählte soeben seinen Traum von heute nacht und die Schwester schien ernsthaft zuzuhören, indes sie unverwandt nach der Seite hinüberblickte, wo die alte Ruine, der Rehstock genannt, tief in Nebel gesteckt liegen mußte.

»Aber du gibst nicht acht, Adelheid! Ich habe vorhin, um dich zu prüfen, absichtlich den tollen Unsinn in meinen sonst vernünftigen Traum hineingebracht und du nahmst es so natürlich wie zweimal zwei vier.«[168]

Das Mädchen erschrak ein wenig über die Ertappung, lachte sich jedoch sogleich herzlich selber aus und sagte: »Ja, richtig! ich hab nur mit halbem Ohr gehört, wie du unaufhörlich von einer großen großen, unterirdischen Kellertür schwatztest welche endlich mit beiden Hinterfüßen nach dem armen Mann ausgeschlagen habe. Indessen, was ist im Traum nicht alles möglich? Gib mir aber keck eine Ohrfeige! ich hatte fürwahr ganz andere Gedanken. Höre! und daß du es nur weißt, wir gehen heute auf den Rehstock. Noch nie hab ich ihn an einem Tag gesehen, wie der heutige ist, und mich deucht, da muß sich das alte Gemäuer, die herbstliche Waldung ganz absonderlich ausnehmen; mir ist, als könnten wir heut einmal die Freude haben, so ein paar stille heimliche Wolken zu belauschen und zu überraschen, wenn sie sich eben recht breit in die hohlen Fenster lagern wollen. Wie meinst du? Schlag ein. Wir werden's vom Papa schon erhalten, daß mir Johann das Pferd satteln darf, und du selbst bist ja rüstig auf den Füßen. Wir gehen gleich nach dem Frühstück womöglich ganz allein, und kommen erst mit dem Abend wieder.«

Dem Bruder war der Vorschlag recht; es wurde verabredet, man wolle alles Erdenkliche von Gefälligkeit tun, um die übrigen günstig zu stimmen. Adelheid flocht der ältern Schwester, der eiteln Ernestine, diesmal den Zopf mit ungewöhnlichem Fleiße, verlangte nicht einmal den Gegendienst, und der Kuß den sie dafür erhielt, war für die beiden ungefähr dasselbe gute Zeichen, was für andere, wenn sie ein gleiches Vorhaben gehabt hätten, der erste Sonnenblick gewesen wäre. Ehe man es dachte, hat Theobald die Sache bereits beim Vater vermittelt und bald stand der Braune mit dem bequemen Frauensattel ausgerüstet im Hofe. Man ließ das Pärchen ungehindert ziehen. Der Alte brummte unter dem Fenster mit einem geschmeichelten Blick auf die schlanke Reiterfigur seines Mädchens bloß vor sich hin: »Narrheiten!« Ernestine kreischte nur etwas weniges zur Empfehlung der zerbrechlichen, mit Mundvorrat gefüllten Gefäße nach, welche der Knecht in einer Ledertasche nebst den Schirmen hinten nachtrug, und die ehrlichen Wolfsbühler, an das berittene Frauenzimmer längst gewöhnt, grüßten durchs ganze Dorf auf das freundlichste.

Die Sonne hielt sich brav hinter ihrem Versteck und der Tag behielt zu Adelheids größter Zufriedenheit »sein mockiges Gesicht« bei.[169]

»Indem ich«, hob sie nach einer Weile an, »wohl gute Lust hätte, recht wehmütig zu sein, wie dieser graue Tag es selber ist, so rührt sich doch fast wider meinen Willen ein wunderlicher Jubel in einem kleinen feinen Winkel meines Innersten, eine Freudigkeit, deren Grund mir nicht einfällt. Es ist am Ende doch nur die verkehrte Wirkung dieses melancholischen Herbstanblicks, welche sich von Kindheit an gar oft bei mir gezeigt hat. Mir kommt es vor, an solchen trauerfarbnen Tagen werde die Seele am meisten ihrer selbst bewußt; es wandelt sie ein Heimweh an, sie weiß nicht wornach, und sie bekommt plötzlich wieder einen Schwung zur Fröhlichkeit, sie kann nicht sagen woher. Ich freue mich der Freiheit auf meinem guten Pferde, ich wickle mich mit kindischem Vergnügen in mein Mäntelchen gegen die rauhe Luft, die da auf uns zustreicht, und halte mir das sichre Herze warm und wiege mich in meinen Gedanken. Aber nicht wahr, als wir noch in Rißthal wohnten da war es ein anderes, auszureiten? Enges Tal, dichter Wald, wohin man immer sah. Hier das platte Feld und lauter Fruchtbaum. Wir haben anderthalb gute Stunden, bis es ein wenig krauser hergeht. Glücklich, daß wir wenigstens die Landstraße nicht brauchen.«

Beide Geschwister durchliefen jetzt in unerschöpflichen Gesprächen die Lichtpunkte ihres früheren Lebens in Rißthal, einem dürftigen Orte, wo der Vater zwölf Jahre lang Pfarrer gewesen. Sie begegneten sich mit der innigsten Freude bei so mancher angenehmen, kaum noch in schwachen Anklängen vorhandenen Erinnerung, es wagten sich nach und nach gegenseitige Worte der Rührung und Frömmigkeit über die Lippen, wie sie sonst, von einer Art falscher Scham bewacht, zwischen jungen Leuten nicht gewechselt werden.

Endlich sagte der Bruder: »Indem wir da so offenherzig plaudern, läßt mich's nicht ruhen, dir zu gestehen, daß ich doch ein Geheimnis auch vor dir habe, Adelheid! Es ist nichts Verdächtiges, nichts, was ich verheimlichen müßte, eine Grille hat mich bisher abgehalten, dir es mitzuteilen. Aber heute sollst du es hören, und zwar unter den Mauern des alten Rehstocks damit du künftig daran denken magst, wenn du hinaufsiehst.«

»Gut!« erwiderte die Schwester, »ich freue mich, und für jetzt kein Wörtchen weiter davon!«

Unter hundert Wendungen des Gesprächs war man in weniger als zwei Stunden unvermerkt dem erwünschten Ziele ziemlich[170] nahe gekommen. Deutlich und deutlicher traten die Umrisse der hohen Trümmer hervor; in kurzer Zeit stand man am Fuße des wenig bewachsenen Bergs, an dessen Rückseite sich jedoch die lange Fortsetzung eines waldreichen Gebirgs anschloß. Hier ward gerastet und die fast vergessene Provianttasche mit weniger Gleichgültigkeit geöffnet, als man sie am Morgen hatte füllen sehen. Dann ging es langsam die Krümmung des Weges hinan, nachdem das Pferd an Johann abgegeben war, um es in einem nahe gelegenen Meierhof unterzubringen und zur bestimmten Zeit wieder hier mit ihm einzutreffen. Auf der Höhe angelangt schweiften die Glücklichen zuerst Hand in Hand dann zerstreut durch die weitläuftigen Räume über Wälle und Graben, durch zerfallene Gemächer, feuchte Gänge, verworrenes Gesträuch. Man verlor sich freiwillig und traf sich wieder unvermutet an verschiedenen Seiten. So geschah es, daß Adelheid eben allein mit der Entzifferung einer unverständlichen Inschrift beschäftigt war, als auf einmal sich die verlorenen Töne eines, wie es schien, weiblichen Gesanges vernehmen ließen. Das Mädchen erschrak, ohne zu wissen warum. Ein besorgter Gedanke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück hatte sie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geschärftem Ohr, sie glaubte schon sich getäuscht zu haben, aber in diesem Augenblick hörte sie dieselbe Stimme deutlicher und allem Anscheine nach innerhalb des Mauerwerks aufs neue sich erheben, den schwermütigen Klängen einer Äolsharfe nicht unähnlich. In einem gemischten Gefühle von feierlicher Rührung und einer unbestimmten Furcht, als wären Geisterlaute hier wach geworden, wagte die Überraschte kaum einige Schritte vorwärts und stand wieder still bei jedem neuen Anschwellen des immer reizendern Gesanges, und während unwillkürlich ihre Lippen sich zu dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung bewegten, fühlte sie doch fast zu gleicher Zeit ihren Körper von leisem Schauder überlaufen. Jetzt verstummte die rätselhafte Stimme nur das Rauschen des Windes in dem dürren Laube, der leise Fall eines da und dort losbröckelnden Gesteins, oder der Flug eines Vogels unterbrach die tatenhafte Stille des Orts. Das Mädchen stand eine geraume Zeit nachdenklich, unentschlossen, stets in bänglicher Erwartung, daß die unsichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke hervorkommen werde, ja sie machte sich bereits auf eine kecke Anrede gefaßt, wenn die Erscheinung sich blicken lassen sollte. Da rauschten plötzlich starke,[171] hastige, aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam atemlos einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die Schwester wiedergefunden zu haben und sagte: »Höre nur! mir ist etwas Sonderbares begegnet –«

»Mir auch; hast du den wunderlichen Gesang gehört?«

»Nein, welchen? – aber bei dem Eingang in die Kasematte, wo der verschüttete Brunnen ist, sitzt eine Gestalt in brauner Frauenkleidung und mit verhülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt, ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich zu suchen.«

Die Schwester erzählte ihrerseits auch, was vorgegangen, und beide kamen bald dahin überein, man müsse sich die Person genauer besehen, man müsse sie anreden, sei es auch wer es wolle. »Ein ähnliches Gelüsten, wie das unsrige, hat diesen Besuch wohl schwerlich veranlaßt«, meinte Adelheid; »das heutige Wetter findet außer mir und dir gewiß jedermann gar unlustig zu solchen Partien; ich vermute eine Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu trösten vielleicht eben wir bestimmt sind.« – »Und laß es ein Gespenst sein!« rief Theobald, »wir gehen darauf zu!«

So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin. Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber keineswegs unangenehmes Aussehen auf den ersten Blick eine Zigeunerin zu verraten schien. Bildung des Gesichts, Miene und Anstand hatte ein auffallendes Gepräge von Schönheit und Kraft, alles war geeignet, Ehrfurcht, ja selbst Vertrauen einzuflößen, wenn man einem gewissen kummervollen Ausdruck des Gesichts nachging. Bis zu dem Gruße Adelheids hatte die Unbekannte die Annäherung der beiden nicht bemerkt, oder nicht beachten wollen; jetzt aber hielt sie die schwarzen Augen groß und ruhig auf die jungen Leute gespannt und erst nach einer Pause erwiderte sie in wohlklingendem Deutsch: »Guten Abend!« wobei ein Schimmer von Freundlichkeit ihren gelassenen Ernst beschlich. Adelheid, hiedurch schnell ermutigt, war soeben im Begriff, ein Wörtchen weiter zu sprechen, als ein erschrockener Blick der Zigeunerin auf Theobald sie mitten in der Rede unterbrach. Sie sah, wie er zitterte, erbleichte, wie ihm die Kniee wankten. »Der junge Herr ist unwohl! Lassen Sie ihn niedersitzen!« sagte die Fremde, und war selbst beschäftigt, ihn in eine erträgliche Lage zu bringen und ihr Bündel unter seinen Kopf zu legen. »Gewiß eine Erkältung in den ungesunden Gewölben?« setzte sie fragend[172] gegen das Mädchen hinzu, das sprachlos in zagender Unruhe über dem ohnmächtig Gewordenen hing und nun in lautes Jammern ausbrach. »Kind! Kind! was machst du? der Unfall hat ja, will ich hoffen, wenig zu bedeuten, wart ein Weilchen, ich will schon helfen!« tröstete die Fremde, indem sie in ihrer Tasche suchte und ein Fläschchen mit starkriechender Essenz hervorholte, das sich gar bald recht kräftig erweisen sollte an dem ›hübschen guten Jungen‹, wie sie sich ausdrückte. Als aber nach wiederholten Versuchen die Augen des Bruders geschlossen blieben und Adelheid untröstlich davongehen wollte, verwies ihr die Zigeunerin das Benehmen durch einen unwiderstehlich Ruhe gebietenden Wink, so daß das Mädchen unbeweglich und gleichsam gelähmt nur von der Seite zusah, wie die seltsame Tochter des Waldes ihre flache Hand auf die Stirne des Kranken legte und ihr Haupt mit leisem Flüstern gegen sein Gesicht heruntersenkte. Dieser stumme Akt dauerte mehrere Minuten, ohne daß eines von den dreien sich rührte. Siehe, da erhub sich weit und helle der Blick des Knaben und blieb lange fest, aber wie bewußtlos, an den zwei dunkeln Sternen geheftet, welche ihm in dichter Nähe begegneten. Und als er sich wieder geschlossen, um bald sich aufs neue zu öffnen, und nun er klar erwachte, da begegnete ihm ein blaues Auge statt des schwarzen; er sah die Freudetränen der Schwester. Die Unbekannte stand seitwärts, er konnte sie nicht sogleich bemerken, aber er richtete sich auf und lächelte befriedigt, da er sie gefunden. Es trat nun einige Heiterkeit überhaupt auf die Gesichter, und Theobald erholte sich mehr mit jedem Atemzug.

Indes Adelheid nach dem innersten Hofraum der Burg eilte, wo die Reisetasche lag, um Wein für den Bruder herbeizuholen, entspann sich zwischen den Zurückgebliebenen ein sonderbares Gespräch. Theobald nämlich begann nach einigem Stillschweigen mit bewegter Stimme: »Sagt mir doch, ich bitte Euch sehr, wißt Ihr, warum das mit mir geschehen ist, was Ihr vorhin mit angesehen habt?«

»Nein!« war die Antwort.

»Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele gelesen?«

»Ich verstehe Euch nicht, lieber Herr!«

»Seht nur«, fuhr jener fort, »als ich Euch ansah, da war es, als versänk ich tief in mich selbst, wie in einen Abgrund, als schwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe stürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch in hundert Träumen gesehen habe, so,[173] wie Ihr da vor mir stehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die Zeiträume meines Lebens und sah mich als Knaben und sah mich als Kind neben Eurer Gestalt, so wie sie jetzt wieder vor mir aufgerichtet ist; ja ich kam bis an die Dunkelheit, wo meine Wiege stand, und sah Euch den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da verging das Bewußtsein mir, ich habe vielleicht lange geschlafen, aber wie sich meine Augen aufhoben von selber, schaut ich in die Eurigen, als in einen unendlichen Brunnen, darin das Rätsel meines Lebens lag.«

Er schwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann sagte er lebhaft: »Laßt mich Eure Rechte einmal fassen!« Die Fremde gab es zu, und eine schöngebildete braune Hand wog er mit seligem Nachdenken in der seinigen, als hielte er ein Wunder gefaßt; nur wie endlich ein warmer Tropfen nach dem andern auf die hingeliehenen Finger zu fallen begann, zogen diese sich schnell zurück, die Jungfrau selber entfernte sich mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo sie hinter den Mauern verschwand. In diesem Augenblick kam Adelheid rüstig den Wall heruntergesprungen, allein sie hielt mit einemmal betroffen an, denn der alte Gesang schwang sich mächtig, durchdringend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd schwarzes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht unterscheiden. Ein leidenschaftlicher, ein düsterer Geist beseelte diese unregelmäßig auf- und absteigenden Melodien, so fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne waren. Erstaunt erhob sich Theobald von seinem Sitz, mit Entsetzen trat ihm die Schwester nahe. »Wir haben eine Wahnsinnige gefunden«, sagte sie, »mache, daß wir fortkommen.« »Um Gottes willen bleib!« rief Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts zu einer außerordentlichen Kraft gesteigert: »Liebe Schwester, du warst doch sonst keine von denen, die für das Seltene, was sie nicht begreifen, gleich einen verpönenden Namen wissen. Ja, und wär es auch eine Wahnsinnige, sie wird uns nicht schaden. Ich kenne sie und sie kennt mich. Du sollst noch vieles hören.« Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Gesang gekommen war, welcher indessen wieder aufgehört hatte. Die Schwester, ihren Ohren kaum trauend, sah ihm nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerster Besorgnis. So blieb sie eine geraume Weile, dann rief sie, von unerträglicher Angst ergriffen, mehrmals und laut den Namen ihres Bruders.

Er kam, und zwar Hand in Hand mit der Fremden, traulich[174] und langsam heran. Es schien, daß unter der Zeit eine entschiedene Verständigung zwischen den beiden stattgefunden haben müsse. Wenn die Miene Theobalds nur eine tiefbefriedigte, entzückte Hingebung ausdrückte, so brach zwar aus der Jungfrau noch ein matter Rest des vorigen Aufruhrs ihrer Sinne wie Wetterleuchten hervor, aber um so reizender und rührender war der Obergang ihres Blickes zur sanften, gefälligen Ruhe, wozu sie sich gleichsam Gewalt antat. Adelheid begriff nichts von allem; doch milderte der jetzige Anblick der Unbekannten ihre Furcht um vieles, erweckte ihre Teilnahme, ihr Mitleid. »Sie geht mit uns nach Hause, Schwester, damit du es nur weißt!« fing Theobald an, »ich habe schon meinen Plan ausgedacht. Nicht wahr, Elisabeth, du gehst?« Ihr Kopfschütteln auf diese Frage schien bloß das schüchterne Verneinen von jemand, der bereits im stillen zugesagt hat. »Laßt uns aber lieber gleich aufbrechen, es will schon Abend werden!« setzte jener hinzu; und so rüstete man sich, packte zusammen und ging.

