I

[196] »– – und das, mein Lieber, ist mein letztes Wort«, schloß Dr. Nelly Pritschke, indem sie den Arm von der Schulter des ausgestopften Gorillas löste und weit von sich streckte, den Zeigefinger in der Richtung des Glasschrankes, der die toten Meerkatzen beherbergte, den Blick aber, alle Strahlen des prismatischen Kneiferglases zu einem Wurfgeschoß zusammenballend, mit eiserner[196] Strenge mitten im verängstigten Faltengesicht ihres Bräutigams Felix Klötschipper.

Jetzt wußte Felix, woran er war. Vierzehn Jahre waren sie verlobt, vierzehn Jahre, in denen Nellys zoologische Studien sein Vermögen und den Rest ihrer weiblichen Jugend aufgezehrt hatten – und jetzt, da ihr epochales Werk »Niwrad! Zurück zum Affen!« die Braut in den Stand setzte, eine Familie zu ernähren, ja, ein amerikanischer Krösus, selbst ein begeisterter Affenfreund und hingerissen von der umwälzenden Theorie der Zoologin, ihr unbegrenzte Summen zur praktischen Erprobung ihrer Behauptungen zur Verfügung gestellt hatte; jetzt, da also der Eheschließung keinerlei materielle Bedenken mehr im Wege standen und die Heirat für ihn, der schon seiner Wirtin den Zins nicht mehr zu zahlen wußte, zur gebieterischen Notwendigkeit wurde – jetzt diese Bedingung!

Felix Klötschipper war von jeher ein sittenstrenger Mann gewesen, und die vom Vater ererbten Mittel hatten ihm erlaubt, ohne Ausübung eines Gewerbes dem Beruf zu leben, die eigene Sittenstrenge anfeuernd und beispielgebend unter seine Volks- und Zeitgenossen zu tragen. Es gab keinen Verein für keuschen Wandel oder gegen Schmutz und Schund, in dem Felix nicht Vorstands- oder gar Ehrenmitglied war, und wo irgend sich Gelegenheit bot, Anstoß zu nehmen – er nahm ihn.

Eines Tages aber – er stand im sechsunddreißigsten Lebensjahr – lernte er bei einem Vortrag über »Winke zur Veredlung der sinnlichen Triebe in der Tierwelt« die Kandidatin der Zoologie kennen, die ihm von der Vorsehung selbst gesandt schien, seinen Lebensweg fürderhin zu begleiten. Schon ihr Äußeres kam ihm wie eine stete Mahnung zu Keuschheit und Enthaltsamkeit vor, und als er dann erst ihren Geist bewundern gelernt hatte, der schon damals – sie war neunundzwanzig Jahre alt – mit der diszipliniertesten Energie dem Studium der menschenähnlichen Affen oblag, da wußte er: »Diese Frau[197] oder keine! Nur sie wird meinem Wesen, meiner Natur wahres Verständnis entgegenbringen!«

Nelly verweigerte dem Bewerber um so weniger das Jawort, als ihr die gesicherte Lebenslage Felix Klötschippers die Erlangung des Doktorgrades und die Fortsetzung ihrer Studien gewährleistete, welche sie nunmehr auf die Erforschung der Familienbeziehungen hin spezialisierte, aus denen der Mensch in antediluvianischen Zeiten seine zoologische Unabhängigkeit vom Anthropoiden entwickelt hatte. Nicht nur, daß es ihr nun möglich wurde, bei vielen Menagerien und zoologischen Gärten die verendeten Affen aller Sorten im Abonnement zu beziehen, so daß Messungen, Vergleichungen und Untersuchungen jeder Art und die Anlegung einer vortrefflichen Sammlung toter Gibbons, Schimpansen, Hulmanns, Paviane und Orang-Utans ihre wissenschaftlichen Arbeiten wirksam fördern konnten – nein, außer diesen Vorteilen, die sein Vermögen verschaffte, bot auch die Person des Bräutigams in ihrer biologischen Besonderheit einen starken Anreiz für Nelly, ihn ständig an sich zu fesseln. Felix hatte Arme von erstaunlicher Länge, überdies ungeheure, weit abstehende und fächerartig ausgespreizte Ohrmuscheln, und seine Stirn- und Nackenbildung, die in weitem Abstand unter der breiten Knopfnase tief über den sehr großen Mund hängende Oberlippe, das mächtig vorgebaute Gebiß, der Gang und die Behaarung forderten die Gelehrte unausgesetzt zu vergleichenden Beobachtungen heraus.

Zwar dauerte es zwei volle Jahre ihrer Brautzeit, bis sie Felix bewegen konnte, diejenigen Untersuchungen an seinem Körper vornehmen zu lassen, die zur Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden etwa zwischen seiner Beckenbildung und fossilen Knochenresten erforderlich waren. Erst als er sich zuverlässig überzeugt hatte, daß seine künftige Gattin nicht entfernt von sinnlichen Begierden bewegt wurde, als sie beispielsweise seine Hinterseite nach den vermuteten Rückständen[198] eines beweglichen Schwanzes zu erforschen begehrte, und als er nach einem eingehenden Blick auf die knochige Gestalt Nellys in sich die Gewißheit erhärtet hatte, daß keine fleischliche Anfechtung seine Sittenfestigkeit bei der Prozedur zu erschüttern drohte – erst da ließ er sich herbei, sich jeweils nur so weit, wie die Wissenschaft die Besichtigung unerläßlich machte, vor der Verlobten zu entblößen.

Ihr gelang es auf diese Art, durch Rückschlüsse vom lebenden Menschen aus, somit durch eine der üblichen Forschung entgegengesetzte Methode, die nahe Verwandtschaft mit gewissen Gattungen von Großaffen aufzuhellen, woran bisher Anthropologen und Paläontologen soviel verlorenen Schweiß gewandt hatten, weil sie glaubten, dem Problem durch Ausgraben der Gebeine von Menschenahnen aus der Tertiär- und Pliozänzeit beikommen zu können. Es gelang Nelly, an ihrem Bräutigam Merkmale festzustellen, die ihn anatomisch in überraschende Nähe zu einer Gorilla-Art brachten, von der neuere Tropenreisende, die sie auf den Komoren angetroffen hatten, berichteten.

In dem zweibändigen Werk, in dem die Forscherin die Ergebnisse dieser Untersuchungen niederlegte, gab sie ausführlich Rechenschaft darüber, wie sie Felix methodisch mit allen bekannten Affensorten verglichen hatte, wie sie zuerst, veranlaßt durch gewisse Eigenschaften, die beim Kauen und andern unwillkürlichen Bewegungen zutage traten, Beobachtungen also sozusagen psychologischer Natur, eine Spur verfolgte, die zur Familie der Brüllaffen führte, bis sie dann doch zur Überzeugung kam, daß bei aller Verwandtschaft auch mit Pavianen und niederen Affen der anatomische Stammbaum zweifellos zu den sogenannten Menschenaffen führe, wobei schließlich nur Schimpanse und Gorilla als Urahn zur engeren Wahl blieben. Nelly Pritschke kam zu dem Schluß, daß keine der lebenden Affenarten unverändert die Charaktere der Menschenvorfahren in sich bewahrt[199] habe. Doch glaubte sie – und hier bahnte sie der Wissenschaft einen neuen Weg zu praktischer Empirie –, daß durch geeignete Kreuzungsexperimente eine Rückzüchtung zu den Übergangsformen zwischen Menschen und Affen und damit eine Neuschaffung des diluvianischen Urmenschen sowohl, als auch des eigentlichen Stammaffen der Menschheit bewerkstelligt werden könne. Der Titel »Niwrad« ergab sich aus dieser Umkehrung der Entwicklungsreihe, die Darwin aufzeigte, von selbst.

Es kam jetzt nur noch darauf an, Expeditionen auszurüsten, um die notwendigen Versuche anzustellen. Die Mittel waren dank der Opferfreudigkeit des amerikanischen Enthusiasten bereit. Jedoch hatte Nellys hinreißender »Aufruf an die Menschheit«, in den ihr Werk ausklang, trotz zahlloser Angebote nicht die erhoffte Auswahl brauchbarer Rückzeugungs-Individuen gezeitigt. Sie hatte darin Männer und Frauen aller Rassen aufgefordert, sich unter Beifügung von Nacktfotografien und beglaubigtem Signalement, das alle nach dem Bertillonschen Meßverfahren feststellbaren polizeilichen Steckbriefeigenschaften nebst genauer Angabe der Weltanschauung umfassen müsse, »an die Front der Anatomie« zu stellen. Geeignete Bewerber und Bewerberinnen sollten je nach ihrer animalischen Struktur mit der für sie geeigneten Affenart zur Paarung vereinigt werden, und je nachdem, was auf dem Engagements-Kontrakt als Charakteristikum vermerkt war – »Gibbon«, »Orang-Utan«, »Schimpanse« und so weiter –, sollte der oder die Betreffende in die nach Kompanien eingeteilten Register eingeordnet werden. Der Aufruf schloß mit den markigen Worten: »Zurück zum Affen! Freiwillige vor!«

Obwohl sich unter den Hunderten von Bereiterklärungen aus allen Erdteilen, die in überwältigender Mehrzahl von Frauen und Mädchen höherer Altersgrade ausgingen, Prachtexemplare befanden, deren Affenähnlichkeit aus den Lichtbildern verblüffend in die Augen sprang, so ergaben doch bei genauerer Prüfung die Maße[200] und Formen überall eine schon so weit vorgeschrittene zoologische Entwicklung zum ausgestalteten Menschen, daß sich Nelly eine erfolgreiche Rückbildung der Art von keinem der körungswilligen Pioniere ihrer Forschung versprechen konnte. Einzig Felix Klötschipper, ihr Verlobter, entsprach allen Anforderungen, und der Gedanke, er müsse Vater eines Gorillabastards jener neu entdeckten Komoren-Gattung werden, beschäftigte sie tagaus, tagein und verstärkte sich bei jedem Zusammensein mit dem Erwählten. Doch hatte sie noch nie gewagt, das Opfer von ihm zu verlangen, da sie fürchtete, ein solches Attentat auf seine sittlichen Grundsätze möchte ihn zu einer gänzlichen Lösung des Verhältnisses veranlassen und sie dadurch ihres einzigen produktiven Studienobjektes unwiederbringlich berauben.

Jetzt war er aber gekommen, um angesichts seiner bedrängten Lage auf die höchste Beschleunigung der ehelichen Verbindung zu dringen. Er setzte ihr in brodelnden Kehllauten auseinander, daß er seit Monaten schon jeder Fleischkost entraten müsse, da er alles, auch sein Letztes, für ihre Forschungen hingegeben habe, ja, daß er bereits in Schulden geraten sei und die Gläubiger, die er auf seine bevorstehende Heirat mit der berühmten Zoologin vertröstet habe, ihn wegen betrügerischer Vorspiegelungen gerichtlich zu belangen drohten.

Wie er nun so dasaß, die niedrige Stirn in breite Falten gelegt, zusammengekauert, daß die Knie vor dem Brustkasten standen, die schier unnatürlich langen Arme an den Leib gepreßt und mit den vielgelenkigen Fingern in den wolligen Haaren wühlend, wie er die Zähne fletschte in seiner Angst und die Nüstern sich fast bis an die Backenknochen zur Seite bogen, während die Ohren schaukelten, da fühlte sich Nelly von ihrer Forscherleidenschaft unwiderstehlich ergriffen, da empfand sie, daß hier der Erfüller all ihrer Gelehrtensehnsucht sitze und daß es Frevel wäre, länger zu zögern und die Bedrängnis, die ihn ihr auslieferte, ungenutzt zu lassen.[201]

Felix' Schreck, seine Verzweiflung war unbeschreiblich, als er die Bedingung erfuhr, deren Verweigerung den unwiderruflichen Abschied, deren Erfüllung die Hochzeit binnen vier Wochen mit anschließender gemeinsamer Reise zu den Komoren-Inseln bedeutete. Knapp und scharf hatte Nelly Pritschke gesprochen, und der einzige Zucker, mit dem sie die Pille versüßte, war die Zusicherung, daß er gegen sie keinerlei eheliche Verpflichtungen haben solle als die, die er an dem ihm zugedachten Gorillaweibchen erfüllen müsse. – »– und das, mein Lieber, ist mein letztes Wort.«

»Schande! Schande!« stöhnte Felix Klötschipper, »ja, Affenschande!« – Und seine Fingerknöchel staken aus dem Bartwulst hervor wie hölzerne Gardinennägel ... Dann willigte er ein.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 196-202.
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