Das Geheimnis der Straße

[34] Am nächsten Vormittage erschien ein absonderliches Paar auf den Trottoirs der Hauptverkehrsader der Stadt. Die Blicke der Menschen umgarnten dieses eine blonde Haupt. Die Augen der Jünglinge liefen scheu um diese Schultern. Es waren die einer Karyatyde, die ihre Pflicht[34] vernachlässigt und den wuchtenden Altan irgendeines Schloßes im Stiche gelassen hatten. Von dort stieg die Verwunderung zu dem kleinen zarten Weibe herab. Vor einem großen breitrandigen Hute, halb damenhaft, halb kindlich, zeigte sich ein kleines Gesichtchen, mit blauen Augen, die ins Unwirkliche sahen. Und diese Augen hatten etwas Seltsames, es waren Pardelaugen, sie besaßen goldene Flecken wie ein Pardelfell. Diese Bemerkung machten die jungen Männer. Die Damen stießen sich an, verlangsamten ihren Schritt, sie unterschieden genau die wirksame Stufung, erstens: des milchweißen Teints mit den Schatten reifer Pflaumen unter den lang bewimperten Lidern, zweitens: des kastanienbraunen dichten Haares, das unter den Schläfen aufgerungen lag in einer schweren, stumpfen, dunklen Spindelmuschel, und drittens: des schwarzen schmucklosen Hutes, der im Nacken saß und noch den geäderten leicht geschwellten Hals reliefierte. Eine helle Matrosenbluse umzwängte in den Hüften bauschig den jungfräulich flachen Wurf der Büste. Dann gewahrte das weibliche Interesse eine männliche Gestalt und einen blond abgeschnürten geheimnisvollen Mund. Alles in Allem eine wohltätige Erscheinung. Die älteren Leute lächelten sanft und gesättigt, oder mit einer welken giftigen Lust.

Sie gingen Hand in Hand. Keiner wußte, wer sie waren. Ihr Dasein bedeutete eine Störung der Symmetrie des Straßenbildes. Sie sammelten die Blicke der Entgegenkommenden, sie zuckten hier und da empfindlich, sie streiften einen Blick ab, der sich wie Spinnenfäden an ihnen verhangen hatte. Die Nachfolgenden überholten[35] sie mit halb zugewandtem Gesichte und ließen ihre Neugierde unauffällig über sie hingleiten. Hin und wieder erlaubte sich ein Auge, bekannt zu tun. Seltsam! Die wortlose Mythe der Neugierde fädelte Erwartung und Auslegung an eine dünne Ahnung von Ereignisvollem und verknüpfte die beiden Menschen mit fremden Nerven.

Der Vormittag bekam einen schnelleren Takt. Er näherte sich der Mittagspause. Gleichmäßig grau flutete das Licht von den hart vorgestoßenen duldsamen Stirnen der Häuserblöcke herab. Auf den metallenen Beschlägen und blanken Dingen lagen langgestreckte weißliche Scheine; mit den Gehenden glitt es auf und nieder, fuhr plötzlich hurtig ringsherum, huschte hin und her. Das Glas überzog sich mit feinem Dampfe und spiegelte. Hinter den Scheiben bewegte sich ein gespenstiger Zug körperloser Gestalten. Mitten in diesen Leibern lebten plötzlich Gegenstände auf. Die Erschütterung der feuchten Atmosphäre verletzte noch härter denn sonst das ungewohnte Ohr.

Irmelin, sagte ein großer blonder Mann liebevoll zu einem kleinen Mädchen. Er streichelte ihr Gesicht. Angesichts der ganzen Straße tat er es. Irmelin sah flüchtig auf. Es war keine deutliche Steigerung der stetigen Wärme, in die seine Anwesenheit sie einhüllte. Solch ein Blick war die Elastizitätsprobe ihres andauernden Aufeinanderwirkens. Und weg flogen ihre Augen. Sie sahen durch die Menschenmenge hindurch, über alle Hindernisse hinweg. Nur das Fixe, Fertige interessierte, es waren keine Augen, die die Bewegung der Augenblicke[36] zu einem angenehmen Eindruck gruppieren konnten. Sie sahen über das Leben hinweg und suchten nach seinen Erfolgen. Suchten in den Auslagen, wählten in den Arrangements. Da entdeckten sie etwas. Irmelin zog den Blonden mit. So gingen sie von Auslage zu Auslage. Je, rief Irmelin gerührt aus. Gierig stürzten ihre Augen sich in Schönheit, badeten sich in Glanz, Dichtwerk und Buntheit. Ein Gefälle phantastisch roter Seide, ein zerwühlter Sprudel von Bauschen, Pludern, Falten, ein Schauer von Lichtern, Abglanzen, sprunghaft schillernden Reflexen ergoß sich von der Höhe einer aus Kartonballen aufgeschichteten Wendeltreppe herab ins Parterre der Auslage. Andere Stoffe waren ausgebreitet wie eine Handvoll Karten, schlugen ein Pfauenrad, wuchsen säulenhaft empor, schwangen in monumentale Schleifen aus. Sie gaben eine bestechende Fülle von Erfindungsgeist ab, eine verblüffende Neckerei von Farbenspitzfindigkeiten. Unter dem ganzen Jubel aber verhielt sich etwas exklusiv, in einem Winkel gelagert saß dort eine hohle lockere Stoffpyramide. Ein Schal mit Fransen, violett, dunkel wie zersetztes Blut, apfelgrüne Herzen mit verbogenen Spitzen und ziegelrote Winkelhacken, beliebig eingewürfelt. Irmelins Herz schlug schneller. Ihr Atem holte tiefer aus, sie schluchzte, es war, als löste der Anblick etwas im Zwerchfell. Irmelin und der Mann, sie gingen beide in das Geschäft. Als sie zurückkamen, hielt Irmelin ein Paket in den Fäusten, das der Mann ihr abnahm. Sie traten noch einmal vor die Auslage, Irmelin wollte es so. Der exotische Schal war weg, Gott sei Dank und natürlich, denn er mußte ja eine Individualität sein, die[37] entblößte Stelle sah bitterlich einsam her. Aber nun schien alles andere noch einmal so schön und doppelt begehrenswert. Unaufhörlich rauschte die phantastisch rote Seide und brandete mit ihren schweren Wellen gegen das Fensterglas.

Was es für Dinge auf der Welt gab! Irmelin mochte sich die Perlen um den Hals legen und die Vasen und Statuetten daheim auf dem Nachtisch oder auch auf der Kommode stehen haben. In den Läden waren Bilder ausgestellt, nach denen sie eiferte. Ihr Großer kaufte das eine, es stellte zwei nackte Kinder dar, Bub und Mädel. Standen die zwei an einer flachen Küste, strampelnackt und possierlich stämmig, Hand in Hand und mit dem Rücken gegen den Beschauer guckten sie in die Sonne, die über einem spielenden Meere aufging. Irmelin dachte gleich weiter. Sie putzte sich ihr Zimmer auf, das in der Stadt natürlich, alles andere mußte sich geben. Vor einem großen Hute machten sie Halt. Er war schön und hatte eine breite Krempe, wenn er auch nicht für Irmelin bestimmt war. Die Reiherfeder strählte und rümpfte sich stolz, man mußte ihr Sklave werden. Zugleich wirkte der Hut, als ob sein ebenbürtiger Träger schon darunter stünde, soviel Persönlichkeit hatte er. Die Hälfte der Reverenz galt schon nicht mehr ihm, sondern seinem Geschöpfe. Und wieder kamen Stoffe und Tücher und Kleider. Sie fühlten sich schwer und dicht, gediegen an vom bloßen Betrachten. Die Kleider hatten befremdliche Formen, einschmeichelnde Linien. Nachdem sie sich lebensvoll geschwungen hatten, verloren sich diese Linien plötzlich, man wußte nicht wohin. Man mußte von vorne beginnen[38] und immer wieder staunen, angenehm erschreckt und seltsam berührt. Denn man war auf sie angewiesen und hatte Sehnsucht nach ihnen, wie nach einem treulosen Geliebten, der auf und davon geht, ohne ein Wort des Abschieds. Grad der sollte es sein. So gings mit der Linie. Immer wieder kostete Irmelin diesen Wundern nach.

Kein Zweifel, im Grunde war die Welt überall ein Garten und Irmelin war Königin darin. Sie erinnerte sich an etwas phantastisch Rotes, an ein Geschleuder von Seide oder dergleichen, und in der Tat, sie hatte dabei ein königliches Gefühl. In den Auslagen wuchsen herrliche Dinge. Es war gut, daß Irmelin doch auch diese Seite des Lebens zu sehen bekam. Sie zürnte, weil man sie beinahe hatte daran verhindern wollen. Gleich darauf aber wußte sie, daß sie allen Grund hatte, dankbar zu sein. Sie drückte die große wohlbekannte Männerhand. Mehrmals kreuzten sie die Straßen. Ängstlich und vertrauensvoll hing sie an seinem Arm.

Das Aufsehen, daß die beiden erregten, wuchs. Es war 12 Uhr. Das Gedränge wurde heftiger. Schulen, Bureaus und Geschäfte schwärmten aus, es war eine schrittweise Durchdringung wie von Flüssigkeiten. Das Geschrei hob sich, der Lärm wurde heller. Die Leute schrieen ohne Grund. Das zurückgehaltene Bedürfnis nach geselliger Lust kam zu seinem Rechte. Die Blicke waren nicht mehr behutsam, sondern frech und unverhüllt. Hier und da fiel eine gutgelaunte Bemerkung. Die Schultern des blonden Riesen enthielten um diese mittägliche Stunde keine so imposante Drohung mehr. Der[39] Hunger spannte die Nerven. Der Magen feierte und stellte seine Kräfte anderweitig zur Verfügung. Die Leute stürzten aus den Häusern, die Frage stand ihnen in Augen und Stirne, sie machte sie aufmerksam und empfänglich, veranlaßte sie, jede Gelegenheit in ihrer Bedeutung zu übertreiben. Worte wurden aufgefangen und fanden eine erregte Deutung. Was gibt es Neues? lauerte die gierige Frage. Ist etwas geschehen? Wird etwas geschehen? Es war allen klar, bevor sie noch zu ihrer Suppe kamen, mußte etwas geschehen sein.

Und es geschah. Die Stadt forderte ihr tägliches Opfer. Die Erwartung der Menschen wurde erfüllt. Das Geheimnis, das hinter dem Verkehre steckte, fand seine Lösung. Das Leben der Stadt verengte sich. Die Auflösung aller ihrer Motive spitzte sich nach dem einen Ton zu. Der Rythmus des Verkehres steuerte auf den einen bedeutungsvollen Takt hin, die Schwingungskurve näherte sich ihrem höchsten Gipfel. Es war die Stunde, da alle die unbewußt Eingeweihten sich erkannten. Sie gingen nach Hause, aßen nichts, sie nahmen die Zerschmetterung mit für eine Stunde, einen Tag, eine Woche. Neben dem Schüttelfrost des Grauens wahrten sie die Wärme des eigenen Lebensbewußtseins. Acht Tage lang gewann das Leben, das in der engen Weite der Stadt an Auszehrung litt, das grau, öde und abgeschmackt war, wieder an Wert. Morgen, übermorgen, nach sieben Nächten treten sie wieder mit der gleichen Frage an dieses Leben heran, daß es sich rechtfertige.

Da schritt sie hin, die Hyäne der Sensation. Ihre Schnauze lechzte nach Beute. Wohin sah sie durch der[40] Menschen Augen? Das Interesse, der Unglücksvogel, flatterte um seine Opfer. Der Mob der Neugierden ging auf die Jagd, er spielte den Zutreiber. Ein lächerlicher Umstand war es ja, an den sich das Verderben knüpfte. Ein grinsendes Gesicht in der Menge, ein boshafter Gedanke in einem vielleicht nur abenteuerfrohen Kopfe, die verführerische Zudringlichkeit des Publikums, sie schufen hier das Unglück. Das spurlose Verschwinden des Mädchens war ja absurd. Sie war klein, freilich, aber darum war der Große umso größer und sah über die Köpfe der Anderen hinweg. Sie konnte nicht mehr als ein paar Schritte von ihm entfernt sein. Denn nur eine Hauslänge und die Straße hörte auf – – –

Weg war das Mädchen und nicht mehr zu entdecken. Als der Große sich allein fand, reckte er sich noch höher, sah rund herum und fahndete nach einem großen Hute. Nichts war zu sehen, ein paar solcher Hüte gab es wohl, aber das war nicht sie. In der fürchterlichsten Spannung verzog er das blonde Gesicht zu einer Grimasse von Angst und Hast. Jetzt war da das arme kleine Geschöpf hilflos der Unverschämtheit preisgegeben. Es wurde vielleicht belästigt, geriet in einen Knäuel, wurde geschunden und getreten, und es ging nur scheu mit und seine blauen Augen suchten hilferufend nach dem Retter. Verfluchte Herde! Da prallte er in der Menge mit einem Gesichte zusammen, einem schadenfrohen Gesichte. Das Gesicht wandte sich ab, sah in der Richtung der Straße zurück, und wiederholte das Spiel. Es bemühte sich angestrengt, fein und wissend zu lächeln, das mißlang, es grinste blos. Der Inhaber hatte etwas zu dem Falle zu bemerken,[41] er konnte Aufklärung geben, da war kein Zweifel, aber aus Diskretion mischte er sich nicht in anderer Leute Sachen, zumal wenn sie etwas peinlicher Natur waren. Dem Großen dämmerte es auf. Er fuhr herum und rannte die Straße zurück, untersuchte jede Auslage bis zum Fußboden herab und forschte hinter jedes Mauseloch an den Häuserfronten. Als er drei, vier Häuser weit gerannt war, kam ihm die Sache bedenklich vor und er blieb stehen. Vier Häuser vor ihm mündete die Straße in eine andere. Teufel noch einmal! An diesem Kreuzungspunkte war der Verkehr lebensgefährlich – –

Geschrei, Gebrüll – Schreie, Signale eines elektrischen Trains. Dann Taubheit, alles ging auf Filz dahin. Von den Seiten rannte es zusammen, schwärmte aus, die Straße füllte sich mit springenden, hopsenden Gestalten, schiefen Körpern, hackigen Knien. Also! da war es. Es war wie eine Erleichterung für alle. Der Große wirbelte über die Straße, verlor seine Pakete, verlor seinen Hut, die ganze Straße hinter ihm her. Er war total nüchtern und froh. Er hatte nur eine Tatsache vor sich. Kein Gedanke weit und breit.

Die behuteten Köpfe standen so dicht wie ein Krautacker. In einer der letzten Reihen sah er seinen Mann von vorhin. Er sah ihn von hinten und sah nur ein Stück von ihm, aber er erkannte ihn sofort, an irgend etwas am Halse, oder an einer Bewegung, oder sonst irgendwie, aber er erkannte ihn unfehlbar. Im Vorübereilen holte er mit der geballten Faust aus und schlug[42] ihn mitten auf den Schädel, von oben nach unten. Der Mann rührte sich nicht viel, er seufzte nur und senkte den Kopf, während der zugerichtete Hut auf den gepferchten Schultern liegen blieb. Als die Masse durch eine Bewegung locker ließ, glitt er wie ein Sack zwischen Vordermann und Hintermann zu Boden. Es entstand eine Panik, niemand wußte, wie das gekommen war, denn alle hatten die Augen vorne. Die Leute schrieen und stoben auseinander. Der Große nahm einen Anlauf und ging wie ein Schuß durch das Bollwerk von Menschen durch. Ein paar Personen flogen auf den freien Platz hinaus, der sich um die Unglücksstätte gebildet hatte. Entsetzt drängten sie wieder zurück.

Der Waggon, entleert, stand sichtlich schief von etwas, das darunter lag. Dieses etwas lag ganz und gar unter der Last begraben. Herüben stand die Masse und drüben stand die Masse, über den Köpfen bewegten sich ein paar heftig gestikulierende Pickelhauben. Der Motorführer, ein dicker kleiner Mann, zeigte ein gelbes, blutloses, unrasiertes Gesicht. Sein Rock war mit Brocken und Speiseteilen beschmutzt, er übergab sich, denn vor seinen Augen war die ganze Sache vor sich gegangen. Der Kondukteur stützte ihn. Krampfhaft warf er den Oberkörper nach vorne und würgte an einem Erstickungsanfalle. Mehrere Frauenzimmer waren ohnmächtig geworden. Die eine lag über einer Baumböschung, ein Herr kniete daneben und klatschte ihr auf Stirn und Wangen. Ein junger Mensch mit feinen Nerven, der nicht schnell genug den wenig geheuren Waggonboden unter seinen Füßen weggebracht hatte, ließ sich auf das[43] Gesäß fallen, zappelte jämmerlich mit den Beinen und stieß einen Schwall sinnloser Worte hervor. Einige aus der Masse bückten sich, um unter den Wagen zu spähen, man sah jedoch nichts als einen Fetzen weißblauen Zeugs an der Schutzvorrichtung, das von einer Bluse herrühren mochte. Vor dem Vorderrade lag ein großer Hut samt verbogenen Nadeln und einigen wenigen dunklen Haaren, die unten blutig waren.

Der Große trat vor, da wurde es still. Vielleicht erkannten ihn manche. Man hörte – war es Einbildung – wimmern. Hört ihr, sagte einer und alle vermeinten es zu hören. Der große Blonde lächelte. Es war auch lächerlich. Da drunten sollte ein Mensch liegen, ein kleiner Mensch mit blauen Augen – das war lächerlich. Lächerlich war es, daß der Wagen so schief stand. Daß er tat, als läge jemand drunter. Ein plumper Schauspielertrick. Wie komisch. Warum stand er denn so schief? Er hatte doch kein Recht so schief zu stehen. Es war so etwas eigenes daran, dieser ein wenig gehobene Waggon, dieser Kasten mit der albernen Absicht, gleichsam eine schiefe Stellung in den Augen der Leute einzunehmen war höchst geschmacklos. Aber doch, es sah so seltsam her – was war denn das für ein schlechter Witz von diesem dreckigen Wagen –

Aber plötzlich – jetzt hörte er es ebenfalls wimmern, er glaubte die Stimme zu erkennen, aber das war alles so unwahrscheinlich – da unten, da unten – der Mann schlug die Hand vor die Stirn und stieß einen Schrei aus. Er schrie: Irmel – – – Die Leute, die ihn hörten, zitterten, so gräßlich war dieser Schrei. Gehören[44] Sie denn dazu? fragte man. Nicht gemuckst hat sie, erzählte eine Stimme, nur dagestanden ist sie.

Und nun ging es plötzlich los. Die Hintenstehenden drängten vor, sie stellten sich auf die Fußspitzen, um ein Stück von dem Unheil zu erhaschen. Die Vornestehenden aber konnten es nicht länger mitansehen, sie wollten fort, das ging nicht mehr, und auf einmal wurde die ganze Menge verrückt und begann aufeinander loszuschlagen. Es entstand ein schauderhafter Wirrwarr, keiner wußte, was eigentlich los war und was der andere wollte. Der Riese hatte nämlich gerufen: So befreit sie doch – so helft doch! Die Wache und einige der Zuschauer hatten ihn hindern wollen, aber mit einer Bewegung seines Armes hatte er sie alle niedergemäht. Als er frei war, griff er mit den Händen ins Gestänge unten bei der Radaxe und stemmte die Stirne gegen die Wand. Ein Ruck und noch einer, währenddessen er den Griff nach unten wechselte – er hatte den Waggon bis zu den Knien gehoben. Sein Kopf war blau und seine Schultern tief herabgezogen, er stöhnte und ächzte. Unter dem Wagen, in die Achsen geklemmt, lag ein blutiges Bündel, klebte dort an dem Unterteil des Wagens. Zerfetztes Tuch, Wäsche, blutig, schmutzig, weggezerrt, ein paar nackte Schenkel, blühendes weißes Fleisch, aber bleich, mit schwarzen Strümpfen über den Waden und roten Strumpfbändern. Brust und Kopf waren ein rotes grausiges Etwas, ein Gewimmel von Fleisch und Hautstücken. Als die Last hochging, warf sich der ganze Körper zuckend herum. Die Leute schrien und drängten zurück.[45]

Die Wache stürzte sich auf den Riesen, riß ihn an den Armen zurück. Der Wagen entglitt ihm, kam nieder, donnerte, kreischte und klirrte, die Scheiben brachen. Der Mann taumelte, seine Hände waren zerfleischt, seine Augen blutunterlaufen. Gleich darauf gluckste es unter dem Waggon, es klang harmlos, wie von einem brütenden Huhn. Eine Lache Blut kroch unten hervor, ließ sich in die Schienen herab und schoß eilig davon. Saugte sich durch den Pferdemist, der ihr den Weg verstopfte und trug Papierschnitzel weg. Mit Staub und Mergel vermengt brannte sie durch, obenauf schwamm unverdaute Haferkleie. Die Leute flüchteten. Der junge Mensch mit den nervösen Sohlen begann wieder jämmerlich zu quieken und zu zappeln. Das gellende Pfeifen der Ambulanz kam näher. Es war ein schrecklicher, fremder Augenblick. Das war zu groß und grausig, um Mitleid anders zu empfinden, vielmehr spürten alle eine Art Neid zu dem malträtierten Geschöpfe unter dem Wagen, weil es so weit über ihnen stand durch seine Qualen, sie fühlten die Autorität einer Erfahrung, von der sie ausgeschlossen waren. Das blutige Bündel Mensch ward etwas Fremdes, Mächtiges, vollführte eine Existenz in einer anderen unbekannten aber gewissermaßen höheren Sphäre. Dem großen Blonden fiel ein, daß er nicht helfen konnte, er empfand Eifersucht, es war ein Betrug an ihm, daß er nicht mit in dem blutigen Geheimnis sein sollte. Er warf die Wache zurück, es entspann sich ein kurzer Ringkampf. Die drei Schutzleute flogen nach allen Seiten auseinander. Von seinen Händen tropfte Blut. Unmenschlich brüllend, toll, warf er sich mit der ganzen Wucht seines ungeheuren[46] Leibes gegen den Wagen, daß die Planken rissen. Er griff mit den Händen zu. Die Axen knirschten, das Coupée neigte sich, der Mann weinte, die Augen traten aus den Höhlen, der Kopf schwoll violett an, die Nähte an den Kleidern sprangen. Dann kippte der Wagen um und ging vollständig in Trümmer, und mit ihm stürzte der Mensch. Erde und Luft zitterten wie von einer Explosion, ein betäubender Knall, ein Geprassel, eine Salve von Raketen und ein donnernder Nachhall von eisernen Balken, metallenen Splittern – dann war es mäuschenstille. Wüh! Wüh! Die Ambulanz lenkte um, graziös, und bog ein. Es öffnet sich eine Gasse. Geräuschlos fuhr der federleichte Wagen an die beiden Leichen heran. Der Mann lag mit dem Gesicht zwischen den schwarz bestrumpften Füßen des kleinen Weibes. Sie waren von dem Blut aus seinem Munde gerötet. Es war sein letzter verhauchender Kuß. Sein mächtiger Körper sah jetzt viel kleiner aus, er lag schlaff und eingeschrumpft. Die kindlich weißen, verbluteten Schenkel des Mädchen, entblößt unter der weißen und weggezerrten Wäsche, waren hochzeitlich geöffnet. Als man die beiden aufhob und die Wache das Publikum zurückschob, rasselte ein Train der Feuerwehr heran.

Angesichts der beiden zerschlachteten Leiber setzte sich der junge Mann mit den feinen Nerven hurtig wieder aufs Gesäß und zog sich die Schuhe aus. Er war nicht zu bewegen, aufzustehen. Beim ersten Schritte wäre er ja auf lebendiges Fleisch getreten. Man schnallte ihn an eine Bahre und trug ihn fort.

Die Menge floß ab. Nicht gemuckst hat sie, sagte[47] Einer. Dagestanden ist sie nur und hat geschaut wie ein Lampl – –

Ach, Gott ja, sagte ein Weib. Mit meinen eigenen unseligen Augen hab ichs mit angesehen. Und gekannt hab ich sie noch dazu. Die Mutter! Es ist etliche Jahre her. Ein Kind war sie fast noch. Anna hat sie geheißen – – –[48]

Quelle:
Robert Müller: Irmelin Rose. Heidelberg 1914, S. 34-49.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irmelin Rose
Werke VI:: Irmelin Rose - Bolschewik.

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.

112 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon