Dreiundzwanzigstes Kapitel.

[19] In Erwartung der Stunde, in der er zur Feier des Gottesdienstes in die Kirche gehen sollte, beschäftigte sich der Kardinal Federigo, wie er gewöhnlich in allen Zwischenzeiten zu thun pflegte, gerade mit Studien, als der Kaplan Kreuzträger mit verstörtem Gesichte eintrat.

»Ein seltsamer Besuch, ein höchst seltsamer Besuch, allergnädigster Herr!«

»Wer ist es?« fragte der Kardinal.

»Kein Geringerer, als der Herr ....«, hub der Kaplan wieder an, und indem er jede Sylbe mit besonderem Nachdruck betonte, sprach er den Namen aus, den wir für unsere Leser nicht niederschreiben können. »Er ist selbst draußen«, fügte er darauf hinzu, »und verlangt nichts weniger als bei Euer Gnaden vorgelassen zu werden.«

»Er!« sagte der Kardinal mit lebhaftem Blick, indem er das Buch zumachte und sich von seinem Sessel erhob. »Er soll kommen! er soll sogleich kommen!«

»Aber ....«, entgegnete der Kaplan, ohne sich zu rühren, »Euer Gnaden müssen wissen, wer dieser Mensch ist; der Landesverwiesene, der berüchtigte ....«

»Und ist es nicht ein glückliches Ereigniß für einen Bischof, daß ein solcher Mensch das Verlangen fühlt, ihn aufzusuchen?«

»Aber ....«, beharrte der Kaplan, »wir dürfen uns über gewisse Dinge nicht auslassen, denn Euer Hochwürden sagen, es sei albernes Geschwätz; jedoch, wenn ein solcher Fall eintritt, scheint es mir, daß es eine Pflicht sei .... der Eifer macht Feinde, hochwürdiger Herr; und wir wissen ganz bestimmt, daß mehr als ein Schurke sich zu rühmen gewagt hat, über lang oder kurz ....«

»Und was haben sie gethan?« unterbrach ihn der Kardinal.[19]

»Ich meine nur, daß dieser ein Erzverbrecher, ein Rasender ist, der mit den allertollsten Schurken im Verkehr steht und der vielleicht abgeschickt sein kann ....«

»O was für eine Zucht ist das«, unterbrach ihn abermals Federigo lächelnd, »daß die Soldaten ihren General bereden, sich zu fürchten?« Darauf ernst und nachdenkend werdend, fuhr er fort: »Der heilige Carlo würde nicht in den Fall gekommen sein, zu überlegen, ob er einen solchen Menschen empfangen soll; er würde ihn selbst aufgesucht haben. Laß ihn sogleich eintreten; er hat schon zu lange gewartet.«

Der Kaplan machte sich auf, indem er für sich sagte – es hilft nichts; alle diese Heiligen sind Starrköpfe. –

Er öffnete die Thür und als er wieder in das Zimmer trat, wo der Herr und die Versammlung sich befand, sah er, daß diese sich nach einer Seite hingezogen hatte, mit einander flüsterte und verstohlene Blicke auf Jenen warf, der in einer Ecke allein stand. Er schritt auf ihn zu, und indem er ihn mit einem Blicke von oben bis unten maß, überlegte er, wie viele höllische Waffen wohl unter dem Rock versteckt sein könnten, und ob er ihm nicht, ehe er ihn einführte, vorschlagen sollte, .... doch er vermochte sich nicht zu entschließen. Er näherte sich ihm und sagte: »Seine Hochwürden erwarten Euer Gnaden. Belieben Sie mit mir zu kommen.« Und indem er ihm durch die Versammlung voran schritt, die sogleich zu beiden Seiten Platz machte, warf er nach rechts und links Blicke, die zu sagen schienen: was wollt ihr? wißt ihr es nicht auch, daß er immer auf seinen Kopf besteht?

Kaum war der Ungenannte eingetreten, so ging ihm Federigo mit zuvorkommender, heiterer Miene und mit offenen Armen, wie einem Erwarteten, entgegen und gab sogleich dem Kaplan einen Wink, hinauszugehen; dieser gehorchte.

Die beiden Zurückgebliebenen standen eine Weile schweigend und unschlüssig einander gegenüber. Der Ungenannte, der mehr wie durch eine geheime Gewalt, durch einen unerklärlichen Drang hergezogen worden war, als daß ihn eine bestimmte Absicht geleitet hatte, fühlte sich wie an den Boden gefesselt, zweien entgegengesetzten Leidenschaften zur Beute, dem Verlangen und der[20] Hoffnung, eine Linderung für seine inneren Qualen zu finden, und anderseits einem Aerger, einer Scham, hierher gekommen zu sein wie ein reuiger, demüthiger, armer Sünder, um sich für schuldig zu bekennen und um einen Menschen anzuflehen; er fand keine Worte und suchte sie auch nicht einmal. Indem er aber die Augen zu dem Angesichte jenes Mannes erhob, fühlte er sich mehr und mehr von einem Gefühle der Ehrfurcht durchdrungen, das zugleich gebieterisch und milde war, indem es das Zutrauen erhöhte, den Aerger besänftigte und ohne den Stolz zu beleidigen, denselben überwand und ihn so zu sagen zum Schweigen brachte.

Die Erscheinung Federigo's war in der That eine von denen, die eine Ueberlegenheit verkündigen, und die man lieben muß. Seine Haltung war von Natur ungezwungen, fast unwillkürlich majestätisch und von den Jahren weder gebeugt noch geschwächt; das Auge ernst und lebhaft, die Stirn frei und gedankenvoll; in dem grauen Haar, in der Blässe, unter den Spuren der Enthaltsamkeit, des Nachdenkens und der Anstrengung blühte eine Art von jugendlicher Frische; alle Züge des Gesichtes deuteten auf eine ehemals vollkommene Schönheit hin; die Gewohnheit ernster, feierlicher und wohlwollender Gedanken, der innere Frieden eines langen Lebens, die Menschenliebe, die beständige Heiterkeit einer unaussprechlichen Hoffnung hatten an deren Stelle eine, ich möchte fast sagen, Greisenschönheit gesetzt, die in der prächtigen Einfachheit des Purpurs noch mehr hervortrat.

Auch er ließ einen Augenblick seinen durchdringenden Blick, der seit langer Zeit geübt war, aus den Mienen die Gedanken zu errathen, auf dem Gesichte des Ungenannten ruhen; und da es ihm schien, unter diesem finstern, verstörten Gesichte etwas vermuthen zu dürfen, welches der Hoffnung entspräche, die ihn gleich bei der Ankündigung eines solchen Besuches erfüllt hatte, so sagte er lebhaft: »O, welch ein köstlicher Besuch ist dieser! und wie dankbar muß ich Ihnen für einen so guten Entschluß sein, obgleich Sie mir vielleicht einen kleinen Vorwurf zugedacht haben!«

»Einen Vorwurf!« rief der Herr verwundert aus; jedoch von den Worten und den Geberden besänftigt, war er zufrieden, daß[21] der Kardinal das Eis gebrochen und irgend ein Gespräch in Gang gebracht hatte.

»Gewiß trifft mich ein Vorwurf«, fing dieser wieder an, »daß ich Sie mir habe zuvorkommen lassen; denn schon längst, schon oftmals hätte ich zu Ihnen kommen sollen.«

»Zu mir, Sie? Wissen Sie, wer ich bin? Hat man Ihnen meinen Namen genannt?«

»Und die Freude, die ich empfinde und die sich gewiß auch in meinem Aeußern kund giebt, glauben Sie, ich würde sie bei der Meldung, bei dem Anblick eines Unbekannten empfinden? Sie sind's, der sie mir verursacht; Sie, sage ich, den ich hätte aufsuchen sollen; Sie, den ich immer so sehr geliebt und beweint und für den ich so oft gebetet habe; Sie, unter meinen Kindern, die ich doch alle von Herzen liebe, derjenige, den ich am meisten gewünscht haben würde zu bewillkommnen und zu umarmen, wenn ich geglaubt hätte, es hoffen zu dürfen. Aber nur Er allein weiß Wunder zu wirken und hilft der Schwäche, der Langsamkeit seiner armen Diener auf.«

Der Ungenannte stand ganz betroffen da über dies so warme Entgegenkommen, über diese Worte, die so genau den Gedanken entsprachen, die er selbst noch unausgesprochen gelassen, noch nicht einmal entschlossen war auszusprechen; bewegt und verwirrt schwieg er still. »Und wie?« fuhr Federigo noch herzlicher fort, »Sie haben mir eine gute Nachricht mitzutheilen, und lassen mich so lange darauf warten?«

»Eine gute Nachricht, ich? Ich trage die Hölle im Herzen und sollte Ihnen eine gute Nachricht mittheilen? Sagen Sie mir, wenn Sie es wissen, was ist das für eine gute Nachricht, die Sie von Meinesgleichen erwarten?«

»Daß Gott Ihnen das Herz gerührt hat und Sie zu dem Seinigen machen will«, antwortete sehr ruhig der Kardinal.

»Gott! Gott! Gott! Wenn ich ihn sähe! Wenn ich ihn hörte! Wo ist dieser Gott?«

»Sie fragen mich darnach? Sie? Wem ist er näher als Ihnen! Fühlen Sie Ihn nicht in Ihrem Herzen, der Sie bedrängt, bewegt und nicht ruhen läßt, der Sie zu gleicher Zeit an[22] sich zieht, Sie eine Hoffnung auf Frieden und Trost vorempfinden läßt, auf einen Trost, der unversiegbar, unermeßlich sein wird, sobald wie Sie ihn erkennen, ihn bekennen und ihn anflehen?«

»O wahrlich, ich fühle hier etwas, das mich bedrängt, das mich verzehrt! Aber Gott! Wenn dieser Gott wirklich ist, wenn er der ist, wie Sie sagen, was soll er mit mir anfangen?«

