13. Bild

[663] 22. August 1927, abends.

Zimmer auf dem Landsitz des Gouverneurs Fuller.

Fuller, Thayer, Katzmann, Richter, Beamte.


FULLER. Gentlemen, ich habe Sie zu mir in mein Landhaus gebeten, um in der letzten Stunde Ihr Einverständnis festzustellen, daß diese leidige und langwierige Angelegenheit der beiden italienischen Anarchisten jetzt unwiderruflich zum Abschluß gebracht wird. Die mir am 9. August unter dem Drucke, ich möchte sagen, physischen Zwanges mit Beschwörungen, Drohungen, unmittelbaren Ankündigungen von Attentaten und Racheakten herausgepreßte Aussetzung der Hinrichtung bis zur heutigen Nacht muß nach meiner Meinung, die von allen zu Rate gezogenen Instanzen geteilt wird, die endgültig letzte Verzögerung gewesen sein. Wir dürfen keine Schwäche mehr zeigen. Die Frist ist abgelaufen, und der Gerechtigkeit wird, falls Sie nicht anderer Auffassung geworden sein sollten, gleich nach Mitternacht Genüge geschehen.

THAYER sieht nach der Uhr. Dann haben die Banditen noch vier Stunden zu schnaufen.

FULLER. Ich gebe Ihnen nun kurz den Bericht über den Fortgang der Dinge in den letzten Tagen, da nach werde ich dann Ihre formelle Zustimmung zu der Exekution erbitten.[664]

KATZMANN. Ein Anschlag der Radikalen auf unsere Sitzung ist doch nicht zu befürchten?

FULLER. Sie können unbesorgt sein, Staatsanwalt Katzmann. Die Lage des Landgutes auf einer Insel würde einen Überfall ohnehin sehr schwierig machen. Es befinden sich aber zur Bewachung im Hause, im Park und an der Zufahrtsstraße auf dem Festlande neunhundert Soldaten, davon sechs Kompanien Infanterie und zwei Maschinengewehrabteilungen. Die Delegationen, die von Boston und von überall her die ganzen letzten Tage fortwährend ankamen und die ich aus wohlerwogenen Gründen nicht abweisen kann, werden selbstverständlich, noch ehe sie das Motorboot zur Überfahrt betreten, gründlich auf Waffen durchsucht. Es kann nichts passieren.

THAYER. Zuzutrauen ist dem aufgepeitschten Gesindel viel. Nach den Bombenwürfen in New York und San Francisco jetzt die Explosionen in Buenos Aires: das revolutionäre Pack hängt in der ganzen Welt zusammen wie Kletten.

FULLER. Die Generalausstände an vielen Orten, besonders auch in Südamerika, dann die Massendemonstrationen in den europäischen Großstädten, die größten, die bis jetzt erlebt wurden, wie die diplomatischen Vertreter melden, müssen unsere Ansicht befestigen, daß sich der Fall Sacco und Vanzetti zu einer Prestigefrage für die amerikanische Staatsautorität ausgewachsen hat.

KATZMANN. Jedes weitere Zurückweichen würde als Feigheit gedeutet werden. – Doch, noch eine Frage, Gouverneur Fuller: sind auch die Vorkehrungen in Boston selbst, vor allem im Umkreise des Gerichtsgebäudes und des[665] Staatsgefängnisses von Charlestown ausreichend und allen Eventualitäten gewachsen?

FULLER. Über die Oststaaten Nordamerikas ist der Belagerungszustand verhängt. Alle verfügbaren Kräfte des Militärs und der Polizei sind in Alarmbereitschaft. Die Regierungsgebäude sind durch besondere Militärformationen mit den schwersten Waffen beschützt. Es ist für Panzerwagen gesorgt, vor dem Gefängnis sind Barrikaden errichtet, und die Polizei ist mit Gasbomben ausgerüstet. Kriminalbeamte und Vigilanten sind überall zu vielen Hunderten tätig, und jede geringste Unbotmäßigkeit wird durch Verhaftungen und nötigenfalls schärfere Maßnahmen unterdrückt werden.

THAYER. Sehr gut, sehr notwendig. Zu denken, daß die Radikalen in Genf nicht davor zurückgeschreckt sind, den berühmten Glassaal des Völkerbundpalastes zu zertrümmern!

EIN RICHTER. Die geheiligte Stätte des Weltfriedens!

KATZMANN. In Paris und Hamburg ist es zu regulären Straßenkämpfen zwischen dem Pöbel und der Polizei gekommen. In allen europäischen Häfen weigern sich die Arbeiter, unsere Schiffe zu löschen. In Norwegen ist der Generalstreik proklamiert. Das ist denn doch schon der international organisierte Aufruhr!

THAYER. Das alles wegen zweier Nichtsnutze von italienischen Kriegsdienstverweigerern! Nur jetzt kein Zaudern mehr.

EIN BEAMTER. Nein, wir müssen Energie zeigen.

FULLER. Ich sehe mit Genugtuung, daß Ihre Stimmung meiner Auffassung entspricht. Ich bitte nun um Ihre Aufmerksamkeit: Nach dem Spruch des Dreimännerkollegiums rief die Verteidigung das Oberste Gericht von Massachusetts[666] an. Am 19. August ist dessen Votum ergangen; der Oberste Gerichtshof hat sich, wie zu erwarten war, geweigert, sich über den Schuldspruch der Geschworenen überhaupt auszusprechen. Die angeblichen Beweise der Verteidigung für die Voreingenommenheit des Richters Thayer hat er nicht geglaubt würdigen zu sollen.

THAYER. Eine unverschämte Bande, diese Advokaten!

FULLER. Hierauf machte die Verteidigung den Versuch, einen Appell an den Höchsten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zu richten, um den nunmehr endgültig festgesetzten Hinrichtungstermin durch die höchste Instanz aufheben zu lassen. Der Versuch ist indessen gescheitert. Ein solches Schriftstück muß, wie Sie wissen, die Unterschrift eines Mitglieds des Höchsten Gerichts selbst tragen. Der Vorsitzende Holmes weigerte sich, diese Unterschrift zu geben. Der Oberrichter Taft konnte rechtzeitig verständigt werden, daß man ihn für den Zweck weich machen wolle. Er reiste schleunigst ab und befindet sich jetzt in Kanada. Heiterer Beifall. Ebenso gelang es den Freunden der Anarchisten nicht, den Senator Borah oder sonst eines der in Betracht kommenden Mitglieder des Bundesgerichts zu erreichen. Zwar glückte es den Verteidigern, die ihnen zur Erschwerung ihrer Aktion gestellte Bedingung zu erfüllen, die fehlenden Akten beim Büro des Bundesgerichts in den wenigen zur Verfügung stehenden Stunden nachzuliefern, doch konnten ihre Pläne von einer anderen Seite her erfolgreich durchkreuzt werden. Es war ja denkbar, daß sich nach der Einreichung des Gesuches ein Bundesrichter aus Mitleid oder aus anderen[667] Gründen noch zur nachträglichen Unterzeichnung hätte bewegen lassen. Aber zur vorgeschriebenen Fassung einer solchen Eingabe gehört die Beifügung sämtlicher Prozeßakten. Diese Akten befinden sich beim Justizamt, und so brauchte sich diese Behörde nur zu sträuben, sie herauszugeben, – –

KATZMANN. – – was selbstverständlich geschehen ist!

FULLER. – und die Gerichtsbeamten hatten den formellen Grund, die Weiterleitung des Gesuches, da es der vorgeschriebenen Fassung nicht entsprach, abzulehnen. Damit war dank der Aufmerksamkeit aller in Betracht kommenden Faktoren auch die letzte Chance, mit juristischen Mitteln zum Ziel zu kommen, fehlgeschlagen, und es blieb nur die Möglichkeit eines Gnadenaktes durch mich oder den Präsidenten Coolidge. Bekanntlich ist der Präsident, um den Unannehmlichkeiten der ganzen Angelegenheit enthoben zu sein, schon vor einiger Zeit aufs Land gereist, wo er mit keinerlei Amtsgeschäften behelligt sein will. Ich meinerseits möchte jedoch nicht gern dem Begnadigungsrecht des Präsidenten der Vereinigten Staaten in den Weg treten, zumal die Schwere des Verbrechens und die unsympathischen Persönlichkeiten der Verurteilten eine übergroße Milde in diesem Falle kaum gerechtfertigt erscheinen lassen. Rechtsanwalt Thompson besteht nun auf der nochmaligen Gewährung einer Frist, binnen welcher er – –

THAYER. Wie oft denn noch? Unter keinen Umständen!

FULLER. Ich sagte bereits, ich bin nicht mehr geneigt, den Fall noch weiter in die Länge zu ziehen. Der Tumult wegen der Affäre in der ganzen Welt, die Zeitungshetze zugunsten der Verurteilten, die gänzlich unpassende Einmischung[668] Europas in die interne amerikanische Angelegenheit, an der sich leider sogar staatliche Organe beteiligen, stellt Amerika vor die gebieterische Pflicht, den Gordischen Knoten mit entschlossenem Hieb zu durchhauen. Dieses Land hat eine Geschichte, in der die Tugenden der Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit unauslöschlich leuchten. Hiervon vermag das Geschrei von Phrasen und Verleumdungen umnebelter Ordnungsfeinde nichts zu verkleinern. Dieses Land steht aber im Augenblick in einer Situation, in der es gegenüber einer wüsten Agitation destruktiver Elemente seine Reputation wahren muß. Es darf nicht sein, daß Amerika vor dem Gebot des Auslands einen kleinsten Schritt zurückweicht. Selbst ein Gnadenerweis, schon die Umwandlung der Todesstrafe in Zuchthaus auf Lebenszeit, würde als Rückzug aufgefaßt werden und schlösse überdies die Gefahr in sich, daß der Kampf um die Befreiung Saccos und Vanzettis lärmend und die Staatsräson schädigend weiter toben würde, wie wir das ja im Falle der anarchistischen Bombenwerfer Mooney und Billings tatsächlich erlebt haben. Möge die Vollstreckung des Urteils im ersten Affekt die öffentliche Erhitzung zum Sieden steigern – sind die Mörder erst einmal tot, dann ist der Propaganda gegen unsere Rechtsinstitutionen das konkrete Objekt genommen und die Sicherheit des Rechtslebens, die geregelte Ordnung unseres Staatswesens wird einen Triumph über das gärende Element der unteren Volksschichten errungen haben, der für lange Zeit den revolutionären Wühlern im Inland wie im Ausland die Lust benehmen wird, sich am Staatsbewußtsein Amerikas zu[669] messen. Ich bitte Sie daher, mich zu ermächtigen, alle weiteren Bitten und Beschwerden zurückzuweisen. Die Verteidiger werden um zehn Uhr hier sein, um den definitiven Bescheid auf ihren letzten Einspruch einzuholen. Beauftragen Sie mich, ihnen die Unabänderlichkeit des Beschlusses zu verkünden, und geben Sie mir auf, das Urteil zur festgesetzten Stunde vollstrecken zu lassen.

KATZMANN. Ich glaube aussprechen zu dürfen, daß wir die überzeugenden Darlegungen des Gouverneurs Fuller ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen haben, daß seine Argumente keine Einwendungen erlauben und daß wir seiner Absicht, die Affäre heute noch zu bereinigen, mit Befriedigung zustimmen.

THAYER. Niemand kann Ihnen, Gouverneur, niemand kann uns Richtern oder den Staatsanwälten vorwerfen, daß wir nicht alles getan hätten, um der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Wir können die Verantwortung für die Hinrichtung der beiden Schädlinge leichten Herzens auf uns nehmen, zumal sie von allen übergeordneten Stellen mit getragen wird.

FULLER. Ich danke Ihnen, Gentlemen. Morgen wird es keinen Fall Sacco und Vanzetti mehr geben.


Alle ab außer Fuller und dem Sekretär.


Ist noch etwas zu erledigen?

SEKRETÄR. Die Frau von Sacco und die Schwester von Vanzetti warten draußen.

FULLER. Weibertränen auch noch! – Gott sei Dank, daß das jetzt alles mal ein Ende nimmt. Also lassen Sie sie hereinkommen.


Rosa und Luigia treten ein.


FULLER geht ihnen entgegen, gibt ihnen die Hand. Arme Frauen, wie Sie mir leid tun!

ROSA. Helfen Sie, Gouverneur, Sie können es![670]

FULLER. Ich habe das Äußerste versucht, um das Unglück abzuwenden. Leider war alles vergeblich.

LUIGIA. Können Sie denn gar keine Hoffnung mehr geben?

FULLER. Wir Staatsbeamte sind nicht so allmächtig, wie Sie annehmen. Unser Handeln ist durch bittere und harte Pflichten vorgezeichnet.

ROSA. Wir haben bis jetzt unser Recht gefordert, jetzt kommen wir nur noch und bitten um Barmherzigkeit.

LUIGIA. Wir flehen Sie an – begnadigen Sie meinen unglücklichen Bruder und den armen Sacco!

FULLER. Es ist schwer, mehr als schwer, Sie nicht trösten zu können. Meine Pflicht ist mir vom Gesetz vorgeschrieben. Ich kann nicht darüber hinaus – so gern ich wollte.

ROSA. Doch: Sie können – wenn Sie nur wirklich wollen, können Sie auch. Ich weiß es.

LUIGIA fällt vor ihm nieder. Gouverneur Fuller! Noch nie habe ich mich vor einem Menschen gedemütigt, noch nie einen Menschen angebettelt. Ich tue es – für zwei Unschuldige, die sterben sollen! Haben Sie Mitleid! Haben Sie Erbarmen! Gnade! Gnade!

FULLER. Um Gottes willen, stehen Sie auf, beste Frau! Sie treiben mir die Tränen in die Augen. Wenn ich nur helfen könnte – wie gerne täte ich es.

ROSA. Sie selbst sind Vater. Sie haben Kinder wie Nicola Sacco! Fühlen Sie doch einmal, wie ein Vater fühlt. Denken Sie sich Ihre Kinder in der Lage der unseren. Bitte, Gouverneur, bitte, handeln Sie, wie ein guter Vater handelt. Das ist besser, als blindlings die Buchstaben steinerner Gesetze zu erfüllen. Um der Kinder willen – bitte!

FULLER. Arme Frau, liebe arme Frau. Ihr Schmerz[671] drückt mir das Herz ab – gehen Sie, gehen Sie! Ich kann nicht helfen!


Er läuft ins Nebenzimmer.


ROSA. Nichts – nichts. Luigia, rasch, komm, daß wir sie noch sehen!


Vorhang.


Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 663-672.
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