»Ich sehe nicht«, flüsterte Adelheid in einem günstigen Augenblick, während Elisabeth weit vorauslief, dem Bruder zu, »ich begreife nicht, was daraus werden kann! Hast du denn überlegt, wie der Vater dies Abenteuer aufnehmen wird? Wenn du die Absicht hast, daß diese Person heute nacht eine Unterkunft bei uns finde, was kann ihr dieses viel nützen? oder was trägst du sonst im Sinne? Um des Himmels willen, gib mir nur erst Aufschluß über dein rätselhaftes Benehmen! Welche Bewegung! welche Leidenschaft! Wie hängt denn alles zusammen? du handelst wie ein Träumender vor mir!«

»Da magst du wohl recht haben«, war die Antwort, »ja, wie ein Träumender! weiß ich doch kaum, wie alles kam. Ich zweifle zuweilen an der Wirklichkeit dessen, was da vorging. Aber doppelt wunderbar ist es, daß dasjenige, was ich dir heute auf dem Rehstock offenbaren wollte und was nirgends als in meiner Einbildung lebte, uns beiden in leibhafter Gestalt hat erscheinen müssen.«

Nach und nach erklärte er, daß ihm das Mädchen über sich selbst nichts weiter zu sagen gewußt, als: sie habe sich vor vier Tagen heimlich von ihrer Gesellschaft, einer übrigens öffentlich geduldeten Zigeunerhorde, getrennt, weil sie ihre Heimat habe wiedersuchen wollen, der man sie in jungen Jahren entrissen, deren sie sich auch nur schwach mehr erinnere. Diese Nachricht diente keineswegs, die Teilnahme Adelheids[175] sehr zu vermehren, vielmehr erregte der angegebene Grund der Entweichung ihren Verdacht in hohem Grade als unwahrscheinlich. Indessen war das vernünftige Mädchen in der Voraussicht, daß eine Zurechtweisung des Bruders für jetzt schlechterdings vergeblich wäre, nur darauf bedacht, unter mißlichen Umständen wenigstens größeres Unheil zu verhüten. Theobalds körperlicher Zustand, der nach einer unnatürlichen Anspannung eine gefährliche Schwäche befürchten ließ, war das nächste, was sie beunruhigte, und ihr Vorschlag, man wolle den benachbarten Rittmeister um sein Gefährt ansprechen, fand bei dem Bruder nur insoferne Widerspruch, als Elisabeth ihrerseits darauf beharrte, den Weg zu Fuß zu machen. Johann, welcher inzwischen treulich gewartet hatte, ward jedoch mit den geeigneten Aufträgen nach dem nächsten Hofe zu dem alten Herrn Rittmeister, einem guten Bekannten des Pfarrers, abgeschickt. Während einer peinlichen halben Stunde des Wartens fand Adelheid Veranlassung, den Gegenstand ihres Unmuts und ihres Mißtrauens von einer wenigstens unschuldigen Seite kennenzulernen. Elisabeth äußerte auf die unzweideutigste Weise eine fast kindliche Reue darüber, daß sie sich von ihrer Bande weggestohlen, wo man sie nun recht mit Sorgen vermisse, wo ihr nie ein Leid geschehen sei, wo sie, sooft sie krank gewesen, immer guten Trost und geschickte Pflege bei gar muntern und redlichen Leuten gefunden habe. Bei dem Wörtchen »krank« legte sie mit einer traurig lächerlichen Grimasse den Zeigefinger an die Stirn, und gab auf diese Art ganz unverhohlen ein freiwilliges Bekenntnis dessen, was Adelheid anfangs gefürchtet hatte. Aber sie fügte sogar noch den naiven Trost hinzu: »Seid nur nicht bang, ihr guten Kinder, daß ich jemand Übels zufüge, wenn mein Leid mich übernimmt. Da sorgt nur nicht. Ich gehe dann immer allein beiseite und singe das Lied, welches Frau Faggatin, die Großmutter, mich gelehrt, da wird mir wieder gut. Du, armer Junge, du sollst auch das Lied noch lernen, du hast gar viel zu leiden; ich habe das wohl bald bemerkt, darum geh ich mit dir, bis du zu Hause bist, doch behalten könnt ihr mich nicht. Auch schlaf ich heute nicht bei euch. Diese Nacht noch zieht Elisabeth weiter, woher sie gekommen, denn die Heimat ist nicht mehr zu finden. Man hat mir sie verstellt die Berge, das Haus und den grünen See, mir alles verstellt Wie das nur möglich ist! Ich muß lachen!«

Der Knecht kam jetzt mit der verlangten Aushülfe; nicht[176] mehr zu frühe, denn schon war es dunkel geworden. Um so weniger wollte Theobald und selbst Adelheid es geschehen lassen, daß Elisabeth neben dem Gefährt herging. Allein sie war nicht zu überreden, und so rückte man immerhin rasch genug vorwärts.

Indes die Geschwister nun unter sehr verschiedenen Empfindungen, jedoch einverstanden über die nächsten Maßregeln, sich auf diese Weise dem väterlichen Orte nähern und Theobald endlich der Schwester die ganze wundersame Bedeutung des heutigen Tags entdeckt, ist man zu Hause schon in großer Erwartung der beiden, und der Vater machte seine Verstimmung wegen des längern Ausbleibens der jungen Leute bereits auf seine Art fühlbar. Um übrigens einen richtigen Begriff von der gegenwärtigen Stimmung im Pfarrhause zu geben, müssen wir, so ungerne es geschieht, schlechterdings eine gewisse Gewohnheit des Hausvaters anführen, welche soeben jetzt wieder in Ausübung gebracht wurde. Der Pfarrer nämlich, ein Mann von den widersprechendsten Launen, wohlwollend und tückisch, menschenscheu, hypochondrisch, und dabei oft ein beliebter Gesellschafter, hatte neben manchen höchst widrigen Eigenheiten den Fehler der Trägheit in einem fast abscheulichen Grade und sie verleitete ihn zu den abgeschmacktesten Liebhabereien. Konnte es ihm gefallen, mit gesundem Leibe ganze Tage im Bette zuzubringen und über ein und dasselbe Zeitungsblatt hinzugähnen, so machte dieses wenigstens niemanden unglücklich. Nun aber fand er, der in früheren Tagen gelegentlich ein Jagdfreund gewesen war, eine Art von Zeitvertreib darin, vom Bette aus nach allen Seiten des Zimmers hin mit dem Vogelrohr zu schießen. Zu diesem Behuf knetete er mit eigenen Fingern kleine Kugeln aus einem Stücke Lehm, das stets auf seinem Nachttisch liegen mußte. Er selbst war so gelegen, daß er von seinem Schlafgemach aus fast das ganze Wohnzimmer mit seinem Rohr beherrschen konnte. Das Ziel seiner Übungen blieb jedoch nicht immer der große Essigkrug auf dem Ofen, oder das Türchen des Vogelkäfigs, oder das alte Portrait Friedrichs von Preußen, sondern der Pfarrherr betrachtete es mitunter als den angenehmsten Teil seiner Kinderzucht, gewisse Unarten, die er an den Töchtern bemerken wollte, durch dergleichen Schüsse zu verweisen. Jungfer Nantchen, bei Licht am Nähtische beschäftigt, brauchte z.B. vorhin etwas längere Zeit, als dem Vater billig vorkam, um ihren Faden durch das Nadelöhr[177] zu schleifen, und unerwartet klebte eine Kugel an ihrem bloßen Arm, die denn auch so derb gewesen sein muß, daß das gute Kind recht schmerzhaft aufseufzte. Es kamen diesen Abend noch einige Fälle der Art vor, wobei doch Jungfer Ernestine verschont blieb, ein Vorzug, welchen gewöhnlich auch Adelheid, Theobald ohnehin, mit ihr teilen durfte Allein welchen Empfang können wir den letztern unter solchen Umständen versprechen? Es wurde acht Uhr, bis sie gegen das Dorf herfuhren. Sie waren inzwischen übereingekommen, man wolle Elisabeth, welche jedes Nachtquartier fortwährend mit Hartnäckigkeit ausschlug, zum wenigsten über Tisch behalten, wozu sie sich zuletzt auch verstand.

Die endliche Ankunft der Vermißten war indessen im Pfarrhause schon durch einen Burschen hinterbracht, den man entgegengesandt und welchem der ehrliche Johann im Vertrauen das Merkwürdigste zugeraunt hatte. Dies veranlaßte denn ein groß Verwundern, ein gewaltig Geschrei im Haus. Dem Pfarrer sank das Spielzeug aus der Hand, da von einer Zigeunerin, von der Chaise des Rittmeisters, von Unpäßlichkeit seines Sohns verlautete. Er stand vom Bette auf und warf den Schlafrock um unter den Worten: »Was? eine Kartenschlägerin? eine Landfährerin? alle Satan! eine Hexe? und deswegen mein Sohn plötzlich unwohl geworden? – und ein Fuhrwerk – eine Heidin, was? Ich will sie bekehren, ich will ihr die Nativität stellen! gebt mir mein Rohr her! nicht das – mein spanisches! Wie hat Johann gesagt? Die Pferde seien scheu geworden, wenn die Zigeunerin neben ihnen hergelaufen?«

Die Tür ging auf. Adelheid und Theobald standen im Zimmer; jene mit stockender Stimme, an ihrer Angst schluckend, dieser mehr beschämt und vor bitterem Unwillen glühend über das unwürdige Benehmen seines Vaters. Umsonst stellte er sich dem hitzigen Manne beschwörend in den Weg, als er mit dem Licht in den Hausflur treten wollte, wo Elisabeth in einer Ecke unbeweglich hingepflanzt stand und ihm nun groß und unerschrocken entgegenschaute. Jetzt aber folgte eine den gespannten Erwartungen aller Umstehenden völlig entgegengesetzte Szene. Denn Pfarrer erstickt die rauhe Anrede auf der Zunge, wie er die Gesichtszüge der Fremden ins Auge faßt, und mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens tritt er einige Schritte zurück. Auf der Schwelle des Zimmers wirft er noch einen Blick auf die Gestalt, und in lächerlicher Verwirrung läuft er[178] nun durch alle Stuben. »Wie kommt sie denn zu euch? was wißt ihr von dem Weibsbild?« fragt er Adelheiden, während Theobald sich auf den Gang hinausschleicht. Das Mädchen berichtete, was es wußte, und setzte zuletzt noch hinzu, daß der Bruder von einem Bilde gesagt, welches er schon als Kind öfters in einer Dachkammer gesehen und das die wunderbarste Ähnlichkeit mit dem Mädchen habe. Der Pfarrer winkte verdrießlich mit der Hand und seufzte laut. Er schien in der Tat über die Person der Fremden mehr im reinen zu sein, als ihm selber lieb sein mochte, und der letzte Zweifel verschwand vollends während einer Unterredung, welche er, so gut es gehen mochte, mit Elisabeth unter vier Augen auf seiner Studierstube vornahm. Er ward überzeugt, daß er hier die traurige Frucht eines längst mit Stillschweigen zugedeckten Verhältnisses vor sich habe, das einst unabsehbares Ärgernis und unsäglichen Jammer in seiner Familie angerichtet hatte. Was jedoch Elisabeth jetzt über ihr bisheriges Schicksal vorbrachte, war nicht viel mehr, als was die andern bereits von ihr wußten, und der Pfarrer fand nicht für gut, sie über das Geheimnis ihrer Geburt und somit über die nahe Beziehung aufzuklären, worin sie dadurch zu seinem Hause stand. Den auffallenden Umstand aber, daß die Flüchtige just in diese Gegend geriet, machten einige Äußerungen des Mädchens klar, aus welchen hervorging, daß ein unzufriedenes Mitglied jener Bande sich an dem Anführer durch die Entfernung Elisabeths rächen wollte, wozu ihm die letztere selbst durch die häufige Bitte Gelegenheit gegeben haben mußte, er möchte sie doch einmal in ihre Heimat zu Besuche führen, und allerdings war der Mensch, wie sich später ergab, von der eigentlichen Herkunft des Mädchens, sowie von dem Dasein einiger Verwandten ihres Vaters vollkommen unterrichtet; er beabsichtigte, sie nach Wolfsbühl zu bringen, wo er sich nicht geringen Dank versprach, aber wenige Stunden von dem Orte traf er auf die Spur von Zigeunern, welche ohne Zweifel ihm nachzusetzen kamen. Er ließ das Mädchen im Stiche und setzte seine Flucht alleine fort.

Jungfer Ernestine mahnte bereits zum dritten Male an das ohnehin verspätete Nachtessen; man schickte sich also an, und wohl selten mag eine Mahlzeit einen sonderbarern Anblick dargeboten haben. Sie ging ziemlich einsilbig vonstatten. Der fremde Gast war natürlich unausgesetzt von neugierigen zweifelhaften Blicken verfolgt, die nur, wenn zuweilen ein Strahl[179] aus jenen dunkeln Wimpern auf sie traf, pfeilschnell und schüchtern auf den Teller zurückfuhren.

Elisabeth ersah sich nach Tische den schicklichsten Zeitpunkt, um aus der Tür und sofort geschwinde aus dem Haus zu entschlüpfen, ohne auch nachher, als man sie vermißte, wiederaufgefunden werden zu können. Der Vater schien dadurch eher erleichtert als bekümmert. Sie hatte jedoch, wie man jetzt erst bemerkte, ihr Bündel zurückgelassen; sie mußte also wahrscheinlich wiedererscheinen, und Theobald tröstete sich mit dieser Hoffnung.

Eine mächtige und tiefgegründete Leidenschaft, soviel sehen wir wohl schon jetzt, hat sich dieses reizbaren Gemütes bemeistert, eine Leidenschaft, deren Ursprung vielleicht ohne Beispiel ist und deren Gefahr dadurch um nichts geringer wird, daß eine reine Glut in ihr zu liegen scheint. Der junge Mensch befand sich, seit das rätselhafte Wesen verschwunden war, in dem Zustand eines stillen dumpfen Schmerzens, wobei er, sooft Adelheid ihn mitleidig ansah, Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. Sie nötigte ihn auf seine Schlafkammer, wo sie ihm bald gute Nacht sagte. Der Pfarrer war durch das unerwartete Ereignis des heutigen Abends in seinem gewohnten Gleichmute dergestalt gestört, daß er jetzt noch an keine Ruhe denken konnte. Die Erinnerung an eine bedeutende Vergangenheit, an das unglückliche Schicksal eines leiblichen Bruders wurde nach langer Zeit wieder zum ersten Male heftig in ihm aufgeregt, er fühlte ein Bedürfnis, sich seiner ältesten Tochter mitzuteilen, und Ernestine, von jeher nur wenig unterrichtet über jenes merkwürdige Familienverhältnis, sah jetzt mit neugieriger Miene den Vater ein bestäubtes Manuskript hervorholen, worin die Geschichte ihres Oheims größtenteils von dessen eigener Hand verzeichnet stand. Alle übrigen im Hause hatten sich zu Bette begeben, nur Adelheid saß nachdenklich in einem Winkel des Zimmers und hörte bescheiden zu, indes der Vater aus dem Gedächtnis erzählte, nachdem er die vor ihm liegende Handschrift mit Wehmut, ja mit Grauen, bald wieder auf die Seite geschoben hatte.

»Mein jüngerer Bruder Friedrich«, fing er an, »dein seliger Oheim, war ein Genie, wie man zu sagen pflegt, und leider bei aller Herzensgüte ein überspannter Kopf, welcher schon in der frühesten Jugend nichts wollte und nichts vornahm, was in der Ordnung gewesen wäre. Er bewies ein außerordentliches Geschick[180] zur Malerkunst und mit der Zeit unterstützte ihn der Fürst auf das großmütigste. Er ließ ihn auf sechs Jahre nach Italien reisen, gab ihm auch nach seiner Zurückkunft ungemeine Zeichen seiner Gnade. Anfänglich nahm er seinen Aufenthalt in der Hauptstadt, später kaufte er sich das etwa fünf Stunden von Rißthal und drei von hier entfernte Gütchen F. wo er, noch immer unverheiratet, bloß für sein Geschäft lebte. In dieser Zeit habe ich ihn gar oft gesehen. Es war ein großer schöner Mann und gar munter, wenn es an ihn kam. Er hätte glücklich sein können, aber eine Reise hat ihn in sein Verderben geführt. Er entschloß sich nämlich im Frühjahr 17** auf den Rat der Ärzte, seiner Erholung wegen, einen Freund in Böhmen zu besuchen, mit dem er zu gleicher Zeit in Rom gewesen war. Ach, er ahnete nicht, welchem Verhängnis er entgegenging!«

So sprach der Pfarrer und nun folgte die Erzählung einer Geschichte, welche der Leser besser aus dem Tagebuche des Malers selbst erfährt.


In der Gegend von H** den 22. Mai


Schon seit Wochen fühle ich meine Gesundheit kräftiger als jemals; aber seit wenigen Tagen streckt auch der Geist seine erschlafft gewesenen Organe so begierig und arbeitsdurstig wieder aus, daß ich ordentlich über mich selbst erstaune. Ich spüre, es will sich ein neues Leben hervordrängen, es will ein Wunder in mir werden. Ich wüßte niemanden, dem ich die Ursache dieser mächtigen Revolution, die Geschichte der letzten vier Tage, so vertraulich mitteilen könnte, als diesen verschwiegenen Blättern. Aber fürwahr, ich tue es beinahe bloß in der grillenhaften Besorgnis, daß mein gegenwärtiges Glück, ja daß mir selbst die Erinnerung an diese außerordentliche Zeit entrissen werden könne.

Am 17. Mai trat ich von G. aus eine kleine Exkursion an und zwar allein, weil mein Freund verhindert war. Ich fand etwas Reizendes in dem Gedanken, so wie zuweilen im Vaterland, jetzt auch auf böhmischem Boden einmal ohne bestimmtes Ziel und besondere Absicht auszufliegen, nur dachte ich an das schöne Gebirge gegen *** zu, das ich vom Fenster aus als dunkelblauen Streif gesehen hatte. Ich schlug also ungefähr diese Richtung ein und ließ mich nach Bequemlichkeit vom nächsten besten Wege fortziehen, verweilte bei allem, was mir neu und merkwürdig war, machte meine Beobachtungen an Menschen und Natur, zog mein Skizzenbuch hervor, zeichnete oder las wie[181] mir's einkam, und ließ es mir mitunter in den dürftigsten Dorfschenken aufs beste gefallen. Am zweiten Abend meiner Wanderung befand ich mich bereits in einer anziehenden Gebirgsgegend und der darauf folgende Mittag sah mich schon tief in den herrlichsten Waldungen herumschwärmen, wo ich nach Herzenslust den wilden Atem der Natur kostete, die Schauer der Einsamkeit empfand, mich hundert Zerstreuungen überließ. Unvermerkt sank die Dämmerung herein, da es mir denn erst einfiel, den Fußsteig wieder aufzusuchen, der, wie man mir gesagt hatte, nach einer guten, mitten im Walde gelegenen Herberge führen mußte. Das ging aber nicht so leicht; eine volle halbe Stunde quälte ich mich ab, ohne eine Spur zu entdecken. Jetzt war es fast Nacht. Meine Wahl ging nahe zusammen. Auf gut Glück lief ich noch eine Zeitlang vorwärts, bis das dicker werdende Gesträuch und eine große Müdigkeit mich verdrossen stille stehen machte. Ungeduld und Ärger über meine Unvorsichtigkeit waren aufs äußerste gestiegen, da überraschte mich mit einemmal der Gedanke, daß ich mir ehedem oft eine solche Situation gewünscht, und daß dieser scheinbar widerwärtige Zufall recht eigentlich im Charakter meiner Reise sei. Hiemit gab ich mich denn auch wirklich zufrieden. Unbequem genug lagerte ich mich unter einer hohen Eiche, murmelte etwas von der Lieblichkeit der warmen Sommernacht, vom baldigen Aufgang des Mondes und konnte doch nicht verhüten daß meine Gedanken einigemal in dem verfehlten Wirtshaus einkehrten, wo ein ordentliches Abendbrot und ein leidlicheres Bette auf mich gewartet haben würden. Mit solchen Bildern beschäftigt, bemerkte ich jetzt in einiger Entfernung durch das Gezweige hindurch den Glanz eines Feuers. Meine ganze Einbildungskraft entzündete sich in diesem Anblick unter tausend mehr oder weniger angenehmen Vermutungen; aber bald entschloß ich mich zu einer genauern Untersuchung. Nach einer mühsam zurückgelegten Strecke von etwa fünfzehn Schritten unterschied ich eine bunte Gesellschaft von Männern, Weibern und Kindern auf einem etwas freien Platz um ein Feuer herumsitzend und zum Teil von einer Art unordentlichen Gezeltes bedeckt; sie führten, soviel ich hörte, ein zufriedenes aber lebhaftes Gespräch.

Das Herz hüpfte mir vor Freuden, hier einen Trupp von Zigeunern anzutreffen, denn ein altes Vorurteil für dies eigentümliche Volk wurde selbst durch das Bewußtsein meiner gänzlichen[182] Schutzlosigkeit nicht eingeschreckt. Ich weiß nicht, welches rasche zuversichtliche Gefühl mich überredete, daß wenigstens bei dieser Versammlung durch eine offene Ansprache nichts zu wagen sei. Mein kleiner Tubus trug in keinem Fall etwas dazu bei, denn bei einer physiognomischen Untersuchung der vom roten Schein der Flamme beleuchteten Köpfe hätte mein Urteil unentschieden bleiben müssen, trotz der frappantesten Deutlichkeit, womit jeder Zug sich vor mein Auge stellte. Ich trat hervor, ich grüßte treuherzig und erfuhr ganz die gehoffte Aufnahme, nachdem ich mich durch das erste barsche Wort des Häuptlings nicht hatte irremachen lassen. Meine unbefangene Keckheit schien ihm plötzlich zu gefallen, auch meinen Anzug musterte er jetzt mit sichtbarem Respekt. Man lud mich ein, auf einen Teppich niederzusitzen, und bot mir zu essen an. Ich gab mir ein mehr und mehr treuherziges und redseliges Wesen, dessen gute Wirkung sich gar bald an meinen Leuten zeigte, die mit Aufmerksamkeit meinen Schilderungen aus fremden Ländern zuhörten, während ich mich nebenher an den merkwürdigen Gesichtern und köstlichen Gruppen in die Runde erquicken konnte.

Dies dauerte ungestört eine ganze Zeit. Jetzt ließ sich ein ferner Donner vernehmen und man machte sich auf ein Gewitter gefaßt, das auch wirklich unvermutet schnell herbeikam. Jedes schützte sich so gut wie möglich.

Bei dieser allgemeinen Bewegung, indes der Regen unter heftigen Donnerschlägen stromweise niedergoß und eines der seitwärts stehenden Pferde scheu wurde, war mir mein Portefeuille entfallen. Ich suchte es in der dicksten Finsternis am Boden und hatte es soeben glücklich aufgehoben, als ich plötzlich beim jähen Licht eines starken Blitzes hart an meiner Seite ein weibliches Gesicht erblickte, das freilich derselbe Moment, welcher es mir gezeigt, wieder in die vorige Nacht verschlang. Aber noch stand ich geblendet wie in einem Meere von Feuer und vor meinem innern Sinne blieb jenes Gesicht mit bestimmter Zeichnung wie eine feste Maske hingebannt, in grünflammender Umgebung des nassen glänzenden Gezweigs. Nichts in meinem Leben hat einen solchen Eindruck auf mich gemacht, als die Erscheinung dieses Nu. Unwillkürlich streckte sich mein Arm aus, um mich zu überzeugen, aber es rauschte schon an mir vorüber und eine längere Zeit, als meine Ungeduld wollte, verging, bis ich ins klare kommen sollte. Doch das blieb nicht aus.[183]

Ein Mädchen, das anfangs in dem Zelt verborgen gewesen sein mochte, und das man mit dem Namen Loskine rief, zeigte sich jetzt auch unter den andern, als man bei nachlassendem Regen wieder Feuer anmachte und sich unter wechselnden Scherz- und Scheltworten auf den störenden Oberfall wieder in Ordnung brachte. Das Mädchen ist die Nichte des Hauptmanns. – Loskine – wie soll ich sie beschreiben? Sind doch seit jener Nacht vier volle Tage hingegangen, in denen ich dies Gebilde der eigensten Schönheit stündlich Aug in Auge vor mir hatte, ohne daß dem Maler in mir eingefallen wäre, sich ihrer durch das elende Medium von Linien und Strichen zu bemächtigen! O diese wenigen Tage, wie reich an Entdeckungen, wie unermeßlich in ihren Folgen für meine ganze Art zu existieren!

Ich bin seither der freiwillige Begleiter dieser streifenden Gesellschaft. Ja, das bin ich und ich erröte keineswegs über diesen Einfall, den mir auch kein Professor ordinarius der schönen Künste beachselzucken soll, weil ich ihn einem Professori ordinario sicherlich nicht erzählen werde. Oder schändet es in der Tat einen vernünftigen Mann, den sein Beruf selber auf Entdeckung originaler Formen hinweiset, eine Zeitlang der Beobachter von wilden Leuten zu sein, wenn er unter ihnen unerschöpflichen Stoff, die überraschendsten Züge, den Menschen in seiner gesundesten physischen Entwicklung findet, und dabei die übrige Natur wie mit neuen Augen, mit doppelter Empfänglichkeit anschaut? Ich lerne mit jeder Stunde und die Leute sind die Gefälligkeit selbst gegen mich. Einiger Eigennutz ist freilich immer dabei; meine Freigebigkeit behagt ihnen, aber mich wird sie nie gereuen.


Einen Tag später


Ich muß lächeln, wenn ich mein gestriges Räsonnement von Malerstudium und Kunstgewinn wieder lese. Es mag seine Richtigkeit damit haben, aber wie käme diese hochtrabende Selbstrechtfertigung hieher, wenn nicht noch etwas anderes dahinterstäke, um was ich mir mit guter Art einen Lappen hängen wollte? Doch ich gestehe ja, daß Loskine schon an und für sich allein die Mühe verlohnen könnte, sich eine Woche lang mit dem Zug herumzutreiben. Ich kann dies Geschöpf nicht ansehen, ohne die Bewunderung immer neuer geistiger, wie körperlicher Reize. Sie fesselt mich unwiderstehlich, und wäre es auch nur durch das Interesse an der ungewöhnlichen Mischung dieses Charakters.[184]

Äußerungen eines feinen Verstandes und einer kindischen Unschuld, trockener Ernst und plötzliche Anwandlung ausgelassener Munterkeit wechseln in einem durchaus ungesuchten und höchst anmutigen Kontraste miteinander ab und machen das bezauberndste Farbenspiel. Das Unbegreifliche dieser Komposition und dieser Übergänge ist auch bloß scheinbar; für mich hat das alles bereits die notwendige Ordnung einer schönen Harmonie angenommen. Erstaunlich ist zuweilen die Behendigkeit ihrer äußern Bewegungen und herrlich das Lächeln der Überlegenheit, wenn es ihr mitunter gefällt, die Gefahr gleichsam zu necken. Mit Zittern seh ich zu, wie sie einen jähen Abhang hinunterrennt und so von Baum zu Baum stürzend sich nur einen kurzen Anhalt gibt; oder wenn sie sich auf den Rücken eines am Boden ruhenden Pferdes wirft und es durch Schläge zum plötzlichen Aufstehen zwingt. Unter den übrigen bildet sie indessen eine ziemlich isolierte Figur; man läßt sie auch gehen, weil man ihre Art schon kennt, und doch hängen alle mit einer gewissen Vorliebe an ihr. Besonders scheint der Sohn des Anführers, ein gescheiter männlich schöner Kerl, größere Aufmerksamkeit für sie zu haben, als ich leiden mag, wobei mich zwar einesteils ihre Kälte freut, auf der andern Seite aber sein heimlicher Verdruß doch wieder herzlich rührt. Mich mag sie gerne um sich dulden, allein ich scheue mich fast vor Marwin, so heißt jener Mensch, und bin schon daran gewöhnt, vorzüglich nur die Gelegenheit zu benützen, wann er eben auf Rekognoszierung oder sonst in einem Geschäft ausgeschickt wird, was häufig vorkommt. Ich habe ihr schon manche kleine Geschenke gekauft, deren Absichtlichkeit ich durch ähnliche Gaben an die andern zu bemänteln weiß. – Aber, mein Gott! was will ich denn eigentlich? Noch treffe ich nicht die Spur eines Gedankens an die Umkehr bei mir an. Vorgestern schrieb ich, unter einem nicht sehr wahrscheinlichen Vorwand und ohne das geringste von meinem jetzigen Leben verlauten zu lassen, an Freund S., er möchte mir meine ganze Barschaft nach dem Städtchen G*** senden, wo wir, wie der Hauptmann sagt, in vier Tagen zur Marktzeit eintreffen werden. Dieser Marsch bringt mich dem Orte, von dem ich ausgegangen, wieder um fünf Meilen näher. Aber doch welche Entfernungen immer noch! Gut, daß ich in diesen Gegenden nicht fürchten muß, auf irgendein bekanntes Gesicht zu stoßen, wofern ich anders in meinem gegenwärtigen Zustand noch kenntlich wäre. Ich habe meinem Anzug durch einige[185] geborgte Kleidungsstücke ein etwas freieres Wesen gegeben, um mich meinen Gesellen einigermaßen zu konformieren. Eine violett und rote Zipfelmütze auf dem Kopf, ein breiter Gürtel um den Leib tun wahrlich schon viel.


26. Mai


Einen artigen Auftritt hat es gegeben. Wir rasteten nach einem ermüdenden Strich mittags in einem Tannengehölze. Marwin war abwesend und sonst überließ sich fast alles dem Schlafe. Loskine suchte ihre Lieblingsspeise, das durstlöschende, angenehme Blatt des Sauerklees, der dort in großer Menge wächst. Ich begleitete sie und wir setzten uns endlich hinter einem Hügel an einer schattigen Stelle auf den von abgefallenen Nadeln ganz übersäeten Moosboden. Ich weiß nicht, wie wir auf allerlei Märchen und wunderbare Dinge zu sprechen kamen, woran sie bei weitem reicher war als ich. Unter anderem wußte sie von der spinnenden Waldfrau zu sagen, die im Frühen, wenn der herbstliche Wald von der Morgenröte glühet, unter den Bäumen hergehe und das Laub, wie vom Rocken, in grün und goldnen Fäden abspinne, indes die Spindel neben ihr hertanze. Auch vertraute sie mir vieles von der heimlichen Kraft der Kräuter und Wurzeln, was nicht wiederholt werden kann, ohne zugleich ihre eigenen Worte zu haben. Dazwischen arbeitete sie mit dem Schnitzmesser sehr fertig an einem niedlichen Geräte, dergleichen die Zigeuner aus einem gelben Holze zum Verkauf machen. Ich hatte zuletzt beinahe kein Ohr mehr für ihre Erzählungen ob der Aufmerksamkeit auf die Bewegung der Lippen, auf das Spiel ihrer Miene, und endlich von stille glühenden Wünschen innerlich bestürmt und aufgeregt, wandte ich mich von ihr ab, so daß ich etwas tiefer sitzend ihr Gesicht im Rücken und ihren nackten Fuß – denn so geht sie gar häufig – dicht vor meinem Auge hatte. Wie trunken an allen Sinnen und meiner nicht mehr mächtig ergriff ich den Fuß und drückte meinen Mund fest auf die feine braune Haut. In diesem Augenblick gab Loskine mir lachend einen derben Stoß, wir standen beide auf und ich bemerkte eine hohe Röte auf ihrer Wange, eine Verwirrung, die ich schnell zu deuten wußte. Dadurch kühn gemacht schlang ich ohne Besinnen die Arme um die treffliche Gestalt, und sie widerstand mir nicht. Heiß brannten ihre Lippen und ihr Blick sprühte in den meinigen sein schwarzes Feuer. Aber kurz nur, denn jetzt kehrte er sich verworren ab, und der nächste Gegenstand, auf den er zugleich[186] mit dem meinigen fällt, ist – Marwin, welcher ruhig an einen unfernen Baum gelehnt ein Zeuge dieser Szene war. Loskine stand wie vom Schlage gerührt. Ich suchte, ohne Marwin bemerken zu wollen, ihn über den Vorfall zu täuschen, indem ich laut und scherzhaft mich über Sprödigkeit beklagte und daß sie mir das Gesicht schändlich zerkratzt hätte. Bei dieser Komödie leistete mir das Mädchen nicht die geringste Unterstützung. Sie starrte schweigend vor sich hin und unter stille hervorstürzenden Tränen entfernte sie sich langsam. Nun erst grüßte ich ganz verwundert meinen Nebenbuhler, ging auf ihn zu und wollte in meiner Rolle fortfahren, allein er sah mich ein paar Sekunden lang verächtlich an, dann ließ er mich stehen und ging.

Es sind seitdem sechzehn Stunden verflossen, ohne daß sich bisher die mindeste Folge gezeigt hätte, außer daß Loskine mir überall ausweicht.


In einer Bauernhütte zu ***


Ich bin getrennt von meiner Bande, aber um welchen Preis getrennt!

An demselben Morgen, da ich das letzte schrieb, nahm der Hauptmann mich beiseite und erklärte mir mit Mäßigung, aber mit finsterm Unmut, daß ich ihn verlassen müßte oder mich ganz so verhalten, als ob Loskine gar nicht vorhanden wäre. Sein Sohn wünscht sie als Weib zu besitzen, er selber habe sie ihm versprochen, sie werde sich auch jetzt nicht länger weigern. Ich möchte überhaupt auf meiner Hut sein, Marwin wolle mir sehr übel, nur die Furcht vor ihm, seinem Vater, habe ihn im Zaum gehalten, daß er sich nicht an mir vergriffen. Ich erwiderte, wenn mein argloses Wohlgefallen an dem Mädchen Verdruß errege, so wäre es mir ein leichtes, künftig behutsam zu sein; wenn aber Marwin überhaupt durch meine Gegenwart beunruhigt werde, so würde ich auch diese aufheben. Der Hauptmann, im Bewußtsein der nicht unbeträchtlichen Vorteile, die ihm meine Gesellschaft brachte, lenkte ein. Ich antwortete darauf wieder in unbestimmten Ausdrücken und so beruhte die Sache auf sich. Aber bald kam ich zu einer herzzerschneidenden Szene, woran ich sogleich selber teilnehmen sollte. Loskine, mit dem Strickzeug auf dem Schoße, saß an der Erde, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, indes ihr Liebhaber unter gräßlichen Verwünschungen und im heftigsten Schmerz ihr ein offenes Geständnis über jenen Vorfall auszupressen suchte. Wie[187] er mich gewahr wurde, sprang er gleich einem Wütenden auf mich los, faßte mich an der Brust und forderte von mir, was jene ihm vorenthalte. Er zog das Messer und drohte mir noch immer, als wir schon von fünf bis sechs Personen, die herbeieilten, umringt waren. Der Vater entwaffnete ihn auf der Stelle. Aber erst Loskine, welche sich jetzt mit einem mir unvergeßlichen Ausdruck von würdevoller Ruhe aufhob, machte dem Lärmen ein Ende; sie faßte, ohne ein Wort zu sprechen, Marwin mit einem vielsagenden Blicke bei der Hand und er, der von der Bedeutung ihrer feierlichen Gebärde so mächtig ergriffen zu sein schien, wie ich, folgte wie ein Lamm, als sie ihn tief mit sich in das Gebüsche führte.

Nach einer Weile kehrte sie allein zurück, ging mit entschiedenem Schritt auf mich zu, den sie gleichfalls aus der Mitte der übrigen hinwegwinkte.

»Ich habe ihm versprochen«, fing sie, da wir weit genug entfernt waren und stillestanden, in ernstem Tone an, »ich hab ihm versprochen, dir zu sagen, daß ich dich hasse wie meinen ärgsten Feind und bis in den Tod. Ich sage dir also dieses. Doch du weißt es anders. Ich sage dir für mich, daß ich dich vielmehr liebe wie meinen liebsten Freund, und das solange ein Atem in mir sein wird. Aber du mußt fort von uns, auch das hab ich ihm gesagt. Mach es kurz, ich darf nicht lange ausbleiben. Küsse mich!«

»Muß ich fort«, antwortete ich, durch das Großartige dieses Augenblicks fast über allen Affekt hinausgehoben, »muß ich fort, und ist es wahr, daß du mich mehr liebest als alles, so laß uns zusammen gehen.«

Sie sah mich staunend an, dann schüttelte sie gedankenvoll das schöne Haupt:

»Loskine!« rief ich, »wolle nur, und was dir unmöglich scheint, soll gewiß möglich gemacht werden. Aber noch eins zuvor beantworte mir: Kannst du Marwins Verlangen nicht gutwillig erfüllen? Kannst du nicht die Seinige werden?«

Sie schwieg. Ich tat dieselbe Frage wieder, worauf sie ein bestimmtes: Nein! ausstieß. Mir fiel ein Berg vom Herzen und zugleich war mein Entschluß gefaßt. Mit Blitzesschnelle ordnete sich ein Plan in meinem Kopfe, dessen Unsicherheit ich freilich sogleich fühlte. Er lief darauf hinaus, daß ich nach meiner unverzüglichen Trennung von ihren Leuten allein bis G*** vorausreisen wolle, dem Städtchen, wo sie, wie ich ja wußte, nächstens[188] auch eintreffen würden. Dort sollte sie sich alsdann von den Ihrigen verlieren, sich unter der Hand und mit kluger Art nach dem angesehensten Gasthaus erkundigen, wo ich mich unfehlbar bereits befinden und alle Anstalten zur schnellen Flucht getroffen haben würde. Loskine hatte meinen Vorschlag kaum vernommen, so entriß sie sich mir eilig, denn wir hörten Geräusch. In einem Gewirre von ängstlich sich durchkreuzenden Gedanken über die Ungewißheit, in welcher ich in mehr als einer Hinsicht mit meinem Plane stand, blieb ich mir selber überlassen. Hat das Mädchen mich verstanden? Werde ich Gelegenheit finden, sie noch einmal darüber zu vernehmen? oder wenn sie mich gefaßt hat, wird sie sich zu dem Schritte entschließen? ist der letztere überhaupt ausführbar? Diese Zweifel beunruhigen mich nicht wenig, bis mir der glückliche Einfall kam, alles dem Willen des Schicksals anheimzustellen und zuletzt das Glücken oder Mißlingen meiner Absichten als Probe ihrer Güte oder Verwerflichkeit anzusehen. Mit dieser Idee schmeichelte ich mir ordentlich, sowie durch den strengen Vorsatz, Loskinen für jetzt nicht mehr aufzusuchen, mich wenigstens nicht näher mit ihr darüber zu verständigen. Um wieviel bedeutender – dies schwebte im Hintergrund meiner Seele – um wieviel glänzender wird nachher die Erfüllung deiner Erwartungen sein! Aber auch selbst in ihrem Fehlschlagen sah ich einen für mich reizenden Schmerz und eine schöne Entsagung voraus.

Jetzt begab ich mich zu meiner Gesellschaft, zog den Hauptmann beiseite und erklärte ihm die Notwendigkeit meiner Entfernung, die ich ihm durch einen letzten Beweis meiner Erkenntlichkeit um so leichter verschmerzen machte. Er empfing mein immer ansehnliches Geschenk mit einer Miene von Stolz und Freundlichkeit, erbot sich zu einem Ehrengeleite, was ich aber ausschlug, und er versprach, meiner Bitte gemäß, die andern in meinem Namen zu grüßen, da ich aus Schonung für Marwin einen allgemeinen Abschied vermeiden wolle. Im Grunde aber unterließ ich den Abschied aus Schonung für mich selber, aus einem eigenen Schamgefühl, das mich nicht vor den Menschen treten ließ, den ich um seine schönste Hoffnung zu betrügen gedachte. Ich suchte mich damit zu trösten, daß ich mir sagte, er werde um nichts beraubt, das er je besessen hätte oder jemals besitzen könnte, denn Loskinens Herz war weit von ihm entfernt.

In kurzer Zeit befand ich mich wieder allein und in meinen[189] ordentlichen Kleidern. Ich verfolgte zu Pferde mit einem gleichfalls berittenen Begleiter aus dem nächsten Dorfe einen Umweg nach G*** welchen, wie zu vermuten war, der Hauptmann nicht einschlug. Diese Vorsicht gebrauchte ich auf alle Fälle, so wie ich ihm auch die Richtung meiner Reise falsch angab.

In G. langt ich beizeiten an und nahm mein Absteigequartier gemäß dem Loskinen gegebenen Worte. Was meine Absicht weiter fördern konnte ward unverzüglich eingeleitet. Einige neue Kleidungsstücke, vor allem ein anständiger Mantel lag für die Geliebte bereit. Es fand sich ein bequemer verschlossener Wagen, dessen Anblick mich mit abwechselnd glücklichen und bekümmerten Ahnungen erfüllte; doch erhielt sich meine Hoffnung um so aufrechter, je weiter ich die Zeit hinaussetzte, wo meiner Berechnung nach die Ankunft des Trupps erfolgen konnte. Dies war auf den folgenden Morgen, als den eigentlichen Markttag. Ganz gelassen schaute ich soeben von meinem Zimmer auf die Straße hinab und überlegte, nicht ohne einige bedenkliche Rücksicht auf den sehr herabgesunkenen Zustand meiner Börse, die Art und Weise, wie ich das in den nächsten Tagen unfehlbar hier auf der Post einlaufende Paket von S. wollte am zweckmäßigsten heimwärts mir nachschicken lassen. Ich sah unter diesen Betrachtungen ruhig zu, wie unter meinem Fenster ein Junge vom Haus mit einer neuen hölzernen Armbrust spielte, wobei ein dunkles, gleichgültiges Gefühl in mir war, als wäre mir ein gleiches Instrument während der letzten Zeit irgendwo vorgekommen. Wie ein Blitz durchzückt mich plötzlich der Gedanke, daß ich noch vor zwei Tagen dergleichen Schnitzarbeit in den Händen Loskinens gesehen, daß sie bereits in der Nähe sein müsse, daß sie jeden Augenblick in das Haus treten könne. Ich war außer mir vor Freude, vor Erwartung und Angst. Aber dieser peinvolle Zustand sollte nicht lange dauern. O Gott! wer schildert den Augenblick, da die herrliche Gestalt in mein Zimmer schlüpfte, diese Arme sie empfingen und sie mit ersticktem Atem rief: »Da bin ich! da bin ich Unglückliche! beginne mit mir, was du willst!«

In kurzem saßen wir im Wagen; erst fuhr ich allein eine Strecke weit vor die Stadt und erwartete sie dort. Wir reisten den Tag und die Nacht hindurch und sind vorderhand weit genug, um nichts mehr zu fürchten. Aber welche Not, welche süße Not hatt' ich, den Jammer des holden Geschöpfs zu mäßigen. Sie schien jetzt erst den ungeheuren Schritt zu überdenken,[190] den sie für mich gewagt, sie quälte sich mit den bittersten Vorwürfen und dann wieder lachte sie mitten durch Tränen, mit Leidenschaft mich an sich pressend. So kamen wir gegen Tagesanbruch im Grenzorte B. ermüdet an. Ich schreibe dies in einem elenden Gasthof, indessen Loskine nicht weit von mir auf schlechtem Lager eines kurzen Schlafs genießt. Getrost, gutes Herz, in wenig Tagen zeig ich dir eine Heimat. Du sollst die Fürstin meines Hauses sein, wir wollen zusammen ein Himmelreich gründen, und die Meinung der Welt soll mich nicht hindern, der Seligste unter den Menschen zu sein.


*


Hier brach das Tagebuch des Malers ab. Der Pfarrer machte eine Pause und Jungfer Ernestine sagte: »Er brachte sie also ins Vaterland und nahm sie förmlich zum Weibe?« »Ja, leider daß Gott erbarm! er setzt' es durch. Er verleugnete die abscheuliche Herkunft der Person, doch man merkte sogleich Unrat, und wer von der Familie hätte sich nicht davor bekreuzen sollen, so eine wildfremde Verwandtschaft einzugehen? Alles riet dem Bruder ab, alles verschwor sich gegen eine Verbindung, ich selbst, Gott vergebe mir's, habe mich verfeindet mit ihm, so lieb ich ihn hatte. Umsonst, der Fürst war auf seiner Seite, er ward in der Stille getraut und lebte mit dem Weibsbild einsam genug auf seinem kleinen Gute. Seine Kunst nährte ihn vollauf, aber es konnte kein Segen dabei sein; beide Eheleute, sagt man, hätten sich geliebt, abgöttisch geliebt, und doch, heißt es, sei sie in den ersten Monaten krank geworden vor Heimweh nach ihren Wäldern, nach ihren Freunden. Man sage mir was man will, ich behaupte, so ein Gesindel kann das Vagieren nicht lassen, und mein armer Bruder muß tausendfachen Jammer erduldet haben. Es dauerte kein Jahr, so schlug der Tod sich ins Mittel, die Frau starb in dem ersten Kindbett. Euer Onkel statt, wie man hoffte, dem Himmel auf den Knieen zu danken, tat über den Verlust wie ein Verzweifelnder; er lebte eine Zeitlang nicht viel besser als ein Einsiedler; sein einziger Trost war noch das Kind, das am Leben erhalten war und in der Folge eine unglaubliche Ähnlichkeit mit der Mutter zeigte. Er ließ das Mädchen sorgfältig bei sich erziehen bis in sein siebentes Jahr. Da strafte Gott den hart Gezüchtigten mit einem neuen Unglück. Das Kind ward eines Tags vermißt, niemand begriff, wohin es geraten sein konnte. Später fand man Ursache, zu glauben, daß die verruchte Bande den Aufenthalt meines[191] Bruders entdeckt, und weil die Frau nicht mehr zu stehlen war, sich durch den Raub des Mädchens an dem Vater gerächt habe. Sein halb Vermögen ließ dieser es sich kosten, seinen Augapfel wieder an sich zu bekommen, vergebens, er mußte die Tochter verlorengeben, und nie vernahm man weiter etwas von ihr. Und heute nun – es ist ja unfaßlich, es ist rein zum Tollwerden, mir wirbelt der Verstand, wenn ich's denke, heute muß ich es erleben, daß der Bastard mir durch meine eigenen Kinder über die Schwelle gebracht wird. Mir ist nur wohl, seit sie wieder aus dem Haus ist! Wenn sie sich nur nicht irgendwo versteckt! dort liegt ja ihr Bündel noch; wenn nur nicht der ganze Trupp hier in der Nähe umherschleicht! Heiliger Gott! wenn sie mir das Haus anzündeten, die Mordbrenner – Auf, Kinder! mir läuft es siedend über den Rücken, mir ahnet ein Unglück! Durchsucht jeden Winkel – der Knecht soll den Schultheiß wecken – man soll Lärm machen im Dorfe –«

»Um Gottes willen, Vater was denken Sie?« riefen die Mädchen, »besinnen Sie sich doch! die Zigeuner sind ja meilenweit von uns entfernt und das Mädchen wird uns nicht schaden.«

»Was? nicht schaden? wißt ihr das? Ist sie nicht von Sinnen? Was ist von einer Närrin nicht alles zu fürchten!«

»So kann ja Johann die Nacht wachen, wir alle wollen wachen.«

»Keinen Augenblick hab ich Ruh, bis ich mich überzeugt, daß nicht irgendwo Feuer eingelegt ist. Kommt! ich habe nun einmal die Grille; begleitet mich.«

So tappte man denn zu dreien ohne Licht durch das ganze Haus; die Gänge, die Ställe, die Bühne, alles wurde sorgfältig untersucht. Als man in die Dachkammer kam, wo sich das merkwürdige Bild befand, empfanden die Mädchen einen heimlichen, jedoch reizen den Schauder; es war so aufgehängt, daß soeben der Mond sein starkes Licht darauf fallen ließ, und selbst der Pfarrer ward wider Willen von der dämonischen Schönheit des Gesichtes festgehalten, man hätte es wirklich für ein Porträt Elisabeths halten können; von ganz eigenem, nicht weiter zu beschreibendem Ausdruck waren besonders die braunen durchdringenden Augen. Keines von den dreien wollte ein lautes Wort sprechen, nur Adelheid fragte den Vater, ob der Onkel es gemalt? ob es seine Frau vorstelle? Der Pfarrer nickte, nahm das Bild seufzend von der Wand und versteckte es in die hinterste Ecke.[192]

Im Vorbeigehen traten sie in Theobalds Schlafkammer, er schlief ruhig, die Hände lagen gefaltet über der Decke.

Mitternacht war vorüber. Der Alte hatte wenig Lust sich zur Ruhe zu begeben, die Töchter sollten ihm Gesellschaft leisten, und um sie wach zu erhalten mußte er den Rest der traurigen Geschichte erzählen. »Dieser geht nahe zusammen«, sagte er. »Der Unfall mit dem Kinde vernichtete den Oheim ganz; der Aufenthalt im Vaterlande ward ihm unerträglich, er ging auf Reisen, nach Frankreich und England, soll aber in steter Verbindung mit seinem Fürsten geblieben sein und fortwährend für ihn gearbeitet haben, bis er aus unbekannten Gründen mit dem Hofe zerfiel. Auf einmal verscholl er und man weiß bloß, daß er mit einem Schiffe zwischen England und Norwegen umgekommen. Den größten Teil seines Vermögens hatte er bei sich, aber aus dem, was er zurückließ, zu schließen, schien er eine Heimkehr nicht aufgegeben zu haben. Seine Güter fielen der Herrschaft zu, welche Anspruch darauf machte. Außer einem kleinen Vorrat von Effekten, worunter auch jenes Gemälde und das Diarium sich befand, kam nichts an uns. – So endete der Bruder eures Vaters. Ich sage, Friede sei mit ihm! Ich werde ihn aufrichtig beweinen bis an meinen Tod, ob ich gleich was er tat nicht billigen kann und jeden warnen muß, dem Gott ein so gefährlich Temperament verlieh, daß er den Fallstrick des Versuchers vermeide und nie die Bahn heilsamer Ordnung verlasse. Ich denke hier an meinen eigenen Sohn, an Theobald. Der Junge hat, so fromm und sanft er ist, mich manchmal schon erschreckt. So ganz das Gegenteil von mir! So manches Übertriebene, Unnatürliche! So heute wieder – mir läuft die Galle über, wenn ich's denke – was soll die dumme Neugierde auf die Fremde? nichts, als daß seine Phantasie toll wird! Und du, Adelheid, machst oft gemeinschaftliche Sache mit ihm, statt ihn zu leiten – Er läßt sich nicht wie andere Knaben seines Alters an. Da – stundenlang oben im Glockenstuhl sitzen, wie ein Träumer, Spinnen ätzen und aufziehen, einfältige Geheimnisse, Zettel, Münzen unter die Erde vergraben – was sind mir das für Bizarrerien? Und daß ich einen Maler aus ihm mache, soll er sich nur nicht einbilden. Das ist das ewige Zeichnen und Pinseln! wo man hinsieht, ärgert man sich über so ein Fratzengesicht, das er gekritzelt hat, und wär's auch nur auf dem Zinnteller. Wenn er einmal sonntags nachmittag zur Erholung sich eine Stunde hinsetzte und machte[193] einen ordentlichen Baum, ein Haus und dergleichen nach einem braven Original, so hätt ich nichts dagegen, aber da sind es nur immer seine eigenen Grillen, hexenhafte Karikaturen und was weiß ich. Bei Gott! gerade solche Possen hat Onkel Friedrich in seiner Jugend gehabt. Nein, bei meiner armen Seele, mein Sohn soll mir kein Maler werden! Solange ich lebe und gebiete, soll er's nicht!«

Die Mädchen machten große Augen zu diesen Worten, denn es war beinahe das erstemal, daß der Vater über seinen Liebling entrüstet schien, und doch war auch dies nur der ängstliche Ausdruck seiner grenzenlosen Vorliebe für ihn. Endlich brach er auf und noch während des Auskleidens redete er nach seiner heftigen Gewohnheit laut mit sich selber über den störenden Vorfall des Abends.

Am folgenden Morgen meldete der Knecht, daß, als er mit Tagesanbruch aufgestanden und in den Hof getreten, um Wasser zu schöpfen, das Zigeunermädchen ihm dort in die Hände gelaufen sei; sie hätte sich nur ihr Kleiderbündel von ihm bringen lassen, um so gleich weiterzugehen. Sie habe ihm einen freundlichen Gruß an Adelheid, besonders aber an den jungen Herren befohlen. Ein Medaillon, das sie vom Halse losgeknüpft, soll man ihm als Angebinde von ihr einhändigen.

Der Vater nahm das Kleinod sogleich in Empfang; es war von feinem Golde, blau emailliert, mit einer unverständlichen orientalischen Inschrift; er verschloß es und verbot jedermann aufs strengste, seinem Sohn etwas von diesem Auftrage kundzutun.

Der junge Mensch hatte außer Adelheiden keine Seele, der er sein Inneres hätte offenbaren mögen. Er wandelte, seitdem er Elisabethen gesehen, eine Zeitlang wie im Traume.

Wenn er seit seinen Kinderjahren, in Rißthal schon, so manchen verstohlenen Augenblick mit der Betrachtung jenes unwiderstehlichen Bildes zugebracht hatte, wenn sich hieraus allmählich ein schwärmerisch religiöser Umgang wie mit dem geliebten Idol eines Schutzgeistes entspann, wenn die Treue, womit der Knabe sein Geheimnis verschwieg, den Reiz desselben unglaublich erhöhte, so mußte der Moment, worin das Wunderbild ihm lebendig entgegentrat, ein ungeheurer und unauslöschlicher sein. Es war, als erleuchtete ein zauberhaftes Licht die hintersten Schachten seiner inneren Welt, als bräche der unterirdische Strom seines Daseins plötzlich lautrauschend zu[194] seinen Füßen hervor aus der Tiefe, als wäre das Siegel vom Evangelium seines Schicksals gesprungen.

Niemand war Zeuge von dem seltsamen Bündnis, welches der Knabe in einer Art von Verzückung mit seiner angebeteten Freundin dort unter den Ruinen schloß, aber nach dem, was er Adelheiden darüber zu verstehen gab, sollte man glauben, daß ein gegenseitiges Gelübde der geistigen Liebe stattgefunden, deren geheimnisvolles Band, an eine wunderbare Naturnotwendigkeit geknüpft, beide Gemüter, aller Entfernung zum Trotze, auf immer vereinigen sollte.

Doch dauerte es lang, bis Theobald die tiefe Sehnsucht nach der Entfernten überwand. Sein ganzes Wesen war in Wehmut aufgelöst, mit doppelter Inbrunst hielt er sich an jenes teure Bild; der Trieb zu bilden und zu malen ward jetzt unwiderstehlich und sein Beruf zum Künstler war entschieden.

In kurzem starb der Vater am Schlagflusse. Die Kinder wurden zerstreut. Theobald ward einem wackern Manne (dem Förster zu Neuburg) in die Kost gegeben, von dessen Hause aus er die benachbarte Malerschule zu *** besuchte. Nach fünfthalb Jahren fleißiger Studien fand ein reicher Gönner sich bewogen, dem jungen Manne die Mittel zu seiner weiteren Bildung im Auslande zu reichen. In hohem Grade fruchtbar ward ihm der Aufenthalt zu Rom und Florenz, aber selbst die mannigfaltigen Anschauungen dieser herrlichen Kunstwelt vermochten den Grundton jener früheren Eindrücke nie völlig zu verdrängen, deren mysteriöser Charakter zunächst in der Idee des Christlichen eine analoge Befriedigung fand.

Elisabethen hat er nie wiedergesehen.[195]

Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 7-196.
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