Diese Worte waren mit einem Ausdruck von Verzweiflung gesprochen; doch Federigo antwortete mit feierlichem Tone, wie in einer frommen Begeisterung: »Was Gott mit Ihnen anfangen soll? Sie sollen ein Zeichen seiner Macht und seiner Güte sein; er will von Ihnen einen Ruhm ernten, den kein Anderer so leicht ihm gewähren könnte. Daß die Welt schon seit so langer Zeit über Sie schreit, daß tausend und aber tausend Stimmen Ihre Thaten verwünschen .....« Der Ungenannte fuhr zusammen und stand einen Augenblick starr vor Verwunderung, diese so ungewohnte Sprache gegen sich führen zu hören, noch mehr aber erstaunte er, daß er keinen Unwillen, sondern vielmehr eine Erleichterung dabei empfand. – »Welch ein Ruhm für Gott«, fuhr Federigo fort: »Es sind Stimmen des Schreckens, des Eigennutzes, vielleicht auch der Gerechtigkeit, aber einer so leichten Gerechtigkeit, einer so natürlichen! Vielleicht auch einige, die Ihnen nur zu sehr Ihre unglückselige Macht beneiden, diese bis heute beklagenswerthe Seelenruhe. Aber wenn Sie selbst sich erheben, um Ihr Leben zu verdammen, um sich selbst anzuklagen, dann, dann wird Gott verherrlicht werden! Und Sie fragen, was Gott aus Ihnen machen sollte? Wer bin ich armer Mensch, daß ich Ihnen jetzt schon zu sagen wüßte, welchen Gewinn ein solcher Herr von Ihnen ziehen könnte? Was er aus diesem ungestümen Willen, aus dieser unerschütterlichen Beharrlichkeit zu machen gedenkt, sobald er sie mit Liebe, mit Hoffnung, mit Reue beseelt und entzündet hat? Wer seid Ihr armer Mensch, daß Ihr in dieser Welt üblere Thaten zu ersinnen und zu vollbringen meintet, als Gott durch Euch selbst zum Guten verwandeln kann? Und Euch verzeihen? und Euch retten? und das Werk der Erlösung in Euch vollbringen? sind das nicht herrliche, Gott würdige Dinge? O bedenkt! wenn ich armer schwacher Mensch und dennoch so erfüllt von mir selbst,[23] so wie ich bin, mich jetzt so sehr um euer Heil sorge, daß ich darum mit Freuden – Gott ist mein Zeuge – diese wenigen Tage hingeben möchte, die ich noch zu leben habe; o bedenkt! wie groß die Barmherzigkeit dessen sein muß, der mir diese so unvollkommene Menschenliebe so lebhaft einflößt; wie liebt er Euch, wie verlangt er nach Euch, der mir eine Liebe zu Euch gebietet und eingiebt, die mich verzehrt!«

In dem Maße, wie diese Worte über seine Lippen gingen, verrieth jeder Zug, jeder Blick, jede Bewegung, was er dabei fühlte. In den krampfhaft verzerrten Gesichtszügen seines Zuhörers malte sich anfangs Bestürzung und Aufmerksamkeit, die bald darauf einem ruhigeren und weniger ängstlichen Ausdruck Platz machten; seine Augen, die seit der Kindheit keine Thränen mehr kannten, wurden feucht, und als die Worte zu Ende waren, bedeckte er das Gesicht mit den Händen und brach in ein heftiges Weinen aus, das gewissermaßen die letzte und beredteste Antwort war.

»Du großer guter Gott!« rief Federigo aus, indem er die Augen und Hände zum Himmel erhob: »Was habe ich denn gethan, ich unnützer Knecht, ich saumseliger Hirt, daß du mich zu diesem Feste der Gnade berufst, daß du mich würdigst, zu einem so freudigen Wunder meinen Beistand zu leihen!« Mit diesen Worten streckte er die Hand aus, um die des Ungenannten zu ergreifen.

»Nein!« rief dieser, »nein! bleiben Sie mir fern; besudeln Sie diese reine, segenspendende Hand nicht. Sie wissen nicht, was sie alles gethan hat, diese Hand, die Sie drücken wollen.«

»Laßt«, sagte Federigo und ergriff sie mit liebevoller Heftigkeit, »laßt sie mich drücken, diese Hand, die alles Unrecht wieder gut machen wird, die, um die Betrübten aufzurichten, noch so viel Gutes wirken kann, die sich unbewaffnet, friedesuchend und demüthig so vielen Feinden entgegenstrecken wird.«

»Zu viel!« sagte schluchzend der Ungenannte. »Lassen Sie mich, hochwürdiger Herr, guter Federigo, lassen Sie mich. Ein zahlreich versammeltes Volk erwartet Sie, so viele gute Seelen, so viele Unschuldige, die so weit hergekommen sind, um Sie einmal[24] zu sehen, um Sie zu hören, und Sie beschäftigen sich hier .... mit wem!«

»Lassen wir die neunundneunzig Schafe«, antwortete der Kardinal, »sie weiden sicher auf dem Berge; ich will jetzt bei dem Einen bleiben, das verirrt war. Jene Seelen sind jetzt vielleicht zufriedener, als wenn sie diesen armen Bischof sähen. Gott, der das Wunder seiner Barmherzigkeit in Ihnen gewirkt hat, erfüllt sie vielleicht jetzt mit einer Freude, deren Ursache sie noch nicht ahnen. Diese Volksmenge ist vielleicht, ohne es zu wissen, mit uns hier vereinigt; vielleicht erweckt der heilige Geist in dem Herzen dieser Menschen eine Inbrunst des Erbarmens, ein Gebet, das er für Sie erhört, eine Danksagung, deren noch unbekannter Gegenstand Sie sind.« Während er so sprach, legte er die Arme um den Hals des Ungenannten, der, nachdem er versucht, sich ihnen zu entziehen und einen Augenblick widerstrebt hatte, endlich von dieser gewaltigen Menschenliebe besiegt, nachgab, gleichfalls den Kardinal umarmte und sein bewegtes verwandeltes Gesicht auf dessen Schulter sinken ließ. Seine heißen Thränen fielen auf den reinen Purpur Federigo's nieder; und die unbefleckten Hände desselben umfingen liebevoll den großen Verbrecher und berührten die Arme, die gewohnt waren, die Waffen der Gewaltthätigkeit und Verrätherei zu tragen.

Indem sich der Ungenannte sanft aus der Umarmung losmachte, bedeckte er sich von neuem die Augen mit den Händen und das Gesicht erhebend rief er aus: »Wahrhaft großer Gott! wahrhaft guter Gott! ich erkenne mich jetzt, ich begreife, wer ich bin; meine Frevelthaten stehen vor mir, ich verabscheue mich selbst; und dennoch ....! dennoch empfinde ich eine Erleichterung, eine Freude, ja eine Freude, wie ich sie noch niemals mein ganzes entsetzliches Leben hindurch empfunden habe!«

»Sie ist ein Vorgeschmack«, sagte Federigo, »den Gott Ihnen gibt, um Sie an seinen Dienst zu fesseln, um Sie zu ermuthigen, getrost in das neue Leben einzutreten, wo Sie so viel zu bereuen, so viel wieder gut zu machen und zu beklagen haben!«

»Ich Unglückseliger!« rief der Herr aus, »wie viele, wie viele Dinge, die ich nur zu beweinen vermag! Aber die eben erst ins[25] Werk gesetzten Unternehmungen, die kann ich wenigstens abbrechen; eine ist darunter, die ich sogleich abbrechen und wieder gut machen kann ....«

»Federigo ward aufmerksam; der Ungenannte erzählte in der Kürze, mit stärkeren Ausdrücken des Abscheus, als wir gebraucht haben, den Anschlag auf Lucia, die Qualen, die Leiden der Aermsten, wie sie ihn angefleht habe, in welche Verzweiflung ihn dieses Flehen gestürzt, und daß sie noch jetzt im Schlosse sich befinde ...«

»O so laßt uns keine Zeit verlieren«, rief Federigo vor Angst und Mitleid hastig aus. »Sie Glücklicher! dieses Mädchen ist das Pfand der Vergebung Gottes! Werden Sie so schnell als möglich ein Werkzeug zur Rettung derjenigen, die Sie zu Grunde richten wollten. Gott segne Sie! Gott hat Sie gesegnet! Wissen Sie, wo die arme Gequälte her ist?«

Der Herr nannte Lucia's Dorf.

»Das ist nicht weit von hier«, sagte der Kardinal, »gelobt sei Gott! und wahrscheinlich ....« Bei diesen Worten lief er nach einem kleinen Tisch und klingelte. Und sogleich trat mit ängstlicher Miene der Kaplan Kreuzträger herein und sein erster Blick fiel auf den Ungenannten; als er dieses verwandelte Gesicht und die vom Weinen gerötheten Augen sah, blickte er auf den Kardinal, und da er auf dessen Gesicht durch den unerschütterlichen Gleichmuth hindurch eine gewisse ernste Heiterkeit, einen fast ungeduldigen Eifer wahrnahm, wäre er beinahe wie verzaubert mit offenem Munde stehen geblieben, wenn ihn der Kardinal nicht schnell aus seiner Betrachtung geweckt hätte, indem er ihn fragte, ob unter den hier versammelten Geistlichen sich auch der aus *** befände.

»Er ist hier, hochwürdigster Herr«, antwortete der Kaplan.

»Laßt ihn sogleich hereintreten«, sagte Federigo, »und mit ihm den Pfarrer der hiesigen Kirche«.

Der Kaplan ging hinaus und trat in das Zimmer, wo die Priester versammelt waren; alle Augen wandten sich nach ihm hin. Er aber, mit noch immer offenem Munde, mit einem Gesichte, auf dem sich noch die Verwunderung malte, erhob die Hände, fuhr damit durch die Luft und rief: »Meine Herren! haec mutatio dexterae[26] Excelsi!« Er stand einen Moment ohne sonst etwas zu sagen. Dann aber nahm er Ton und Stimme seines Amtes wieder an und fügte hinzu: »Seine hochwürdige Gnaden verlangen den Pfarrer des Kirchspiels und den Herrn Pfarrer von ***«

Der zuerst Genannte trat sogleich vor und zugleich erscholl mitten aus der Menge, mit dem Tone der Verwunderung, ein langgezogenes »Ich?«

»Sind Sie nicht der Pfarrer von ***?« fing der Kaplan wieder an.

»Ganz recht; aber ....«

»Seine ehrwürdige Gnaden verlangen Sie.«

»Mich?« sagte dieselbe Stimme, in dieser einen Sylbe klar andeutend: Was kann ich da drinnen zu schaffen haben? Aber diesmal kam zugleich mit der Stimme der Mann hervor, Don Abbondio, wie er leibte und lebte, langsamen Schrittes und mit einem halb erstaunten, halb mißmuthigen Gesicht. Der Kaplan gab ihm mit der Hand einen Wink, als wollte er sagen: Vorwärts, kommt, wird es Euch so sauer? Und den beiden Pfarrern voran schreitend, kam er an die Thür, öffnete und führte sie hinein.

Der Kardinal ließ die Hand des Ungenannten los, mit dem er inzwischen überlegt hatte, was zu thun sei; trat ein wenig bei Seite und winkte den Pfarrer des Kirchspiels zu sich heran. Mit kurzen Worten sagte er ihm, um was es sich handelte; ob er sogleich eine rechtschaffene Frau zu finden wüßte, welche sich in einer Sänfte nach dem Schlosse tragen ließe, um Lucia abzuholen, eine Frau von Herz und Kopf, welche sich bei einem so wichtigen Auftrage zu benehmen wüßte, welche zu reden verstände, um jene Arme zu ermuthigen und zu beruhigen, die nach so vieler Angst und Verwirrung selbst vor ihrer Befreiung zittern würde. Der Pfarrer dachte einen Augenblick nach, sagte dann, er habe die passende Person dafür gefunden und ging hinaus. Darauf winkte der Kardinal den Kaplan heran, befahl ihm sogleich eine Sänfte in Bereitschaft zu setzen, Träger zu bestellen und zwei Maulthiere satteln zu lassen. Nachdem auch der Kaplan hinausgegangen war, wandte er sich an Don Abbondio.[27]

Dieser war schon an den Bischof herangetreten, um sich von jenem andern Herrn so entfernt als möglich zu halten, und indem er bald auf den Einen, bald auf den Andern einen verstohlenen Blick warf und darüber nachgrübelte, was das ganze Getreibe eigentlich zu bedeuten haben könnte, trat er noch einen Schritt vor, verneigte sich und sagte: »Man hat mir angezeigt, daß Euer Hochwürden mich zu verlangen geruhten; aber ich glaube, daß dies ein Irrthum ist.«

»Es ist durchaus kein Irrthum«, antwortete Federigo, »ich habe Euch eine gute Nachricht und einen sehr schönen Auftrag zu geben. Eines eurer Pfarrkinder, das Ihr schon als verloren beweint habt, Lucia Mondella, ist wieder aufgefunden, ist hier in der Nähe, im Hause dieses meines lieben Freundes, und Ihr sollt jetzt mit ihm und mit einer Frau, die der hiesige Herr Pfarrer soeben holt, Euch dahin aufmachen und euer Beichtkind abholen und hierher begleiten.«

Don Abbondio that Alles, um den Verdruß, was sage ich? um die Betrübniß und den Widerwillen zu verbergen, die ihm dieser Auftrag oder wohl gar Befehl erregte, und da er das mürrische Gesicht, welches er schnitt, so schnell nicht bemeistern konnte, so suchte er es durch eine tiefe Verbeugung, wie zum Zeichen des Gehorsams, zu verstecken. Und er erhob es nur, um auch dem Ungenannten eine tiefe Verbeugung zu machen, wobei er ihm einen frommen Blick zuwarf, als wollte er sagen, ich bin in euren Händen, habt Erbarmen, parcere subjectis.

Der Kardinal fragte ihn darauf, was für Verwandte Lucia habe.

»Nahe, bei denen sie lebte oder lebt, hat sie nur die Mutter«, antwortete Don Abbondio.

»Und befindet diese sich in ihrem Dorfe?«

»Ja, hochwürdiger Herr.«

»Weil das arme Mädchen nicht so schnell wieder nach ihrer Heimat wird gebracht werden können«, fuhr Federigo fort, »so wird es ihr ein großer Trost sein, sobald als möglich die Mutter zu sehen; wenn also der hiesige Herr Pfarrer nicht zurückkommt, ehe ich in die Kirche gehe, so thut mir den Gefallen und sagt ihm,[28] er solle ein Fuhrwerk oder ein Thier zum Reiten besorgen und einen verständigen Mann nach der Mutter aussenden, um sie hierher zu geleiten.«

»Könnte ich nicht dahin gehen?« fragte Don Abbondio.

»Nein, Ihr nicht, Ihr habt schon einen anderen Auftrag«, versetzte der Kardinal.

»Ich meinte nur«, erwiederte Don Abbondio, »um die arme Mutter vorzubereiten. Sie ist eine sehr empfindliche Frau und es gehört Einer dazu, der sie kennt und der sie auf ihre Art zu nehmen weiß, um sie nicht zu betrüben anstatt zu erfreuen.«

»Darum gerade bitte ich Euch, dem Herrn Pfarrer zu bemerken, daß er einen tauglichen Mann wähle; Ihr werdet anderswo besser zu brauchen sein«, antwortete der Kardinal. Er wollte damit sagen: Dem armen Mädchen werde es nach so vielen Stunden des heftigsten Schmerzes und in einer so schrecklichen Ungewißheit um die Zukunft ein großer Trost sein, so schnell als möglich ein bekanntes, Vertrauen erweckendes Gesicht in jenem Schlosse zu sehen.

Aber dieser Grund ließ sich nicht vor jenem Dritten so gerade heraus sagen. Es befremdete jedoch den Kardinal, daß Don Abbondio ihn nicht schon von ferne verstanden, oder von selbst daran gedacht hatte; der Vorschlag und sein Bestehen darauf erschienen ihm so wenig am Platze, daß er auf den Gedanken fiel, es müsse etwas Anderes dahinter stecken. Er sah ihm ins Gesicht und entdeckte darin mit geringer Mühe die Furcht, mit jenem entsetzlichen Menschen zu reisen, jenes Haus zu betreten, wenn auch nur auf wenige Augenblicke. Da er nun diese kleinmüthigen Besorgnisse völlig zerstreuen wollte und es ihm doch nicht gerathen schien, den Pfarrer bei Seite zu ziehen und heimlich mit ihm zu sprechen, während sein neuer Freund als Dritter hier zugegen war, so hielt er es für das Zweckmäßigste, mit dem Ungenannten selbst zu sprechen, aus dessen Antworten Don Abbondio dann erfahren würde, daß derselbe nicht mehr der Mann sei, den man zu fürchten habe. Er näherte sich dem Ungenannten und mit jener ungezwungenen Vertraulichkeit, die ebensowohl einer neuen lebhaften Neigung, wie einer alten vertrauten Freundschaft eigen ist,[29] sagte er zu ihm: »Glauben Sie nicht, daß ich mich mit diesem heutigen Besuche begnüge. Sie kehren doch in Begleitung dieses trefflichen Geistlichen wieder zurück, nicht wahr?«

»Ob ich zurückkehren werde?« antwortete der Ungenannte, »wenn Sie mich abwiesen, so würde ich beharrlich wie ein Bettler an Ihrer Thüre stehen bleiben. Ich muß mit Ihnen sprechen! ich muß Sie hören und sehen! Sie sind mein Heil!«

Federigo ergriff seine Hand, drückte sie und sagte: »Sie erzeigen uns also die Gunst, heute Mittag unser Gast zu sein. Ich erwarte Sie. Indessen ich hier mit dem Volke ein Dankgebet zum Himmel sende, gehen Sie, die ersten Früchte der Barmherzigkeit zu pflücken.«

Indem der Kardinal sich anschickte, hinaus zu gehen und den Ungenannten mit sich fortzog, den er noch immer bei der Hand hielt, fiel sein Blick von neuem auf den armen Pfarrer, der mit verdrießlicher, sauertöpfischer Miene zurückblieb. Und da Federigo dachte, sein Verdruß habe vielleicht auch darin seinen Grund, daß er sich hinten angesetzt und gleichsam bei Seite geschoben fühlte und dies besonders einem so herzlich aufgenommenen Frevler gegenüber, so wandte er sich im Vorbeigehen nach ihm hin, stand einen Augenblick still und sagte mit einem freundlichen Lächeln: »Herr Pfarrer, Ihr seid immer mit mir im Hause unsers guten Vaters, aber dieser .... dieser perierat, et inventus est«.

»O wie sehr freue ich mich darüber«, sagte Don Abbondio, und machte gegen Beide eine tiefe Verbeugung.

Der Erzbischof schritt voran, drückte gegen die Thür, die sogleich von außen durch zwei Diener weit aufgerissen wurde, und das wunderbare Paar erschien vor den sehnsüchtigen Blicken der im Zimmer versammelten Geistlichkeit. Sie sahen die beiden Gesichter, auf denen eine verschiedene, aber gleich tiefe Bewegung ausgedrückt war; eine dankbare Zärtlichkeit, eine demüthige Freude in den ehrwürdigen Zügen Federigo's; in denen des Ungenannten eine durch Trost gemilderte Verwirrung, eine eben erwachte Scham, eine Zerknirschung, unter der jedoch immer noch die Kraft dieser wilden, heftigen Natur hervorschien. Und man erfuhr nachher, daß mehr als einem der Beobachtenden jener Spruch des Jesaias[30] eingefallen war: Der Wolf und das Lamm werden zusammen auf eine Weide gehen; der Löwe und der Ochse werden zusammen Stroh essen. Hinterdrein kam Don Abbondio, auf den Niemand achtete.

Als sie sich in der Mitte des Zimmers befanden, trat von der andern Seite der Kammerdiener des Kardinals herein und meldete, er habe die ihm vom Kaplan zugekommenen Befehle ausgeführt; die Sänfte wie die beiden Maulthiere ständen bereit und man erwarte nur noch die Frau, die der Pfarrer herbeiführen würde. Der Kardinal befahl, er solle diesem, sobald er anlange, die Weisung geben, sogleich mit Don Abbondio zu sprechen; alsdann sollte alles geschehen, wie dieser und der Ungenannte es befehlen würden. Letzterem drückte er beim Abschiede von neuem die Hand und sagte: »Ich erwarte Sie«. Darauf grüßte er Don Abbondio und schlug den Weg ein, der zur Kirche führte. Die Geistlichkeit folgte ihm, halb als ein geordneter, feierlicher Zug, halb in verwirrtem Gedränge; die beiden Reisegefährten blieben allein im Zimmer zurück.

Der Ungenannte stand ganz in sich gekehrt, gedankenvoll da; er erwartete voll Ungeduld den Augen blick, wo seine Lucia von Pein und Gefängniß erlöst werden sollte, die jetzt in einem ganz anderen Sinne sein war, als am Tage vorher; und sein Gesicht drückte eine tiefe Gemüthsbewegung aus, die dem argwöhnischen Auge Don Abbondio's leicht etwas Schlimmeres scheinen konnte. Derselbe schielte nach ihm hin und hätte gern ein freundschaftliches Gespräch angeknüpft, aber – was soll ich ihm sagen? dachte er, soll ich ihm noch einmal sagen, es freut mich? Was freut mich? Daß Sie, nachdem Sie bis jetzt der Teufel gewesen sind, sich endlich entschlossen haben, ein rechtschaffener Mensch zu werden, wie Andere? Eine schöne Artigkeit! Ei, ei, ei! Wie ich auch immer die Worte drehe, alle Glückwünsche würden euch nichts Anderes bedeuten. Und wenn es auch wirklich wahr ist, daß er ein rechtschaffener Mensch geworden, so Knall und Fall! Beweise hat man deren genug auf dieser Welt, aus mancherlei Ursachen! Was geht es mich an? Ich bin gezwungen, mit ihm in sein Schloß zu gehen! O welche Geschichte! welche Geschichte! Wer mir das[31] heute Morgen gesagt hätte! O ich Aermster! Etwas werde ich aber doch diesem da sagen müssen. Endlich traten ihm die Worte auf die Zunge: Ich hätte nimmermehr das Glück erwartet, mich in einer so hochachtbaren Gesellschaft zu befinden. Er wollte schon den Mund öffnen, als der Kammerdiener mit dem Pfarrer des Ortes eintrat, welcher meldete, daß die Frau schon in der Sänfte säße; darauf wandte er sich an Don Abbondio, um von ihm den weiteren Auftrag des Kardinals zu empfangen. Don Abbondio entledigte sich desselben, so gut er es in dieser Sinnverwirrung konnte, und indem er auf den Kammerdiener zutrat, sagte er zu ihm: »Gebt mir wenigstens ein ruhiges Thier; denn, die Wahrheit zu sagen, ich bin ein erbärmlicher Reiter.«

»Das läßt sich denken«, antwortete der Kammerdiener mit einem halben Lächeln, »es ist das Maulthier des Schreibers, der ein Gelehrter ist.«

»Gut ....«, versetzte Don Abbondio und dachte – der Himmel steh mir bei. –

Der Ungenannte hatte sich bei der ersten Nachricht sogleich in Bewegung gesetzt; an der Thüre gewahrte er erst, daß Don Abbondio zurückgeblieben war. Er stand still, um ihn zu erwarten, und als dieser eilfertig herbeikam und Miene machte, um Verzeihung zu bitten, verneigte er sich vor ihm und ließ ihn mit höflicher und herablassender Geberde vorangehen, was den armen Geplagten wenigstens etwas wieder aufrichtete. Kaum aber hatte er den Fuß in den kleinen Hof gesetzt, so wurde er einer Neuigkeit ansichtig, die ihm das Bischen Trost wieder benahm; er sah den Ungenannten nach dem Winkel gehen, seinen Karabiner mit der einen Hand beim Rohr, mit der andern beim Riemen fassen, und mit einer schnellen Bewegung, wie er es zu thun gewohnt war, sich über die Schultern hängen.

– O weh! O weh! – dachte Don Abbondio – was hat der mit diesem Werkzeuge vor? Das nenn ich mir Buße thun für einen Bekehrten! Und wenn ihm nun plötzlich eine Grille in den Kopf fährt? Weh über diesen Auftrag! –

Wenn der Ungenannte nur im Entferntesten hätte argwöhnen können, welche schlimmen Gedanken seinem Gefährten durch den[32] Kopf gingen, so läßt sich gar nicht sagen, was er alles gethan haben würde, um ihn zu ermuthigen; aber er war himmelweit von einem solchen Argwohn entfernt, und Don Abbondio hütete sich wohl, irgend etwas zu begehen, was verrathen hätte: ich traue Euer Gnaden nicht. Als sie an der Thür, die nach der Straße führte, angekommen, standen die beiden Thiere schon bereit; der Ungenannte schwang sich auf das, welches ihm von einem Stallknecht vorgeführt wurde.

»Hat es auch Mucken?« sagte Don Abbondio zu dem Kammerdiener, indem er mit dem einen Fuße schon in dem Steigbügel schwebte, mit dem andern aber noch auf der Erde stand.

»Steigen Sie getrost auf, es ist ein Lamm.« Don Abbondio klammerte sich an dem Sattel fest und von dem Kammerdiener unterstützt, schwang er sich hopp, hopp, hopp hinauf.

Die gleichfalls von zwei Maulthieren getragene Sänfte, die schon einige Schritte voraus war, setzte sich auf einen Ruf des Sänftenführers in Bewegung, und der Zug ging ab.

Man mußte bei der Kirche vorbei, die gepfropft voll Menschen war, über einen kleinen Platz, der gleichfalls von Landleuten und fremdem Volke wimmelte, da die Kirche sie nicht mehr fassen konnte. Die große Neuigkeit hatte sich schon verbreitet und beim Erscheinen des Zuges, beim Erscheinen des Mannes, der noch vor wenigen Stunden ein Gegenstand des Schreckens und der Verwünschung, jetzt der freudigsten Bewunderung, erhob sich in der Menge beinahe ein Gemurmel des Beifalls; man machte Platz, drängte sich aber auch zugleich heran, um ihn in der Nähe zu sehen. Die Sänfte kam vorüber, der Ungenannte kam vorüber, und vor der weitgeöffneten Kirchthüre zog er den Hut und neigte die so sehr gefürchtete Stirn bis auf die Mähne des Maulthiers herab, unter dem Gemurmel von hundert Stimmen, die »Gott segne ihn« sagten. Don Abbondio zog ebenfalls seinen Hut, verneigte sich und empfahl sich dem Himmel; als er aber den feierlichen Gesang seiner Amtsbrüder hörte, die laut ihre Stimmen erschallen ließen, da empfand er eine Anwandlung von Neid, eine traurige Rührung und eine solche Betrübniß, daß es ihm schwer ward, die Thränen zurückzuhalten.[33]

Nachdem sie das Dorf im Rücken hatten und sich auf freiem Felde befanden, auf den zuweilen ganz menschenleeren Seitenwegen, legte sich ein noch finsterer Schleier über seine Gedanken. Er sah keinen Gegenstand, auf den er den Blick voll Zutrauen ruhen lassen konnte, als den Sänftenträger, welcher, da er im Dienste des Kardinals stand, sicherlich ein rechtschaffener Mann sein mußte, und der dabei gerade kein unkriegerisches Ansehen hatte. Von Zeit zu Zeit erschienen auch Wanderer, die eilig herbeiliefen, um den Kardinal zu sehen. Don Abbondio fühlte sich bei ihrem Anblick erleichtert; doch es war nur ein flüchtiger Trost – man näherte sich dem gräßlichen Thale, wo man nur Unterthanen des neuen Freundes begegnen sollte und was für Unterthanen! Mit diesem Freunde hätte er sich jetzt gern in ein Gespräch eingelassen, sowohl um seine Gesinnung zu erforschen, als um ihn in guter Stimmung zu erhalten; als er ihn aber so in Gedanken vertieft sah, verging ihm die Lust. Es blieb dem armen Manne also nichts übrig als sich auf diesem Ritte mit sich selbst zu unterhalten. So oft man an einen Scheideweg kam, wandte sich der Sänftenführer um, um sich zurecht weisen zu lassen. Der Ungenannte bezeichnete ihm den Weg mit der Hand und winkte ihm zugleich, daß er sich eilen möchte.

Man trat in das Thal. Wie ward nun dem armen Don Abbondio zu Muthe! Drin zu stecken in diesem berüchtigten Thale, von dem er so viele entsetzliche Geschichten hatte erzählen hören; diese berüchtigten Kerle, die Blüthe der Bravischaft von Italien, diese Menschen ohne Furcht und ohne Erbarmen, er sollte sie, wie sie leibten und lebten, vor sich sehen, sollte bei jeder Ecke Einem oder Zweien oder Dreien von ihnen begegnen. Dieselben verneigten sich unterthänig vor ihrem Gebieter; aber es schien Don Abbondio als ob gewisse sonnverbrannte Gesichter, gewisse borstige Schnauzbärte, gewisse drohende Blicke sagen wollten: Sollen wir ihm den Garaus machen, dem Pfaffen? Es ging so weit, daß ihm in seiner Seelenangst die Worte entfuhren: – hätte ich sie doch getraut! Was Schlimmeres konnte mir nicht widerfahren. – Indessen ging es längst dem Flusse, auf einem Kieswege vorwärts; dort der Anblick der öden, rauhen Felsenabhänge;[34] hier die Bevölkerung, mit der verglichen jede Wüste wünschenswerth erschien. Dante war mitten im Höllenpfuhle nicht schlimmer daran.

Man kam an der »Schlechten Nacht« vorbei; Raufbolde standen vor der Thür, sie verbeugten sich vor dem Gebieter und warfen neugierige Blicke auf seinen Begleiter und auf die Sänfte. Sie wußten nicht, was sie denken sollten; schon die Abreise des Ungenannten, allein, am frühen Morgen, hatte etwas Außerordentliches, die Rückkehr nicht weniger. War es eine Beute, die er mit sich führte? Und wie hatte er sie so allein gemacht? Wie kam er zu der fremden Sänfte? Und wessen konnte die Livree sein? Sie guckten und guckten, aber Keiner rührte sich, denn so befahl es ihnen der Gebieter mit den Augen.

Man steigt hinauf, man ist auf der Höhe. Die Bravi, die sich auf dem Platze vor dem Schlosse und an der Thüre befinden, ziehen sich zu beiden Seiten zurück, um Platz zu machen; der Ungenannte giebt ihnen ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten, reitet schnell der Sänfte voran, winkt dem Sänftenführer und Don Abbondio, ihm zu folgen; er reitet in den ersten Hof und aus diesem in einen zweiten, gelangt an eine kleine Thür, weist mit einer Geberde einen Bravo zurück, der herbeieilte, um ihm den Steigbügel zu halten, und sagt zu ihm: »Bleibe dort stehen, Keiner soll sich mir nahen.« Er steigt ab, bindet das Maulthier an ein eisernes Gitter, geht zu der Sänfte, nähert sich der Frau, welche den Vorhang zurückgezogen hatte, und sagt leise zu ihr: »Tröstet sie nur gleich; macht ihr begreiflich, daß sie frei ist, daß sie in Freundes Händen ist. Gott wird es Euch lohnen.« Darauf befiehlt er dem Sänftenführer, die Frau aussteigen zu lassen, tritt dann auf Don Abbondio zu, und mit einer so heitern Miene, wie dieser sie noch nicht an ihm bemerkt, noch für möglich gehalten hatte, in der sich die Freude an dem guten Werke malte, das er im Begriff war zu vollbringen, sagte er gleichfalls leise zu ihm: »Herr Pfarrer, ich bitte Sie nicht um Entschuldigung wegen der Unbequemlichkeiten, die Sie meinetwegen haben; Sie thun es für Einen, der es Ihnen lohnt, und für sein armes Geschöpf.« Mit diesen Worten faßte er mit der einen Hand den Zügel, mit der[35] andern den Steigbügel, um Don Abbondio vom Maulthiere herab zu helfen.

Das heitere Gesicht und die freundlichen Worte des Ungenannten hatten Don Abbondio wieder zum Leben erweckt. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, der ihm schon seit einer Stunde das Herz beengt hatte, verneigte sich gegen den Ungenannten und antwortete mit schüchterner Stimme: »Glauben Sie? aber, aber, aber ...!« indem er, so gut er konnte, von seinem Thiere herunter zu kommen suchte. Der Ungenannte band auch dieses an und befahl dem Sänftenführer, ihn hier draußen zu erwarten. Dann zog er einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete die Thür, trat ein, ließ den Pfarrer und die Frau auch eintreten und ging ihnen voran nach der kleinen Treppe zu, die alle Drei stillschweigend hinauf stiegen.

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 2, S. 19-36.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
Die Verlobten
Die Verlobten
Die Verlobten. Eine mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert
Die Verlobten: Eine mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert (insel taschenbuch)
Die Verlobten: Eine Mailändische Geschichte aus dem Siebzehnten Jahrhundert

Buchempfehlung

Schlegel, Dorothea

Florentin

Florentin

Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?

134 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon