|
[249] Der Leser denke sich den Bezirk des Lazarethes mit sechszehntausend Pestkranken bevölkert; den ganzen Raum theils mit Hütten und Baracken, theils mit Karren, theils mit Menschen angefüllt; die beiden endlosen Bogengänge rechts und links bedeckt und vollgepfropft mit Hinsiechenden oder mit Leichnamen, auf Strohsäcken oder auf Stroh; und durch das ganze, fast unermeßliche Lager eine Bewegung wie das Wogen des Meeres; hier und da ein Gehen und Kommen, ein Stillstehen, ein Laufen, ein Sichbücken, ein Sichaufrichten von Genesenden, Wahnsinnigen, Wärtern. Das war das Schauspiel, das Renzo's Blick mit einemmal erfüllte und ihn übermannt und ergriffen an die Stelle fesselte. Es ist nicht unsere Absicht dieses Schauspiel ganz und gar zu beschreiben, was der Leser gewiß auch nicht wünschen wird; wir werden nur unserm Jüngling auf seinen peinlichen Gängen folgen, da verweilen, wo er verweilt, und von dem, was er zu sehen bekam, nur so viel sagen, als nothwendig ist, um das zu erzählen, was er that und was ihm begegnete.
Von der Pforte an, wo er stehen geblieben war, bis zu der Kapelle in der Mitte und von da bis zu der andern Pforte gegenüber ging ein von Hütten und jedem andern feststehenden Hinderniß freier Weg; auf den zweiten Blick sah Renzo auf diesem ein Zurückschieben von Karren, ein Wegschaffen von Sachen, um Platz zu machen; er sah Kapuziner und Beamte, welche diese Verrichtung leiteten und zugleich einen jeden fortschickten, der dort[249] nichts zu thun hatte. Da er fürchtete, auch auf diese Weise hinausgesetzt zu werden, so drängte er sich geradezu zwischen die Hütten, auf der Seite, nach der er sich zufällig gewandt hatte, der rechten.
Er ging, je nachdem er Platz vor sich sah, um die Füße setzen zu können, von Hütte zu Hütte vorwärts, steckte in eine jede den Kopf, und indem er die Lagerstätten beobachtete, welche unbedeckt waren, faßte er die von Leiden abgespannten, oder von Krampf verzogenen, oder durch den Tod unbeweglichen Gesichter ins Auge, ob er nicht dasjenige fände, was er doch fürchtete zu finden. Aber er hatte schon ein schönes Stückchen Weg gemacht und die schmerzliche Untersuchung viele, viele Male wiederholt, ohne noch ein Frauenzimmer gesehen zu haben; er meinte daher, sie müßten an einem abgesonderten Orte sein, und er hatte es errathen; aber wo dieser wäre, davon hatte er weder eine Ahnung noch eine Muthmaßung. Er begegnete hin und wieder Beamten, ebenso verschieden an Aussehen, Benehmen und Kleidung, als die Beweggründe verschieden und entgegengesetzt waren, die den einen und den andern eine gleiche Kraft verliehen, in solchen Dienstverrichtungen auszuharren; bei den einen die Vernichtung jedes mitleidigen Gefühls, bei den andern ein übermenschliches Mitleid. Aber weder bei diesen noch bei jenen fühlte sich Renzo geneigt, eine Frage zu thun, um sich nicht etwa ein Hinderniß zu schaffen; er beschloß so lange zu gehen, bis er bei den Frauen ankäme. Indem er ging, unterließ er nicht umherzuspähen; von Zeit zu Zeit aber war er gezwungen, den betrübten und von so vielen Wunden gleichsam verdunkelten Blick wegzuwenden. Aber wohin sollte er ihn wenden, wo ihn ruhen lassen, als auf andern Wunden?
Die Luft selbst und der Himmel erhöhten, wenn irgend etwas ihn erhöhen konnte, den Schrecken dieses Anblicks. Der Nebel hatte sich nach und nach verdichtet und in Wolken gesammelt, die, sich immer mehr zusammenziehend, auf ein Sturmwetter deuteten; nur gegen die Mitte dieses dunkeln, niederhangenden Himmels schien wie hinter einem dichten Schleier die bleiche Sonnenscheibe hervor, die rings um sich her einen schwachen dunstigen Schein verbreitete und eine todte drückende Schwüle ausströmte. Von[250] Zeit zu Zeit hörte man unter dem unaufhörlichen Gesumse der verworrenen Menge ein dumpfes, wie abgebrochenes, unbestimmtes Gemurmel von Tönen, und hielt man auch das Ohr aufmerksam hin, so vermochte man doch nicht zu unterscheiden, von welcher Seite es kam; man konnte es für ein entferntes Fahren von Karren halten, die jeden Augenblick still hielten. Man sah auf den Feldern umher auch nicht einen Zweig eines Baumes sich bewegen, auch nicht einen Vogel sich darauf niederlassen oder davon sich erheben; nur die Schwalbe, die sich flüchtig auf dem Dache des Gebäudes zeigte, flatterte mit ausgebreiteten Flügeln herab, um über die Ebene des Feldes gleichsam hinzustreichen; aber erschreckt durch das Gewühl schwang sie sich schnell wieder in die Höhe und entfloh. Es war ein Wetter, bei welchem unter einer Schaar von Wanderern keiner ist, der das Stillschweigen bricht, wo der Jäger gedankenvoll mit gesenktem Blick geht, die Bäuerin, die das Feld umgräbt, aufhört zu singen, ohne es gewahr zu werden; es war ein Wetter, wie es dem Sturm vorangeht, in welchem die Natur, gleichsam regungslos nach außen und von einem innern Kampfe bewegt, alles Lebende zu erdrücken scheint und, ich weiß nicht mit welcher Schwere, sich auf jede Beschäftigung, auf den Müßiggang, auf das Dasein selbst legt. Aber an diesem schon an und für sich zum Leiden und Sterben bestimmten Orte sah man den mit dem Uebel schon ringenden Menschen der neuen Bedrückung unterliegen; man sah hunderte und aber hunderte ganz plötzlich schlimmer werden; zugleich wurde der letzte Kampf angstvoller und die Seufzer bei dem Zunehmen der Schmerzen erstickter. Es war über diesen Ort des Jammers vielleicht noch keine so schwere Stunde hingezogen als diese.
Schon war der Jüngling eine gute Weile fruchtlos durch die Vorgänge von Hütten herumgelaufen, als er unter den mannigfaltigen Klagen und dem verworrenen Gemurmel ein seltsames Gemisch von Wimmern und Blöken vernahm; bald darauf kam er an eine zersplitterte, morsche Bretterwand, hinter der die ungewöhnlichen Töne hervordrangen. Er hielt das Auge an eine wette Oeffnung zwischen zwei Brettern und sah einen abgeschlossenen Raum mit einzelnen Hütten darin, aber sowohl in[251] diesen wie auf dem kleinen freien Raume nicht die gewöhnlichen Krankenlager, sondern junge Kinder auf Matratzen oder Kissen, auf ausgebreiteten Betttüchern oder zerlumpten Kleidern liegen, Ammen und andere Frauen in voller Thätigkeit; und was über alles den Blick anzog und fesselte, waren Ziegen, die als Gehülfinnen mit unter den Frauen standen – ein Hospital für Kinder, wie Ort und Zeit es bieten konnte. Es war, sage ich, eine eigene Sache, einige dieser Thiere zu sehen, die ruhig über diesem oder jenem Säugling standen und ihm das Euter überließen; und irgend ein anderes, das wie durch ein mütterliches Gefühl geleitet auf ein Geschrei herbeilief und neben dem kleinen Säugling stehen blieb, sich über ihm zurecht zu stellen suchte und blökte, sich drehte und wandte, als wollte es Jemand rufen, der ihnen beiden zu Hülfe käme.
Hier und da saßen Ammen mit Kindern an der Brust; einige mit einer solchen Hingebung, daß man bei ihrem Anblick zweifeln konnte, ob sie durch den Lohn oder von jener freiwilligen Menschenliebe hergezogen waren, welche die Noth und die Schmerzen aufsucht. Eine von ihnen nahm ganz betrübt ein weinendes Würmchen von ihrer ausgesogenen Brust ab und suchte traurig ein Thier auf, das ihre Stelle vertreten könnte. Eine andere betrachtete mit gerührtem Auge den an ihrer Brust eingeschlafenen Säugling, küßte ihn sanft und trug ihn in eine Hütte, wo sie ihn auf ein Kissen niederlegte. Eine dritte aber, die ihre Brust dem saugenden Fremdling überließ, blickte mit einem gewissen Ausdruck, wenn auch nicht von Sorglosigkeit, so doch von Zerstreutheit starr in den Himmel; an was dachte sie in dieser Stellung, mit diesem Blick, wenn nicht an ein eigenes Kind, das vielleicht noch kurz vorher an dieser Brust gesogen hatte, das vielleicht daran verschieden war? Andere bejahrtere Frauen leisteten andere Dienste. Die eine lief auf das Geschrei eines hungernden Kindes herbei, nahm es auf und trug es zu einer Ziege, die auf einem Haufen von frischem Grase weidete, und legte es ihr an das Euter, indem sie das unerfahrene Thier schalt und zu gleich liebkoste, damit es sich willig zu dem Dienste hergab. Diese lief hinzu, um einen armen Wurm aufzunehmen, den eine Ziege, ganz erpicht darauf,[252] einen andern zu säugen, mit dem Fuße trat; jene trug ihr eigenes Kind herum, es in ihren Armen wiegend, indem sie es bald durch Singen einzuschläfern, bald durch süße Worte zu beruhigen suchte und es bei einem Namen rief, den sie ihm selbst gegeben hatte. In demselben Augenblick kam ein Kapuziner mit schneeweißem Barte, auf jedem Arm ein schreiendes Kind tragend, die er so eben bei den gestorbenen Müttern aufgenommen hatte; eine Frau lief, sie in Empfang zu nehmen, und blickte unter dem Weiberhaufen und der Ziegenheerde umher, um sogleich eine andere Mutter für sie zu finden.
Mehr als einmal hatte sich der Jüngling, von dem getrieben, was das erste und stärkste seiner Gedanken war, von der Oeffnung entfernt, um fortzugehen, und immer hatte er das Auge wieder daran gehalten, um noch einen Augenblick zuzusehen.
Nachdem er sich endlich losgerissen, ging er längs der Bretterwand hin, bis ihn eine kleine Anzahl von Hütten, die daran aufgeschlagen waren, zu einer andern Wendung zwangen. Er ging dann an den Hütten entlang, behielt aber immer die Bretterwand im Auge, um bis an das Ende derselben zu gehen und weiter umher zu spähen. Jetzt, während er vor sich aussah, um den Weg zu ermessen, traf sein Blick auf eine plötzliche, vorübergehende, flüchtige Erscheinung und brachte seine Seele in die heftigste Bewegung. Er sah etwa hundert Schritte entfernt einen Kapuziner vorübergehen und sogleich zwischen den Baracken verschwinden, einen Kapuziner, der von ferne, so schnell er auch lief, ganz den Gang, das Wesen und die Gestalt des Pater Cristoforo hatte. Mit dem Ungestüm, den man sich denken kann, lief er nach jener Seite hin; und hier lief er suchend vorwärts und rückwärts, innen und außen durch jene Irrgänge so lange herum, bis er mit eben so großer Freude jene Gestalt, jenen nämlichen Pater wiedersah; er sah ihn einige Schritte entfernt, wie er, von einem großen Kessel sich entfernend, mit einem Napfe in der Hand auf eine Hütte zuging; dann sah er, wie er sich vor dem Eingang derselben niedersetzte, das Kreuz über den Napf schlug, den er vor sich hielt, und indem er umherblickte wie einer, der immer auf der Lauer steht, zu essen anfing. Es war wirklich Pater Cristoforo.[253]
Die Geschichte desselben von dem Augenblick an, wo wir ihn aus dem Gesichte verloren haben, bis zu diesem Begegnen ist mit zwei Worten erzählt. Er wäre niemals von Rimini aufgebrochen und hätte auch nicht daran gedacht sich wegzubegeben, wenn nicht die in Mailand ausgebrochene Pest ihm Gelegenheit zu dem geboten, was er immer so sehr gewünscht hatte, für den Nächsten sein Leben zu lassen. Er bat dringend, abberufen zu werden, um die Pestkranken zu pflegen und ihnen beizustehen. Der Graf Oheim war todt; übrigens waren jetzt Krankenwärter nöthiger als Politiker; daher wurde er ohne Schwierigkeit erhört. Er kam sogleich nach Mailand, trat in das Lazareth ein und befand sich daselbst seit ungefähr drei Monaten.
Aber die Freude Renzo's, seinen guten Pater wieder zu finden, war auch nicht einen Augenblick ungetrübt; mit der Gewißheit, daß er es war, mußte er zugleich die Veränderung sehen, die mit ihm vorgegangen. Die Haltung gebückt und schlaff, das Gesicht mager und bleich; in allem sah man eine erschöpfte Natur, einen gebrochenen und hinfälligen Körper, der sich durch die Stärke der Seele jeden Augenblick wieder aufhalf und kräftigte.
Auch er heftete den Blick auf den Jüngling, der auf ihn zukam, der sich durch Geberden bemerkbar und kenntlich zu machen suchte, da er es mit der Stimme nicht wagte. »O Pater Cristoforo!« sagte er dann, als er ihm so nahe war, um von ihm gehört zu werden, ohne daß er die Stimme erhob.
»Du hier!« sagte der Pater, indem er den Napf auf die Erde setzte und sich erhob.
»Wie geht es, Pater? wie geht es?«
»Besser als den vielen Unglücklichen, die du hier siehst«, antwortete der Pater, und seine Stimme war schwach, hohl und verändert wie alles Uebrige. Nur das Auge war noch wie früher und ein gewisses Etwas glänzte vielleicht noch lebhafter darin: als ob die Menschenliebe noch erhöht am Ende ihres Tagewerkes und frohlockend, sich ihrem Ursprunge so nahe zu fühlen, es fast mit einem noch glühenderen und reineren Feuer belebte als dasjenige, was die Gebrechlichkeit nach und nach darin auszulöschen drohte.[254]
»Aber du«, fuhr er fort, »wie kommst du hierher? Warum setzest du dich so der Pest aus?«
»Ich habe sie gehabt, Dank dem Himmel. Ich komme .... um .... Lucia aufzusuchen.«
»Lucia! ist Lucia hier?«
»Sie ist hier; wenigstens hoffe ich auf Gott, daß sie noch hier ist.«
»Ist sie deine Frau?«
»O lieber Pater! sie ist noch nicht meine Frau. Sie wissen nichts von allem dem, was vorgefallen ist?«
»Nein, mein Sohn; seit Gott mich von euch getrennt hat, habe ich nichts mehr erfahren, aber jetzt, da Er dich mir sendet, sage ich die Wahrheit, daß ich sehr wünsche, etwas zu erfahren. Aber .... und der Verhaftsbefehl?«
»Sie wissen also, was sie mir angethan haben?«
»Aber du, was hattest du gethan?«
»Hören Sie; wenn ich sagen wollte, daß ich an jenem Tage in Mailand meinen Verstand gehabt habe, so würde ich eine Lüge sagen; schlechte Handlungen aber, die habe ich nicht begangen.«
»Ich glaube es dir und ich glaubte es immer.«
»Jetzt also kann ich Ihnen alles sagen.«
»Warte«, sagte der Pater; er that einige Schritte von der Hütte fort und rief: »Pater Vittore!« Gleich darauf erschien ein junger Kapuziner, zu dem er sagte: »Thut mir die Liebe, Pater Vittore, wartet auch für mich unsere armen Kranken ab, so lange ich mich zurückziehe; wenn jedoch Jemand nach mir verlangen sollte, so ruft mich. Besonders jener dort! wenn er nur das geringste Zeichen geben sollte zu sich zu kommen, so zeigt es mir sogleich an, aus Barmherzigkeit.«
»Zweifelt nicht«, antwortete der junge Mönch, und der alte wendete sich zu Renzo und sagte: »Treten wir hier ein. Aber ....« fügte er sogleich hinzu, indem er still stand, »du scheinst mir sehr erschöpft; du mußt Hunger haben.«
»Es ist wahr«, sagte Renzo, »jetzt, da Sie mich daran erinnern, fällt mir ein, daß ich noch nüchtern bin.«[255]
»Warte«, sagte der Pater; nahm einen andern Napf, ging zu dem Keffel und füllte ihn; kehrte dann zurück und reichte ihn mit einem Löffel Renzo; er ließ ihn sich auf einen Strohsack niedersetzen, der ihm als Bett diente; dann ging er zu einem Fasse, das in einer Ecke stand, zapfte ein Glas Wein, stellte es auf ein Tischchen vor seinen Gast; dann nahm auch er seinen Napf wieder und setzte sich neben ihn.
»O Pater Cristoforo!« sagte Renzo, »kommt es Ihnen zu, dergleichen Dinge zu thun? Aber Sie sind doch noch immer der nämliche. Ich danke Ihnen von Herzen.«
»Danke mir nicht«, sagte der Pater, »es ist Armengut; aber auch du bist in diesem Moment ein Armer. Jetzt sage mir, was ich noch nicht weiß, sprich mir von unserer Aermsten, aber suche dich kurz zu fassen, denn die Zeit ist hier knapp, und es ist viel zu thun, wie du siehst.«
Renzo fing an zwischen einem Löffel und dem andern die Geschichte Lucia's zu erzählen, wie sie in dem Kloster in Monza untergebracht, wie sie geraubt worden war ... Bei der Vorstellung solcher Leiden und solcher Gefahren, bei dem Gedanken, daß er es gewesen, der die arme Unschuldige an diesen Ort hingewiesen hatte, verging dem guten Pater der Athem; aber er kam gleich wieder zu sich, als er hörte, wie wunderbar sie gerettet, der Mutter wiedergegeben und von dieser bei Donna Prassede untergebracht worden war.
»Jetzt will ich Ihnen von mir erzählen«, fuhr Renzo fort und erzählte in aller Kürze von jenem schlimmen Tage in Mailand, von der Flucht, wie er immer fern von der Heimat gewesen sei und jetzt, wo alles zu oberst zu unterst gekehrt, es gewagt habe hinzugehen; wie er Agnese dort nicht gefunden; wie er in Mailand erfahren, daß Lucia im Lazareth wäre. »Und ich bin hier«, schloß er, »bin hier, sie zu suchen, zu sehen, ob sie lebt, und ob .... sie mich noch will .... denn ... manchmal ....«
»Aber«, fragte der Pater, »hast du irgend einen Fingerzeig, wo man sie untergebracht hat, wann sie hierher gekommen ist?«
»Nichts, theurer Pater; nichts, als daß sie hier ist, wenn sie noch hier ist, was Gott gebe!«[256]
»O du Armer! aber welche Nachforschungen hast du bis jetzt hier gemacht?«
»Ich bin hin und her gelaufen; ich habe aber unter andern fast nichts als Männer gesehen. Ich habe mir wohl gedacht, daß die Frauen an einem besondern Ort sein müssen, aber ich habe noch nicht dahin kommen können; wenn es so ist, so werden Sie mich jetzt schon hinweisen.«
»Weißt du nicht, mein Sohn, daß es den Männern verboten ist, dort einzutreten, wenn sie nicht irgend einen Auftrag dahin haben?«
»Nun, was kann mir widerfahren?«
»Die Vorschrift ist gerecht und heilig, lieber Sohn; und wenn die Masse und die Schwere des Elends nicht zuläßt, daß sie mit aller Strenge beobachtet wird, ist das ein Grund für einen rechtlichen Menschen, sie zu übertreten?«
»Aber, Pater Cristoforo!« sagte Renzo, »Lucia müßte meine Frau sein, Sie wissen, wie wir getrennt worden sind; es sind zwanzig Monate, daß ich leide und Geduld habe; ich bin auf so viele Gefahren hin, die eine immer noch schlimmer wie die andere, bis hierher gekommen, und jetzt ....«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, versetzte der Pater, indem er mehr seine eigenen Gedanken als die Worte des Jünglings beantwortete, »du gehst in guter Absicht und wollte Gott, daß alle, die freien Zutritt an diesem Ort haben, sich so betragen möchten, wie ich es von dir mit Zuversicht erwarten kann. Gott, der gewiß die Beharrlichkeit deiner Zuneigung, deine Treue an diejenige, die er dir gegeben hat, dein Suchen nach ihr segnet, Gott, der strenger als die Menschen, aber auch nachsichtiger ist, möge nicht darauf achten, was in dieser deiner Art sie zu suchen gegen das Gesetz sein könnte. Erinnere dich nur, daß wir alle Beide über dein Betragen an jenem Orte Rechenschaft abzulegen haben; den Menschen vielleicht nicht, aber Gott ganz gewiß. Komm.« Mit diesen Worten erhob er sich und Renzo mit ihm; indem dieser nicht unterlassen auf seine Worte zu hören, hatte er inzwischen bei sich selbst berathen, von jenem gewissen Gelübde Lucia's nicht zu sprechen, wie er es sich erst vorgenommen. – Wenn er auch davon[257] hört – hatte er gedacht – so macht er mir ganz gewiß neue Schwierigkeiten. Entweder ich finde sie, und dann ist's immer noch an der Zeit darüber zu sprechen; oder .... und dann, wozu wäre es dann? –
Nachdem der Pater ihn bis an den Eingang der Hütte gebracht hatte, die gegen Norden lag, sagte er: »Höre; unser Pater Felice, welcher der Vorsteher hier im Lazareth ist, führt heute die wenigen Geheilten an einen andern Ort. Du siehst die Kirche dort in der Mitte ....« und indem er die magere, zitternde Hand erhob, deutete er links in der trüben Luft auf die Kuppel der Kapelle, die über die ärmlichen Zelte sich thurmähnlich erhob, und fuhr fort: »Dort herum werden sie sich jetzt versammeln, um in Prozession zu dem Thore hinaus zu gehen, durch welches du hereingekommen sein mußt.«
»Ach! darum also machten sie so geschäftig den Weg frei.«
»Ganz recht; du mußt auch einige Male Glockenschläge gehört haben.«
»Einmal habe ich es gehört.«
»Das war das zweite Mal; beim dritten Male werden sie alle versammelt sein; der Pater Felice wird eine kleine Ansprache an sie halten und sich dann mit ihnen auf den Weg machen. Bei dem letzten Glockenschlage kannst du dich hinbegeben; siehe zu, daß du hinter die Versammlung an einer Seite der Straße zu stehen kommst, wo du sie kannst vorüber ziehen sehen, ohne zu stören oder aufzufallen; und sieh.... sieh, ob sie dabei ist. Wenn Gott es nicht gewollt hat, daß sie dabei ist, so ist jener Theil«, und wieder erhob er die Hand und deutete auf die Seite des Gebäudes gerade gegenüber, »so ist jener Theil der Anstalt und ein Theil des Platzes davor den Frauen angewiesen. Du wirst ein Stacket sehen, das dieses Viertel von jenen trennt, das aber an gewissen Stellen unterbrochen, an andern geöffnet ist, so daß du keine Schwierigkeit finden wirst, um hinein zu kommen. Wenn du drinnen bist und nichts thust, was irgend Jemandem Argwohn erregen kann, so wird dir wahrscheinlich Niemand etwas sagen. Wenn man dir aber irgend ein Hinderniß in den Weg legen sollte, so sage, daß Pater Cristoforo von*** dich kennt und über dich[258] Auskunft geben wird. Suche sie da, suche sie mit Zuversicht, und .... mit Ergebung denke daran, daß es nichts Geringes ist, was du hier zu suchen gekommen bist: du forderst im Lazareth eine Person am Leben anzutreffen! Weißt du, wie oft ich mein armes Volk sich hier erneuern gesehen habe? wie viele ich habe forttragen sehen? wie wenige hinausgehen .... Geh und bereite dich auf ein Opfer vor ....«
»Ja, ich sehe es auch ein«, unterbrach ihn Renzo mit verdrehten Augen und im ganzen Gesichte sich verändernd, »ich sehe es ein! Ich gehe; ich werde umherschauen und suchen hier und dort durch das ganze Lazareth, von oben bis unten .... und wenn ich sie nicht finde!....«
»Wenn du sie nicht findest?« sagte der Pater mit ernster, erwartungsvoller Miene und mit einem verweisenden Blick.
Renzo aber, der bei der Vorstellung dieser Ungewißheit in Wuth gerathen war, ließ alle Rücksicht schwinden und fuhr fort: »Wenn ich sie nicht finde, so werde ich einen andern zu finden wissen. Hier in Mailand oder in seinem verruchten Palaste, oder am Ende der Welt, oder in der Hölle, ich werde ihn finden, den Schurken, der uns getrennt hat; wenn er nicht gewesen wäre, der Schurke, so wäre Lucia schon seit zwanzig Monaten mein Weib; und wenn es uns bestimmt war zu sterben, so wären wir wenigstens zusammen gestorben. Wenn er noch lebt, so werde ich ihn finden ....«
»Renzo!« sagte der Pater ihn beim Arm ergreifend und noch ernster anblickend.
»Und wenn ich ihn finde«, fuhr Renzo, ganz blind vor Zorn, fort, wenn die Pest nicht schon Gerechtigkeit an ihm ausgeübt hat .... »Es ist nicht mehr an der Zeit, wo eine solche Memme, von seinen Bravi umgeben, die Leute in Verzweiflung stürzen und sich hinterher darüber lustig machen kann; die Zeit ist gekommen, wo die Menschen Stirn gegen Stirn sich gegenüberstehen, und .... ich werde sie ausüben die Gerechtigkeit!«
»Unglückseliger!« rief Pater Cristoforo mit einer Stimme, die ganz die alte Kraft und Fülle wieder gewonnen hatte, »Unglückseliger«, und sein auf die Brust gesenktes Haupt hatte sich emporgerichtet,[259] die Wangen färbten sich mit dem alten Leben und das Feuer seiner Augen hatte ich weiß nicht was Schreckliches. »Sieh, Unglückseliger!« Und während er mit der einen Hand die Renzo's drückte und schüttelte, streckte er die andere vor sich hin und deutete so weit er konnte auf den traurigen Schauplatz ringsherum. »Sieh, wer Der ist, der da straft! Der, welcher richtet und nicht gerichtet wird! Der, welcher geißelt und verzeiht! Und du, Erdenwurm, du willst Gerechtigkeit ausüben, du, weißt du, was Gerechtigkeit ist? Geh, Unglückseliger, geh! Ich hoffte .... ja ich habe gehofft, Gott werde mir vor meinem Tode noch die Freude geben, zu hören, daß meine arme Lucia am Leben sei, daß ich sie vielleicht sehe und von ihr mir versprechen höre, daß sie nach der Grube hin, wo ich ruhen werde, ein Gebet wenden wolle. Geh, du hast mir meine Hoffnung genommen. Gott hat sie nicht für dich auf Erden gelassen; und du, gewiß, du bist nicht so vermessen, dich würdig zu halten, daß Gott dich zu trösten denkt. Er wird an sie gedacht haben, denn sie ist eine von den Seelen, denen die ewigen Tröstungen aufbewahrt sind. Geh! Ich kann dir nicht weiter Gehör geben.«
Bei diesen Worten stieß er Renzo's Arm von sich und schritt auf eine Krankenhütte zu.
»Ach Pater!« sagte Renzo und ging in demüthiger Haltung hinter ihm her, »wollen Sie mich so fortschicken?«
»Wie!« begann der Kapuziner mit nicht weniger ernster Stimme, »wagst du zu verlangen, ich soll diesen Betrübten, die auf mich warten, daß ich ihnen von der Vergebung Gottes spreche, die Zeit rauben, um die Ausbrüche deiner Wuth, die Vorsätze deiner Rache anzuhören? Ich habe dich angehört, als du Trost und Hülfe verlangtest; ich habe die Barmherzigkeit um der Barmherzigkeit willen verlassen, du aber hast jetzt deine Rache im Herzen, was willst du von mir? Geh. Ich habe hier Beleidigte sterben sehen, die verziehen, Beleidiger, die jammerten, daß sie sich nicht vor den Beleidigten demüthigen konnten; ich habe mit den einen und mit den andern geweint; aber mit dir, was habe ich mit dir zu thun?«[260]
»Ach, ich vergebe ihm! ich vergebe ihm wahrhaftig, ich vergebe ihm für immer!« rief der Jüngling aus.
»Renzo!« sagte mit ruhigerer Strenge der Pater; »denke nach und sage mir einmal, wie oft du ihm schon vergeben hast.«
Und nachdem er eine Weile gewartet, ohne Antwort zu erhalten, senkte er plötzlich das Haupt und sagte mit tiefer, gedehnter Stimme: »Du weißt, warum ich dieses Kleid trage.«
Renzo zögerte.
»Weißt du es?« fragte der Greis.
»Ich weiß es«, antwortete Renzo.
»Auch ich habe gehaßt, ich, der ich dich wegen eines Gedankens, wegen eines Wortes getadelt; den Mann, den ich von Herzen haßte, den ich seit langer Zeit haßte, ich habe ihn getödtet.«
»Ja, aber einen Gewaltthätigen, einen von denen ....«
»Still!« unterbrach ihn der Pater, »glaubst du, wenn eine Entschuldigung dafür wäre, daß ich sie in dreißig Jahren nicht gefunden hätte? Ach! könnte ich dir jetzt das Gefühl in das Herz legen, das ich hierauf immer für den Menschen, den ich haßte, gehabt habe und noch habe! Ich? nur Gott kann es; Er möge es thun! ..... Höre, Renzo, Er meint es besser mit dir als du selbst; du hast die Rache ersinnen können; aber Er hat Kraft und Erbarmen die Fülle, um sie zu verhindern; Er erzeigt dir eine Gnade, der ein anderer zu unwürdig war. Du weißt, du hast es oftmals gesagt, daß Er die Hand eines Gewaltthätigen halten kann; aber wisse, daß er auch die eines Rachsüchtigen halten kann. Und weil du arm bist, weil du beleidigt bist, glaubst du, daß Er einen Menschen, den er nach seinem Ebenbilde geschaffen, nicht gegen dich vertheidigen kann? Glaubst du, Er würde dich alles thun lassen, was du willst? Nein! aber weißt du, was du thun kannst? Du kannst hassen und dich zu Grunde richten; du kannst mit einem deiner Gefühle allen Segen von dir entfernen. Denn wie es dir auch immer ergeht, was für ein Glück du auch hast, sei gewiß, alles wird dir zur Strafe werden, bis du ihm nicht so verziehen hast, daß du nicht mehr sagen kannst: ich verzeihe ihm.«[261]
»Ja, ja«, sagte Renzo ganz bewegt und ganz verwirrt, »ich sehe ein, daß ich ihm noch nicht wahrhaft verziehen hatte; ich sehe ein, daß ich wie ein sinnloser Mensch und nicht wie ein Christ gesprochen habe; jetzt aber, durch die Gnade des Herrn, verzeihe ich ihm wirklich von Herzen.«
»Und wenn du ihn sehen würdest?«
»So würde ich den Herrn bitten, mir Geduld zu verleihen und ihm das Herz zu rühren.«
»Würdest du dich erinnern, daß der Herr uns nicht gesagt hat, unsern Feinden zu verzeihen, daß er uns gesagt hat, sie zu lieben? Würdest du dich erinnern, daß Er ihn so sehr geliebt, für ihn zu sterben?«
»Ja, mit seiner Hülfe.«
»Wohlan, komm mit mir. Du hast gesagt, ich werde ihn finden; du wirst ihn finden. Komm und sieh, gegen wen du Haß trugest, wem du Böses wünschtest, wem du es zufügen wolltest, über wessen Leben du der Herr sein wolltest.«
Und indem er Renzo's Hand ergriff und sie drückte, wie ein Jüngling es nur hätte thun können, brach er auf. Jener folgte ihm, ohne daß er noch etwas zu fragen wagte.
Nach wenigen Schritten blieb der Pater vor dem Eingang einer Hütte stehen, sah Renzo mit einer Mischung von Ernst und Rührung fest ins Gesicht und führte ihn hinein.
Das Erste, was sich beim Eintritt zeigte, war ein Kranker, der im Hintergrunde auf Stroh saß; ein jedoch nicht Schwerkranker, der sogar seiner Genesung nahe scheinen konnte; als er den Pater erblickt hatte, schüttelte er wie verneinend den Kopf; der Pater senkte den seinigen, mit einer Bewegung von Traurigkeit und Ergebung. Renzo ließ unterdessen mit unruhiger Neugierde den Blick auf die andern Gegenstände umherschweifen, sah drei oder vier Kranke, unter denen er einen auf der einen Seite auf einer Matratze in ein Betttuch gewickelt unterschied, mit einem prächtigen Mantel über sich anstatt der Decke; er sah ihn genau an, erkannte Don Rodrigo und trat einen Schritt zurück; der Pater aber, der ihm von neuem kräftig die Hand drückte, an der[262] er ihn hielt, zog ihn zu dem Fuß des Lagers hin, streckte die andere Hand darüber aus und deutete mit dem Finger auf den Mann, der hier lag.
Der Unglückliche lag regungslos; die Augen weit offen, aber ohne Ausdruck; das Gesicht bleich und voll einzelner schwarzer Flecken, die Lippen schwarz und geschwollen; man würde es für das Gesicht eines Leichnams gehalten haben, wenn nicht ein heftiges Zucken von einem zähen Leben darin Zeugniß gegeben hätte. Die Brust hob sich von Zeit zu Zeit unter schweren Athemzügen; die rechte Hand, unbedeckt von dem Mantel, faßte denselben nahe am Herzen mit zusammengezogenen Fingern, die braun und an den Spitzen schwarz waren.
»Du siehst«, sagte der Pater mit leiser, feierlicher Stimme, »es kann eine Strafe, es kann eine Gnade sein. Die Empfindung, die du jetzt für diesen Menschen haben wirst, der dich beleidigt hat, dieselbe Empfindung wird an jenem Tage Gott für dich haben, den du beleidigt hast. Segne ihn und du wirst gesegnet werden. Seit vier Tagen ist er hier, wie du ihn siehst, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. Vielleicht gewährt ihm der Herr einen lichten Augenblick; aber du sollst zu ihm beten; vielleicht will er, daß du mit der Unschuldigen ihn darum bittest; vielleicht spart er seine Gnade für dein Gebet allein auf, für das Gebet eines betrübten und ergebenen Herzens. Vielleicht hängt die Rettung dieses Menschen und die deine jetzt von dir ab, von einem Gefühl der Vergebung und des Mitleids .... der Liebe!«
Er schwieg, faltete die Hände, neigte das Gesicht über sie und betete; Renzo that dasselbe.
Sie hatten einige Momente in dieser Stellung verharrt, als die Glocke ertönte. Beide, als hätten sie sich verabredet, setzten sich in Bewegung und gingen hinaus. Der eine that keine Fragen, der andere machte keine Betheuerungen; ihre Mienen sprachen.
»Geh jetzt«, sagte der Pater, »geh gefaßt, sei es eine Gnade zu empfangen, sei es ein Opfer zu bringen, Gott zu preisen, welches auch immer der Erfolg deiner Nachforschungen sei; und wie er auch sein möge, komm und bringe mir Nachricht; wir werden ihn zusammen preisen.«[263]
Hier trennten sie sich, ohne noch etwas zu sagen; der eine kehrte dahin zurück, woher er gekommen war; der andere schritt auf die Kapelle zu, die nicht weiter als hundert Schritte entfernt war.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Verlobten
|
Buchempfehlung
Die ältesten Texte der indischen Literatur aus dem zweiten bis siebten vorchristlichen Jahrhundert erregten großes Aufsehen als sie 1879 von Paul Deussen ins Deutsche übersetzt erschienen.
158 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro