3.

[333] Neugebornen Kindern muß man vorm Schlafengehen eine Schere aufgemacht auf die Wiege legen, bis sie getauft sind. Schlafen sie bei der Mutter, muß man sie beim letzten Wickeln mit einem Kreuz vor Brust und Stirn segnen. Sonst vertauschen sie die Unterirdischen.

Dennoch ward einmal einer Frau aus Amrum von den Onnerbänkissen ihr jüngster Knabe gestohlen. Das Kind, das sie an die Stelle des gestohlenen hingelegt hatten, sah aber diesem so ähnlich, daß die Mutter anfangs den Betrug nicht merkte. Später kam der gestohlene Knabe wieder; da wußten die Eltern nicht, welches ihr eignes rechtes Kind sei, bis ein Zufall sie belehrte. Es war in der Ernte; da ging die Frau einmal auf die Tenne, nahm die Wurfschaufel und warf damit das gedroschene Korn. Die beiden Knaben saßen dabei. Da fing der eine plötzlich an zu lachen. »Worüber lachst du?« fragte die Frau. »Ach«, sagte das Kind, »da kam eben mein Vater herein und holte sich eine halbe Tonne Roggen, und als er wieder hinausging, fiel er und brach ein Bein.« Da sprach das Weib: »Du bist es; nun geh, wo du hergekommen bist!« Damit nahm sie den Knaben und warf ihn durchs Fenster der Tenne hinaus, und sie sah nachher weder ihn noch seinen Vater wieder. Man muß übrigens die Tenne nicht gegen die Sonne, sondern mit der Sonne fegen, sonst stehlen die Unterirdischen das Korn; und damit hatte die Frau es wohl versehen.


Durch Herrn Hansen auf Sylt und Dr. Clement von Amrum.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 333.
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