Sechsunddreißigstes Kapitel.

[264] Wer hätte es wohl einige Stunden früher Renzo gesagt, daß mitten in der Mühseligkeit einer solchen Nachforschung, beim Beginn der zweifelhaftesten und entscheidendsten Augenblicke, sein Herz zwischen Lucia und Don Rodrigo getheilt sein würde? Und doch war es so. Jene Gestalt mischte sich unter alle lieben oder schrecklichen Bilder, welche die Hoffnung oder die Furcht ihm auf diesem Gange abwechselnd vor Augen stellte; die Worte, die er am Fuße jenes Lagers gehört, drängten sich zwischen die Ja und Nein, von denen seine Seele bestürmt wurde; und er konnte für den glücklichen Ausgang der großen Gefahr kein Gebet schließen, ohne jenes damit zu verknüpfen, das er dort begonnen und das die Glocke abgebrochen hatte.

Die achteckige Kapelle, die sich einige Stufen höher, mitten in dem Lazareth erhebt, war in ihrem ersten Baue nach allen Seiten offen, ohne andere Stützen als Pfeiler und Säulen, so zu sagen eine durchbrochene Bauart; auf jeder Vorderseite ein Bogen zwischen zwei Säulen; innerhalb zog sich eine Halle rings um den Raum, den man eigentlich erst Kirche nennen konnte; diese bestand nur aus acht Bogen, die den Vorderseiten entsprachen und die Kuppel trugen, so daß der in der Mitte errichtete Altar von jedem Fenster der Zimmer des Gebäudes und fast von jedem Punkte des Platzes gesehen werden konnte. Jetzt, da das Gebäude zu einem ganz andern Gebrauch bestimmt worden ist, sind die Zwischenräume der Vorderseiten vermauert; aber das alte, unverletzt gebliebene Gerippe zeigt deutlich genug den alten Zustand und die alte Bestimmung desselben.[264]

Renzo hatte sich kaum auf den Weg begeben, so sah er den Pater Felice in der Halle der Kapelle erscheinen und nach dem Mittelbogen der Seite zuschreiten, die nach der Straße hin liegt; auf dem Platze vor demselben, halb auf der Straße war der Zug versammelt; aus seiner Haltung gewahrte er sogleich, daß die Predigt begonnen hatte.

Er lief durch kleine Nebenwege, um an das Ende der Zuhörerschaft zu gelangen, wie es ihm eingegeben worden war. Da angekommen, blieb er ganz ruhig stehen, überflog sie nur mit einem Blick; aber er sah von hier aus nichts als eine zusammengedrängte Masse, ich möchte fast sagen eine Pflasterung von Köpfen. In der Mitte befand sich eine gewisse Anzahl mit Tüchern oder Schleiern bedeckt; dorthin heftete er die Augen am aufmerksamsten; da es ihm aber nicht gelang, etwas mehr zu entdecken, so erhob er sie ebenfalls dahin, wohin alle blickten. Er ward gerührt und ergriffen von der ehrwürdigen Gestalt des Predigers, und mit der Aufmerksamkeit, deren er in einem solchen Augenblicke der Erwartung fähig war, hörte er diesen Theil der feierlichen Rede:

»Werfen wir einen Gedanken auf die Tausende und aber Tausende, die dort hinausgegangen sind«, und den Finger über seine Schulter erhebend, deutete er hinter sich auf das Thor, welches nach dem genannten San-Gregorio-Gottesacker führte, der damals, man kann sagen, nur Eine große Grube war; »werfen wir einen Blick umher auf die Tausende und aber Tausende, die hier zurückbleiben, nur allzu ungewiß, wohinaus sie gehen werden; werfen wir einen Blick auf uns so Wenige, die wir gerettet hinausgehen; gepriesen sei der Herr! gepriesen in seiner Gerechtigkeit, gepriesen in seinem Erbarmen, gepriesen im Tode, gepriesen in der Heilung, gepriesen in dieser Auswahl, die er mit uns hat machen wollen! O warum hat er es so gewollt, meine Kinder! als um sich eine kleine Schaar zu erhalten, welche durch Betrübniß gebessert und von Dankbarkeit für ihn glüht? Damit wir, jetzt lebhafter empfindend, daß das Leben ein Geschenk von ihm ist, dasselbe so hoch schätzen, als es ein von ihm geschenktes Gut verdient, daß wir es zu Werken anwenden, die ihm dargebracht werden können?[265] damit die Erinnerung an unsere Leiden uns mitleidig und hülfreich gegen unsere Nächsten mache? Die indessen, mit denen wir in Gemeinschaft gelitten, gehofft, gefürchtet haben, unter denen wir Freunde, Verwandte zurücklassen, und die am Ende alle unsere Brüder sind, diejenigen unter diesen, die uns mitten durch sie hinziehen sehen und vielleicht einigen Trost in dem Gedanken empfangen, daß einige geheilt von hier hinausgehen, mögen sich an unserem Betragen erbauen. Verhüte Gott, daß sie in uns eine lärmende Freude, eine weltliche Freude darüber sehen, dem Tode entgangen zu sein, gegen den sie noch ankämpfen. Mögen sie sehen, daß wir für uns dankend und für sie betend scheiden, und mögen sie sagen können: diese werden sich unserer erinnern, auch wenn sie nicht mehr hier sind, sie werden fortfahren für uns Elende zu beten. Beginnen wir mit diesem Gange, mit den ersten Schritten, die wir thun, ein Leben voll Barmherzigkeit. Diejenigen, die ihre alten Kräfte wiedergewonnen haben, mögen einen brüderlichen Arm den Schwachen leihen; ihr Jünglinge unterstützt die Greise; ihr, die ihr kinderlos geworden, schauet um euch, wie viele Kinder elternlos geworden sind! Seid ihnen Eltern! Indem diese Barmherzigkeit eure Sünden zudeckt, wird sie auch eure Schmerzen lindern.«

Ein dumpfes Gemurmel von Seufzern, ein Schluchzen, das in der Versammlung immer mehr anwuchs, wurde hier plötzlich unterbrochen, als man den Prediger sich einen Strick um den Hals und sich in die Kniee werfen sah; in tiefer Stille erwartete man, was er sagen werde.

»Für mich«, sagte er »und für alle meine Amtsbrüder, die wir ohne unser Verdienst zu dem hohen Vorrecht auserwählt worden sind, Christo in euch zu dienen, bitte ich euch demüthig um Vergebung, wenn wir ein so großes Amt nicht würdig verwaltet haben. Wenn die Trägheit, die Schwachheit des Fleisches uns weniger achtsam auf eure Noth, weniger bereit auf euren Ruf gemacht hat; wenn eine unrechte Ungeduld, wenn ein strafbarer Ueberdruß uns zuweilen mit einem unwilligen, strengen Gesicht vor euch hat erscheinen lassen; wenn zuweilen der erbärmliche Gedanke, daß ihr unserer bedürftet, uns verleitet hat, euch nicht[266] mit der gebührenden Demuth zu behandeln, wenn unsere Gebrechlichkeit uns Handlungen hat begehen lassen, die euch ein Aergerniß waren, so vergebt uns, also wie Gott euch eure Schuld vergiebt und euch segnen möge.« Und nachdem er über die Zuhörer ein großes Zeichen des Kreuzes gemacht hatte, erhob er sich.

Wir haben, wenn auch nicht die ausdrücklichen Worte, doch wenigstens den Sinn, den Inhalt derjenigen, die er wirklich sprach, berichten können; aber die Art und Weise, mit der sie gesprochen wurden, läßt sich nicht beschreiben. Es war die eines Menschen, der es ein Vorrecht nannte, den Pestkranken zu dienen, weil er es für ein solches hielt; der bekannte, ihm nicht würdig entsprochen zu haben, der um Vergebung bat, weil er überzeugt war, ihrer zu bedürfen. Aber die Leute, die jene Kapuziner um sich herum mit nichts Anderem beschäftigt gesehen hatten, als ihnen zu dienen, die deren so viele hatten sterben sehen und den, der für alle sprach, immer, außer als er selbst dem Tode nahe gewesen war, als den Ersten in der Anstrengung, wie seinem Ansehen nach gesehen hatten; man denke sich mit welchem Schluchzen, mit welchen Thränen sie auf solche Worte antworteten. Der bewundernswürdige Pater nahm darauf ein großes Kreuz, das an einem Pfeiler gelehnt stand, pflanzte es vor sich auf, ließ am Rande der äußern Halle die Sandalen, stieg die Stufen herab und schritt durch die Menge, die ihm ehrfurchtsvoll Platz machte, um sich an ihre Spitze zu stellen.

Renzo in Thränen gebadet, als ob auch er einer von denen wäre, an die jene besondere Bitte um Vergebung gerichtet war, zog sich mehr zurück und stellte sich zur Seite einer Hütte; hier blieb er erwartungsvoll stehen, halb verborgen, mit dem Körper zurück und den Kopf voraus, mit weit geöffneten Augen, mit starkem Herzklopfen, aber zugleich mit einer neuen und eigenthümlichen Zuversicht, die, wie ich glaube, aus der Rührung entstanden war, in die ihn die Predigt und der Anblick der allgemeinen Rührung versetzt hatte.

Und siehe, Pater Felice kam heran, barfuß, mit dem Strick um den Hals, das lange schwere Kreuz emporgehoben; bleich und abgezehrt das Gesicht, ein Gesicht, das Zerknirschung und zugleich[267] Muth ausdrückte; langsamen Schrittes, aber entschlossen, wie einer, der nur darauf bedacht ist, die Schwäche der andern zu schonen und in allem wie ein Mann, dem jene übernommenen Anstrengungen und Beschwerlichkeiten die Kraft verliehen, die vielen nothwendigen und von seinem Amte unzertrennlichen zu ertragen. Gleich nach ihm kamen die schon erwachseneren Kinder, größtentheils barfuß, nur sehr wenige vollständig gekleidet, einige im bloßen Hemde. Dann kamen die Frauen, fast alle ein kleines Mädchen an der Hand führend und abwechselnd das Miserere singend; der schwache Klang dieser Stimmen, die Blässe und Mattigkeit der Gesichter mußten die Seele eines Jeden mit Mitleid erfüllen, wenn er auch nur als Zuschauer dagestanden hätte. Renzo aber betrachtete, prüfte Reihe für Reihe, Gesicht für Gesicht, ohne eines zu übersehen, denn der Zug ging so langsam, daß er ihm hinlänglich Zeit dazu ließ. Vorüber und vorüber, er schaut und schaut, immer vergebens; er wirft flüchtige Blicke auf die Reihen, die noch zurück bleiben; es sind nur noch wenige; die letzte kommt, sie sind alle vorüber; es waren lauter unbekannte Gesichter. Mit herabhängenden Armen und den Kopf auf die eine Schulter gebeugt, folgt er der vorübergezogenen Schaar mit dem Auge, während die der Männer an ihm vorüberzog. Eine neue Aufmerksamkeit, eine neue Hoffnung belebte ihn, als er hinter diesen einige Karren kommen sah, auf welchen die Genesenen saßen, die noch nicht im Stande waren zu laufen. Hier kamen die Frauen zuletzt, und der Zug ging so langsam, daß Renzo sie gleichfalls alle prüfen konnte, ohne daß ihm eine entgangen wäre. Aber er prüfte den ersten Karren, den zweiten, den dritten und so fort, immer mit demselben Erfolge bis auf einen Karren, hinter dem nichts weiter kam, als ein anderer Kapuziner mit einem ernsten Aeußern und einem Stock in der Hand, wie ein Aufseher des Zuges. Es war Pater Michele, von dem wir gesagt haben, daß er dem Pater Felice in der Verwaltung zum Gehülfen beigegeben war.

So verschwand ganz und gar die süße Hoffnung, und nahm, indem sie verschwand, nicht nur den Trost mit hinweg, den sie verliehen hatte, sondern ließ den Menschen, wie es fast immer geschieht,[268] in einem noch schlimmeren Zustand als vorher zurück. Was jetzt noch das Günstigste sein konnte, war Lucia krank anzutreffen. Obgleich auf die Gluth einer vorhandenen Hoffnung sogleich die wachsende Besorgniß sich einstellte, so hielt sich der Arme doch mit allen Kräften an diesem feinen und schwachen Faden fest; er trat auf die Straße hinaus und schritt nach der Seite weiter, von wo der Zug gekommen war. Als er am Fuße der Kapelle war, kniete er auf der untersten Stufe nieder und richtete hier zu Gott ein Gebet, oder besser zu sagen, ein Durcheinander von verworrenen Worten, abgebrochenen Sätzen, Ausrufungen, Bitten, Klagen, Vesprechungen, eine von den Anreden, die man nicht an die Menschen richtet, weil sie weder Scharfsinn genug haben, sie zu verstehen, noch Geduld, sie anzuhören; sie sind nicht groß genug, um Mitleid damit zu fühlen, ohne Verachtung.

Er erhob sich ein wenig ermuthigter, ging um die Kapelle herum, befand sich auf dem andern Wege, den er noch nicht gesehen hatte und der nach der andern Pforte führte; nach wenig Schritten sah er das Stacket, von dem ihm der Pater gesprochen hatte; es war, wie dieser ihm gesagt, hier und da unterbrochen; er trat durch eine der Oeffnungen hinein und befand sich in dem Quartier der Frauen. Fast bei dem ersten Schritt, den er that, sah er an der Erde eine von den Schellen, welche die Monatti an den Füßen tragen; es fiel ihm ein, daß ihm ein solches Werkzeug drinnen gleichsam als Paß dienen könnte; er hob es auf, sah sich um, ob ihn Niemand sähe, und band es sich an, wie es bei diesen gebräuchlich war. Sogleich begann er seine Nachforschung, eine Nachforschung, die schon durch die Menge der Gegenstände ungemein schwierig gewesen sein würde, wenn auch diese Gegenstände ganz andere gewesen wären; er begann mit dem Auge neue Schauplätze des Elends zu durchlaufen, sogar aufmerksam zu betrachten, die zum Theil den schon gesehenen ähnlich, zum Theil verschieden; denn bei derselben Trübsal war hier ein anderes Leiden, so zu sagen ein anderes Hinsiechen, ein anderes Jammern, ein anderes Ertragen, eine andere Art sich gegenseitig zu bemitleiden und beizustehen; es war in dem Zuschauenden ein anderes Mitleid und ein anderer Schauder.[269]

Er war schon, ich weiß nicht wie weit fruchtlos und ohne Hindernisse hineingeschritten, als er hinter sich ein »oh!« einen Ruf hörte, der ihm zu gelten schien. Er wandte sich um und sah in einer gewissen Entfernung einen Kommissär, der die Hand erhob, indem er wirklich ihm winkte und rief: »Dort in den Stuben, da ist Hülfe nöthig; hier ist eben erst aufgeräumt worden.«

Renzo begriff sogleich, für wen man ihn hielt und daß die Schelle der Grund des Mißverständnisses war; er schalt sich einen Dummkopf, daß er nur an die Verlegenheiten gedacht, die ihm dieses Zeichen ersparen, und nicht an diejenigen, die es ihm auf den Hals ziehen konnte; in demselben Augenblick aber besann er sich, wie er so schnell als möglich von jenem da sich befreien könnte. Er machte ihm wiederholt und schnell ein Zeichen mit dem Kopfe, als wollte er ihm sagen, daß er verstanden habe und gehorche; darauf suchte er sich seinen Blicken zu entziehen, indem er sich nach einer Seite zwischen die Hütten drängte.

Als er sich entfernt genug meinte, dachte er auch daran, sich von der Ursache des Aergernisses zu befreien, und um dies unbeobachtet bewerkstelligen zu können, ging er in einen kleinen Raum zwischen zwei Hütten, die sich so zu sagen den Rücken kehrten. Er bückte sich, um die Schelle loszubinden, und indem er so mit dem Kopf gegen die Strohwand der einen Hütte lehnt, trifft aus dieser eine Stimme sein Ohr.... O Himmel! ist es möglich? Seine ganze Seele ist Ohr; er athmet kaum.... Ja, ja! es ist die Stimme! .... »Warum Furcht?« sagte die sanfte Stimme, »wir haben wohl andere Dinge schon überstanden, als ein Gewitter. Wer uns so lange behütet hat, wird uns auch jetzt behüten.«

Wenn Renzo nicht einen Schrei ausstieß, so war es nicht aus Furcht entdeckt zu werden, sondern weil er keinen Athem dazu hatte. Die Kniee versagten ihm, sein Blick verdunkelte sich; aber es war nur im ersten Augenblick, im zweiten stand er schon auf den Füßen, munter und kräftiger als vorher; in drei Sprüngen war er um die Hütte, war er am Eingange, sah sie, die gesprochen hatte, sah sie stehen, über ein elendes Lager gebückt. Sie wendet[270] sich bei dem Geräusch um, blickt hin, glaubt sich zu versehen, zu träumen; blickt genauer hin und schreit: »Allmächtiger Gott!«

»Lucia! ich habe dich gefunden! ich finde dich! du bist es wirklich! du lebst!« rief Renzo aus und trat zitternd näher.

»Allmächtiger Gott!« wiederholte Lucia, noch heftiger zitternd. »Du? Was ist das? auf welche Weise? warum? die Pest!«

»Ich habe sie gehabt und du ....?«

»Ach ..... auch ich. Und von meiner Mutter ....?«

»Ich habe sie nicht gesehen, denn sie ist in Pasturo; ich glaube aber, daß sie wohl ist. Aber du .... wie bist du noch bleich! wie scheinst du noch schwach! Geheilt jedoch, du bist geheilt?«

»Der Herr hat mich hier unten noch lassen wollen. Ach Renzo! warum bist du hier?«

»Warum?« sagte Renzo, immer näher zu ihr hintretend, »du fragst mich warum? Warum ich hierher gekommen bin? Muß ich es dir erst sagen? An wen habe ich zu denken? Heiße ich nicht noch Renzo? bist du nicht mehr Lucia?«

»Ach was sagst du! was sagst du! Hat dir meine Mutter nicht schreiben lassen ....?«

»Ja, nur zu viel hat sie mir schreiben lassen. Schöne Dinge, um sie einem armen, unglücklichen, gequälten Jungen schreiben zu lassen, einem Jungen, der doch wenigstens schlechte Streiche niemals begangen hatte!«

»Aber Renzo! Renzo! da du wußtest .... warum kommen? warum?«

»Warum kommen? O Lucia, warum ich komme, sagst du mir? nach so vielen Versprechungen! Sind wir nicht mehr wir? Denkst du nicht mehr daran? Was fehlte uns?«

»O Herr!« rief Lucia schmerzlich aus, indem sie die Hände faltete und die Augen zum Himmel erhob, »warum hast du mir nicht die Gnade erzeigt, mich zu dir zu nehmen .....! O Renzo! was hast du gethan? Siehe, ich fing an zu hoffen, daß .... mit der Zeit .... ich vergessen würde ....«

»Eine schöne Hoffnung! Schöne Dinge, um sie mir gerade ins Gesicht zu sagen!«[271]

»Ach, was hast du gethan! Und an diesem Orte! Unter diesem Elend! hier, wo nichts als sterben ist, konntest du ....!«

»Für die Sterbenden müssen wir zu Gott beten und hoffen, daß sie an einen seligen Ort kommen; aber es ist nicht recht, schon darum nicht, daß die, welche leben, in Verzweiflung leben sollen...«

»Aber Renzo! Renzo! du bedenkst nicht, was du sprichst. Ein Versprechen der Madonna! .... Ein Gelübde!«

»Und ich sage dir, daß solche Versprechen nichts gelten.«

»O Herr! Was sagst du? Wo bist du in dieser Zeit gewesen? Mit wem bist du umgegangen? Wie sprichst du?«

»Ich spreche wie ein guter Christ, und von der Madonna denke ich besser als du; denn ich glaube, daß sie keine Versprechen zum Schaden des Mitmenschen will. Wenn die Madonna gesprochen hätte, o dann! Was ist's aber gewesen? Eine Einbildung von dir. Weißt du, was du der Madonna versprechen mußt? Versprich ihr, daß die erste Tochter, die wir haben werden, Maria heißen soll; dies Versprechen will ich hier auf der Stelle thun; das sind Dinge, die der Madonna mehr Ehre machen; das ist eine Frömmigkeit, die mehr Sinn hat und unter der Niemand leidet.«

»Nein, nein, sprich nicht so; du weißt nicht, was du sprichst; du weißt nicht, was das heißt ein Gelübde thun; du bist nicht in der Lage gewesen, hast so etwas nicht erfahren. Laß mich, um des Himmels willen, laß mich.«

Sie entfernte sich ungestüm von ihm und kehrte nach dem Lager zurück.

»Lucia!« sagte Renzo ohne sich zu bewegen, »sage mir wenigstens, sage mir, wenn dieser Grund nicht wäre ..... würdest du nicht anders mit mir sein?«

»Herzloser Mensch!« antwortete Lucia, indem sie sich umwandte und mit Mühe die Thränen zurückhielt. »Wenn du mich hättest unnütze Worte sagen lassen, Worte, die mir weh thäten, Worte, die vielleicht sündhaft sind, würdest du zufrieden sein? Laß mich, o laß mich! vergiß mich; wir waren nicht für einander bestimmt! dort oben werden wir uns wiedersehen; das Leben in dieser Welt währt ja nicht lange. Geh; suche meine Mutter wissen zu lassen,[272] daß ich geheilt bin, daß Gott mir auch hier immer beigestanden hat, daß ich eine gute Seele gefunden habe, diese brave Frau hier, die Mutterstelle bei mir vertritt; sage ihr, ich hoffe, daß sie von diesem Uebel verschont bleiben wird, daß wir uns wiedersehen, wenn Gott will, und wie er will .... Geh, um des Himmels willen, und denke nicht an mich .... als wenn du zu dem Herrn betest.«

Und wie Jemand, der nichts weiter zu sagen hat, noch etwas Anderes anzuhören gesonnen ist, wie Jemand, der sich einer Gefahr entziehen will, drängte sie sich noch dichter an das Bett, worauf die Frau lag, von der sie gesprochen hatte.

»Höre, Lucia, höre!« sagte Renzo, ohne sich jedoch ihr zu nähern.

»Nein, nein, geh aus Barmherzigkeit!«

»Höre, Pater Cristoforo ....«

»Was?«

»Ist hier.«

»Hier? Wo? wie weißt du das?«

»Ich habe ihn kurz vorher gesprochen, ich bin eine Weile mit ihm zusammen gewesen. Ein Geistlicher wie er, denke ich ....«

»Er ist hier! Gewiß um den Kranken beizustehen. Aber er? hat er die Pest gehabt?«

»Ach Lucia! ich fürchte, nur allzu sehr fürchte ich ....« und während Renzo zögerte, das für ihn so schmerzliche Wort auszusprechen, das für Lucia ebenso schmerzlich sein mußte, hatte sich diese wieder von dem Lager entfernt und näherte sich ihm, »ich fürchte, daß er sie jetzt hat.«

»O armer, heiliger Mann! Aber was sage ich armer Mann? Wir sind arm! Wie geht es ihm? Liegt er zu Bett? Hat er Beistand?«

»Er ist auf den Füßen, geht umher, steht den andern bei; wenn du ihn aber sähest, wie er aussieht, wie er sich kaum aufrecht erhält! Man hat so Viele, Viele gesehen, die nur allzu sehr .... man täuscht sich nicht!«

»O wir Armen! und er ist hier!«[273]

»Hier, und nicht weit; nicht viel weiter als von deinem Hause zu meinem herüber .... wenn du dich erinnerst ....!«

»O heilige Jungfrau!«

»Nicht viel weiter. Denke dir, ob wir von dir gesprochen haben! Er hat mir Dinge gesagt .... Und wenn du wüßtest, was er mich hat sehen lassen! Du sollst es erfahren; aber jetzt will ich anfangen, dir zu sagen, was er mir zuerst gesagt, er mit seinem eigenen Munde. Er hat mir gesagt, daß ich recht daran thue, dich hier aufzusuchen; daß es dem Herrn wohlgefällig ist, wenn ein junger Mensch so handelt, und Er würde mir helfen, dich aufzufinden; wie's auch wirklich geschehen ist; aber er ist ein Heiliger. Du siehst also!«

»Aber wenn er so gesprochen hat, so ist es, weil er nicht weiß ....«

»Was soll er von Dingen wissen, die du, ohne Vorschrift, ohne Jemand darum zu fragen, für deinen eigenen Kopf gethan hast? Ein wackerer Mann, ein verständiger Mann, wie er, kann doch auf solche Dinge nicht denken. Was er mich aber hat sehen lassen!« Und nun erzählte er den Besuch in jener Hütte. Obgleich Lucia's Sinn und Gemüth sich in diesem Aufenthalte an die stärksten Eindrücke hatte gewöhnen müssen, so stand sie dennoch von Entsetzen und Mitleiden tief ergriffen da.

»Und auch dort«, fuhr Renzo fort, »hat er wie ein Heiliger gesprochen; hat gesagt, daß der Herr diesem Armen – ich kann ihn jetzt nicht anders nennen – vielleicht noch Gnade angedeihen lassen will .... daß er ihm einen lichten Augenblick schenken wird; aber er will, daß wir zusammen für ihn beten .... Zusammen! Hast du verstanden?«

»Ja, ja; wir werden für ihn beten, Jeder, wo der Herr uns hinführt; Er weiß die Gebete vereinigt zu hören.«

»Aber wenn ich dir seine Worte sage ....«

»Aber Renzo, er weiß nicht ....«

»Aber wenn ein Heiliger spricht, weißt du nicht, daß es der Herr ist, der aus ihm spricht? und daß er nicht so gesprochen hätte, wenn es nicht wirklich so wäre .... Und die Seele jenes Armen? Ich habe gebetet und werde für ihn beten; von Herzen[274] habe ich gebetet, als ob es für meinen Bruder wäre. Aber wie soll es mit dem Armen in jener Welt stehen, wenn diese Sache hier nicht ausgeglichen wird, wenn das Böse, das er gethan hat, nicht wieder gut gemacht wird? Wenn du Vernunft annimmst, so ist alles wieder wie früher .... was geschehen ist, ist geschehen; er hat seine Schuld hier unten gebüßt ....«

»Nein Renzo, nein. Der Herr will nicht, um seine Barmherzigkeit zu üben, daß wir Unrecht thun. Laß Ihn walten; unsere Pflicht ist das Gebet. Wenn ich in jener Nacht gestorben wäre, so hätte Gott ihm also nicht verzeihen können? Und da ich nicht gestorben, da ich befreit worden bin ....«

»Und deine Mutter, die arme Agnese, die mir immer so wohl gewollt hat, die sich so darnach sehnte, uns als Mann und Frau zu sehen, hat sie dir nicht auch gesagt, daß es eine verdrehte Vorstellung von dir ist? Sie, die dich schon manchmal zur Vernunft gebracht hat, denn in vielen Dingen denkt sie verständiger wie du ....«

»Meine Mutter! Soll meine Mutter mir rathen, ein Gelübde zu brechen! Renzo, du bist nicht bei dir.«

»O! Soll ich es dir sagen? Ihr Frauen könnt dergleichen Dinge nicht verstehen. Pater Cristoforo hat mir gesagt, ich soll wieder zu ihm kommen und ihm erzählen, ob ich dich gefunden habe. Ich gehe; wir wollen ihn hören, und was er sagen wird ....«

»Ja, ja, geh zu dem heiligen Mann; sag' ihm, daß ich für ihn bete, er möge auch für mich beten, ich habe es sehr nöthig! Aber um des Himmels willen, um deiner Seele, um meiner Seele willen, komm nicht wieder hierher, mir wehe zu thun, um mich .... zu versuchen. Pater Cristoforo wird dir die Sachen zu erklären wissen und dich in dich gehen lassen; er wird Frieden in dein Herz bringen.«

»Frieden in mein Herz! O! das schlage dir aus dem Sinn. Du hast mir das garstige Wort auch schon schreiben lassen; ich weiß, was ich darum gelitten habe; und jetzt hast du auch das Herz noch es mir zu sagen. Ich aber sage dir klar und rund heraus, daß sich mein Herz niemals zufrieden geben wird. Du willst[275] mich vergessen; ich will dich aber nicht vergessen. Und ich betheure dir, siehst du, wenn du mich um meinen Verstand bringst, so erlange ich ihn nicht wieder. Zum Teufel mit dem Handwerk, zum Teufel mit dem ordentlichen Leben! Willst du mich zur wüthenden Tollheit für das ganze Leben verdammen, so will ich wie ein Toller leben .... Und der Unselige! Weiß der Herr, ob ich ihm von Herzen vergeben habe; aber du .... Soll ich, so lange ich lebe, denken, daß, wenn er nicht gewesen wäre .... Lucia! du hast gesagt, ich soll dich vergessen, dich vergessen! Wie soll ich das anfangen? An wen glaubst du, daß ich in dieser ganzen Zeit gedacht habe? .... Und nach so vielen Dingen! nach so vielen Versprechungen! Was that ich dir, seitdem wir uns verlassen haben? Weil ich gelitten habe, behandelst du mich so? weil ich Trübsale ausgestanden habe? weil die Menschen mich verfolgt haben? weil ich so lange Zeit weit weg von Hause, fern von dir, traurig verlebt habe? Weil ich im ersten Augenblick, da ich gekonnt habe, hierher gekommen bin, dich aufzusuchen?«

Als Lucia vor Thränen zu Worte kommen konnte, rief sie, von neuem die Hände faltend und die in Thränen schwimmenden Augen zum Himmel erhebend: »O heilige Jungfrau, steh mir bei! du weißt, daß ich seit jener Nacht keinen Augenblick wie diesen erlebt habe. Du hast mir damals beigestanden; stehe mir auch jetzt bei!«

»Ja, Lucia, du thust recht die Madonna anzurufen; warum willst du aber glauben, daß Sie, die so gut ist, die Mutter der Barmherzigkeit, Gefallen daran haben kann, uns leiden zu lassen .... mich wenigstens .... weil dir ein Wort in einem Augenblick entschlüpft ist, da du nicht wußtest was du sprachst? Glaubst du, sie habe dir damals geholfen, um uns hernach in Unruhe zu bringen? .... Wenn aber das nur eine Ausrede ist, wenn ich dir verhaßt geworden bin .... so sage es mir .... sprich klar.«

»Aus Barmherzigkeit, Renzo, aus Barmherzigkeit, um deiner armen Todten willen, hör' auf, bringe mich nicht um .... Es wäre kein guter Augenblick. Geh zum Pater Cristoforo, empfiehl mich ihm und kehre nicht wieder hierher zurück, kehre nicht wieder zurück.«[276]

»Ich gehe; aber denke nicht, daß ich nicht zurückkehren will; ich kehre zurück, wäre es auch vom Ende der Welt, ich kehre zurück.« Und er verschwand.

Lucia setzte sich neben dem Lager nieder, oder sank vielmehr zur Erde, und den Kopf daran gelehnt fuhr sie fort bitterlich zu weinen. Die Frau, die bis jetzt mit offenen Augen und Ohren, ohne zu athmen, dagelegen hatte, fragte was es mit dieser Erscheinung, mit diesem Streite, mit diesem Weinen sei. Aber vielleicht wird auch der Leser seinerseits fragen, wer sie sei, und um ihn zu befriedigen, werden wir auch hier nicht vieler Worte nöthig haben.

Sie war eine wohlhabende Kaufmannsfrau von etwa dreißig Jahren. In einem Zeitraum von wenigen Tagen hatte sie zu Hause ihren Mann und alle ihre Kinder sterben sehen, kurz darauf wurde auch sie von der Pest ergriffen. Sie war nach dem Lazareth geschafft und gerade zu der Zeit in jene Hütte gelegt worden, als Lucia, ohne es gewahr zu werden, die Heftigkeit der Krankheit überstanden, und ohne es gleichfalls gewahr zu werden, wiederholt andere Gefährtinnen erhalten hatte; darauf fing diese an, sich wieder zu erholen und zu sich selbst zu kommen; denn seit dem Anfang der Krankheit, als sie sich noch in Don Ferrante's Hause befand, war sie bewußtlos gewesen. Die kleine Hütte konnte nur zwei Personen beherbergen; und zwischen diesen beiden Frauen, betrübt, verlassen, angstvoll und allein in dieser Menge, wie sie waren, hatte sich schnell eine Innigkeit, eine Zuneigung entwickelt, wie sie kaum aus einem langen Umgange hätte entstehen können. Nicht lange, so war Lucia im Stande, der andern behülflich zu sein, die sehr schwer krank war. Jetzt, da auch für diese die Gefahr vorüber, leisteten sie sich Gesellschaft, ermuthigten und bewachten sich gegenseitig; sie hatten einander versprochen, nicht anders als zusammen aus dem Lazareth zu gehen, und verabredet, sich auch nachher nicht zu trennen. Die Kaufmannsfrau, die unter der Aufsicht eines ihrer Brüder, der Kommissär der Gesundheitsbehörde war, Haus, Laden und Kasse, alles in gutem Zustande, zurückgelassen hatte, war die alleinige, traurige Besitzerin von weit Mehrerem, als sie bedurfte, um bequem zu leben; sie wollte[277] daher Lucia wie eine Tochter oder eine Schwester bei sich behalten. Lucia war darauf mit großer Dankbarkeit für sie und die Vorsehung eingegangen; jedoch nur so lange, bis sie von ihrer Mutter Nachricht habe und deren Willen, wie sie hoffte, erfahren könnte. Uebrigens hatte sie, zurückhaltend wie sie war, weder von dem Eheversprechen, noch von den andern außerordentlichen Begebenheiten jemals ein Wort gesagt. Jetzt aber, in einer so großen Aufregung der Gefühle hatte sie wenigstens ein ebenso großes Bedürfniß, sich Luft zu machen, als die andere den Wunsch, zu hören. Und nachdem sie mit beiden Händen deren Rechte gedrückt, schickte sie sich sogleich an, der Frage zu genügen, ohne eine andere Unterbrechung, als durch ihr Schluchzen.

Renzo trabte indessen nach dem Quartier des guten Paters. Nicht ohne Mühe und erst nachdem er viele verlorene Schritte gethan hatte, gelangte er endlich dahin. Er fand die Hütte; ihn fand er nicht darin; aber nach allen Seiten umherspähend und suchend, sah er ihn in einer Baracke, wo er gebückt und mit dem Munde fast am Boden einem Sterbenden Trost zusprach. Er stand still und wartete schweigend. Bald darauf sah er, wie Cristoforo dem Armen die Augen zudrückte, dann sich auf die Kniee legte, einen Augenblick betete und aufstand. Jetzt trat er vor und ging ihm entgegen.

»O!« sagte der Pater, da er ihn kommen sah, »nun?«

»Sie ist hier, ich habe sie gefunden!«

»In welchem Zustande?«

»Geheilt, wenigstens außer'm Bett.«

»Gelobt sei der Herr!«

»Aber ....« sagte Renzo, als er ihm so nahe war, daß er leise mit ihm sprechen konnte, »es giebt hier eine andere Verwirrung.«

»Was giebt's?«

»Ich will sagen .... Sie wissen wohl, wie gut das arme Mädchen ist; aber zuweilen ist sie ein wenig eigensinnig in ihren Gedanken. Nach so vielen Versprechen, nach alle dem, was Sie wissen, sagt sie mir jetzt, daß sie mich nicht heiraten kann, weil sie sagt, was weiß ich was in jener Nacht der Angst ihr den Kopf[278] heiß gemacht hat, daß sie sich, so zu sagen, der Madonna geweiht habe. Ungereimte Dinge, nicht wahr? Dinge, die für den gut sind, der die Einsicht dazu hat und sie ausführen kann; für uns gewöhnliche Leute aber, die wir nicht damit umzugehen wissen.... ist es nicht wahr, daß es Dinge sind, die nichts gelten?«

»Sage mir, ist sie sehr weit von hier?«

»O nein, wenige Schritte von hier, jenseit der Kirche.«

»Erwarte mich hier einen Augenblick«, sagte der Pater, »und dann wollen wir zusammen gehen.«

»Das heißt Sie wollen ihr begreiflich machen ....«

»Noch weiß ich nichts mein Sohn; ich muß sie erst hören.«

»Ich verstehe«, sagte Renzo und stand mit niedergeschlagenen Augen und über der Brust gekreuzten Armen da, sich zermarternd in der Ungewißheit, die ihn ganz erfüllte.

Der Pater suchte abermals den Pater Vittore auf, bat ihn, seine Stelle noch einmal zu vertreten, trat in seine Hütte, kam mit einem Korbe am Arm wieder heraus, kehrte zu Renzo zurück und sagte: »laß uns gehen;« und schritt voran, jener gewissen Hütte zu, wo sie kurz vorher zusammen eingetreten waren. Dies Mal trat er allein hinein und einen Augenblick nachher erschien er wieder und sagte: »Nichts! Laß uns beten, laß uns beten.« Darauf hub er an: »Jetzt führe du mich.« Und ohne ein Wort zu sagen schritten sie weiter.

Das Wetter war immer dunkler geworden und kündigte das Ungewitter jetzt als gewiß und nicht mehr fern an. Häufige Blitze durchbrachen die zunehmende Dunkelheit und erleuchteten mit einer plötzlichen Helle die langen Dächer und die Bogen der Hallen, die Kuppel der Kapelle, die niederen Giebel der Hütten; der Donner brach mit plötzlichem Krachen los und rollte laut von einer Himmelsgegend zur andern. Der Jüngling ging, achtsam auf den Weg, immer voran, voll Ungeduld anzukommen, indem er jedoch seine Schritte hemmte, um sie den Kräften seines Begleiters anzumessen, der von den Anstrengungen ermüdet, an der Pest immer mehr erkrankend, von der Schwüle niedergedrückt, nur sehr mühsam weiter schritt, von Zeit zu Zeit das abgezehrte[279] Antlitz zum Himmel erhebend, gleichsam um einen freiern Athemzug zu thun.

Sobald Renzo die kleine Hütte sah, blieb er stehen, drehte sich um und sagte mit zitternder Stimme: »hier ist sie.«

Sie treten ein .... »Da sind sie!« ruft die Frau von dem Lager. Lucia dreht sich um, steht schnell auf, geht dem Greis entgegen und ruft: »O wen sehe ich! O Pater Cristoforo!«

»Nun Lucia! aus welchen Trübsalen hat Euch der Herr erlöst! Du mußt sehr zufrieden sein, daß du deine Hoffnung immer in Ihn gesetzt hast.«

»O ja! Aber Sie Pater? Ach ich Arme, wie verändert sind Sie! Wie geht es Ihnen? sagen Sie, wie geht es Ihnen?«

»Wie Gott will, und wie, durch seine Gnade, auch ich will«, antwortete mit heiterm Gesichte der Pater. Und indem er sie in eine Ecke gezogen, fügte er hinzu: »Höre, ich kann nur wenige Augenblicke hier bleiben. Bist du geneigt, dich mir anzuvertrauen wie sonst?«

»O sind Sie nicht noch immer mein Vater?«

»Meine Tochter also; was ist das für ein Gelübde, von dem Renzo mir gesagt hat?«

»Es ist ein Gelübde, das ich der Madonna gethan .... O in einer großen Noth! ..... mich nicht zu verheiraten.«

»Armes Kind! Aber hast du damals nicht bedacht, daß du durch ein Versprechen gebunden warst?«

»Da es den Herrn und die Madonna betraf .... habe ich nicht daran gedacht.«

»Dem Herrn, meine Tochter, sind Opfer und Anerbietungen wohlgefällig, wenn wir sie von dem darbringen, was unser ist. Das Herz will er, den Willen. Du aber konntest ihm nicht den Willen eines andern darbringen, dem du dich schon verbunden hattest.«

»Habe ich Unrecht gethan?«

»Nein, armes Kind, das denke nicht; ich glaube vielmehr, daß die heilige Jungfrau die Absicht deines betrübten Herzens wohlgefällig aufgenommen und sie Gott für dich dargebracht haben[280] wird. Aber sage mir: hast du dich hierüber niemals mit Jemandem berathen?«

»Ich dachte nicht, daß es etwas Unrechtes sei, um es zu beichten, und man weiß, daß es nicht nöthig ist, das wenige Gute, was man thun kann, zu berichten.«

»Hast du keinen andern Beweggrund, der dich abhält das Versprechen zu halten, das du dem Renzo gegeben hast?«

»Was das betrifft .... für mich .... was für einen Beweggrund ....? Ich wüßte keinen andern zu sagen ....« antwortete Lucia, mit einer Unschlüssigkeit, die ganz etwas Anderes als eine Ungewißheit des Gedankens verrieth; und ihr noch von der Krankheit bleiches Gesicht blühte mit einem Male in der lebhaftesten Röthe auf.

»Glaubst du«, nahm der Greis, den Blick senkend, wieder das Wort, »daß Gott seiner Kirche die Gewalt gegeben hat, die Verpflichtungen und Verbindlichkeiten, welche die Menschen mit Ihm eingegangen sein können, zu erlassen und aufzuheben, je nachdem es zu größerem Heile gereicht?«

»Ja, das glaube ich.«

»So wisse jetzt, daß wir, die wir zu der Seelsorge an dieser Stelle bestellt sind, für alle diejenigen, die ihre Zuflucht zu uns nehmen, die ausgedehnteste Vollmacht der Kirche haben. Ich kann demzufolge, wenn du es verlangst, dich von jeder Verpflichtung entbinden, wie sie auch immer sei, die du wegen dieses Gelübdes eingegangen sein könntest.«

»Ist es aber nicht eine Sünde, wieder zurückzutreten und ein Versprechen zu bereuen, das man der Madonna gegeben hat? Ich habe es damals von ganzem Herzen gegeben ....« sagte Lucia, heftig bewegt von dem Andrange einer so unerwarteten, man muß sagen, Hoffnung und von einem sich dagegen auflehnenden und durch alle die Gedanken erhöhten Schrecken, welche seit so langer Zeit die Hauptbeschäftigung ihrer Seele waren.

»Eine Sünde, meine Tochter?« sagte der Pater, »Sünde, sich an die Kirche zu wenden und ihren Diener aufzufordern, daß er Gebrauch mache von der Gewalt, die er von ihr und die sie von Gott empfangen hat? Ich habe gesehen, wie Ihr Beide dahin[281] geführt worden seid, Euch zu vereinigen, und wenn ich jemals geglaubt habe, daß Zwei durch Gott vereinigt worden, so waret Ihr diese gewiß; jetzt sehe ich nicht ein, warum Gott Euch sollte trennen wollen. Ich preise ihn, daß er mir, unwürdig wie ich bin, die Macht gegeben hat, in Seinem Namen zu sprechen und dir dein Wort zurückzugeben. Und wenn du mich aufforderst, ich solle dich von jenem Gelübde lossprechen, so werde ich keinen Anstand nehmen, es zu thun; ich wünsche sogar, daß du mich dazu aufforderst.«

»Alsdann ... alsdann ... fordere ich es«, sagte Lucia mit einem nur noch von Scham verwirrten Gesichte.

Der Pater rief den Jüngling durch einen Wink heran, der im entferntesten Winkel stand und mit unverwandten Blicken – denn er konnte nichts Anderes thun – der Unterredung zusah, die ihn so nahe anging; als dieser herangetreten war, sagte er mit lauterer Stimme zu Lucia: »Kraft der Gewalt, die mir die Kir che verliehen hat, erkläre ich dich von dem Gelübde der Jungfräulichkeit für entbunden, indem ich alles aufhebe, was darin Unbedachtes sein konnte, und dich von jeder Verpflichtung befreie, die du damit eingegangen sein konntest.«

Der Leser denke sich, wie solche Worte dem Ohre Renzo's klangen. Er dankte dem lebhaft mit den Augen, der sie ausgesprochen hatte, und suchte sogleich, obschon vergebens, die Augen Lucia's.

»Kehre mit Sicherheit und mit Ruhe zu deinen früheren Gedanken zurück«, sprach der Kapuziner zu ihr, »bitte den Herrn aufs neue um die Gnade, eine fromme Gattin zu werden, um die du ihn batest, und vertraue ihm, daß Er sie dir nach so vielen Leiden in noch reichlicherem Maße gewähren wird. Und du«, sagte er sich an Renzo wendend, »erinnere dich, wenn die Kirche dir diese Gefährtin giebt, so thut sie es nicht, um dir einen zeitlichen und weltlichen Trost zu verschaffen, der, wenn er auch von keinerlei Widerwärtigkeiten getrübt wäre, doch mit einem großen Schmerze in dem Augenblick endigen würde, da Ihr Euch verließet; sie thut es vielmehr, um Euch alle beide auf den Weg des Trostes zu führen, der kein Ende haben wird. Liebt Euch wie[282] Reisegefährten mit dem Gedanken, daß Ihr Euch verlassen müßt, und mit der Hoffnung, daß Ihr Euch für immer wieder findet. Danket dem Himmel, daß er Euch nicht durch unruhige und vorübergehende Freuden bis zu diesem Ziele geführt hat, sondern durch Leiden und Elend, um Euch zu einer besonnenen und ruhigen Freudigkeit vorzubereiten. Wenn Gott Euch Kinder schenkt, so trachtet darnach, sie für Ihn zu erziehen, ihnen die Liebe zu Ihm und zu allen Mitmenschen einzuflößen, und also werdet Ihr sie in allem Uebrigen zum Guten anleiten. Lucia! hat er dir gesagt«, und er deutete auf Renzo, »wen er hier gesehen hat?«

»O Pater, er hat es mir gesagt!«

»Du wirst für ihn beten! Ermüde nicht darin. Und auch für mich wirst du beten! ..... Kinder! ich will, daß ihr ein Angedenken an den armen Pater habt.« Und hier nahm er aus dem Korbe eine Schachtel von gewöhnlichem Holze, aber mit einer gewissen Vollkommenheit, die den Kapuzinern eigen, gedrechselt und polirt; »Hier drin«, fuhr er fort, »ist der Ueberrest von jenem Brode .... des ersten, um welches ich die Barmherzigkeit angesprochen habe; jenes Brod, von dem ihr sprechen gehört habt! Ich hinterlasse es euch, bewahrt es auf, zeigt es euren Kindern; sie würden in eine traurige Welt kommen und in traurige Zeiten, unter stolze und übermüthige Menschen; sagt ihnen, sie sollen immer vergeben, immer, und alles, alles! und sie sollen für den armen Pater beten!«

Und er reichte Lucia die Schachtel, die sie mit großer Ehrfurcht nahm, wie eine Reliquie. Dann hub er in ruhigerem Tone wieder an: »Jetzt sagt mir, was für Stützen habt ihr hier in Mailand? Wo denkt ihr euch niederzulassen, wenn ihr hier fortgeht? Und wer wird dich zu deiner Mutter führen, die Gott gesund möge erhalten haben?«

»Diese gute Dame vertritt so lange Mutterstelle bei mir; wir werden zusammen hier weggehen, und sie wird dann auf alles bedacht sein.«

»Gott segne Sie«, sagte der Pater sich dem Lager nähernd.

»Auch ich danke Ihnen«, sagte die Wittwe, für den Trost, den Sie diesen armen Geschöpfen gegeben haben, obgleich ich[283] darauf gerechnet hatte, die liebe Lucia immer bei mir zu behalten. »Aber ich behalte sie inzwischen, ich begleite sie nach ihrem Dorfe, übergebe sie ihrer Mutter und«, fügte sie leise hinzu, »die Ausstattung will ich ihr machen. Ich habe mehr Hab und Gut, als ich brauchen kann, und ich habe Niemand mehr, mit dem ich es theilen könnte!«

»So können Sie«, erwiederte der Pater, »dem Herrn ein großes Opfer darbringen und dem Nächsten eine Wohlthat erzeigen. Ich empfehle Ihnen dieses junge Mädchen nicht an; ich sehe schon, wie sie ganz die Ihrige ist; wir haben nur Gott zu loben, der auch in den Leiden, die er schickt, sich als Vater zu zeigen weiß und der, indem er diese beiden sich wieder zusammen finden ließ, dem einen wie dem andern, ein so sichtbares Zeichen seiner Liebe gegeben hat. Wohlan denn«, sagte er sich zu Renzo wendend, indem er ihn bei der Hand nahm, »wir beide haben hier nichts mehr zu thun und sind schon zu lange hier gewesen. Laß uns gehen.«

»O Pater!« sagte Lucia, »werde ich Sie noch wiedersehen? Ich bin geheilt, ich, die ich nichts Gutes in dieser Welt vollbringe, und Sie .....!«

»Schon seit langer Zeit«, antwortete der Greis mit ernstem, mildem Tone, »flehe ich zum Herrn um die Gnade, meine Tage im Dienste des Nächsten zu enden. Wenn er sie mir jetzt gewähren wollte, so müssen alle, die Mitleid mit mir haben, mir ihm danken helfen. Wohlan, gieb Renzo deine Aufträge für deine Mutter.«

»Erzähle ihr, was du gesehen hast«, sagte Lucia zu ihrem Verlobten, »daß ich hier eine andere Mutter gefunden habe, daß ich mit dieser sobald als möglich kommen werde, und daß ich hoffe, hoffe, sie gesund zu finden.«

»Wenn du Geld brauchst«, sagte Renzo, »ich habe hier alles bei mir, was du mir geschickt hast und ....«

»Nein, nein«, unterbrach ihn die Wittwe, »ich habe genug.«

»Laß uns gehen«, fiel der Pater ein.

»Auf Wiedersehen, Lucia! ..... und auch Sie, gute Dame«, sagte Renzo, der keine Worte fand, um das auszudrücken, was er fühlte.[284]

»Wer weiß, ob uns der Herr die Gnade erzeigt, daß wir uns alle noch wiedersehen!« rief Lucia aus.

»Er sei immer mit euch und segne euch«, sagte Bruder Cristoforo zu den beiden Gefährtinnen und verließ mit Renzo die Hütte.

Der Abend war nicht fern, und das Wetter drohte immer mehr sich zu entladen. Der Kapuziner bot dem obdachlosen Jüngling nochmals an, ihn für diese Nacht in seiner Baracke zu beherbergen. »Gesellschaft werde ich dir nicht leisten können, aber du wärest doch unter Dach und Fach.«

Renzo fühlte sich jedoch getrieben zu wandern und mochte nicht noch länger an einem solchen Orte verweilen, wenn es ihm nicht gegönnt war, Lucia wieder zu sehen und er nicht einmal mit dem guten Pater zusammen sein konnte. Was Zeit und Wetter betraf, so kann man sagen, daß ihm in diesem Augenblick Tag und Nacht, Sonne und Regen, Westwind und Nordwind, alles einerlei war. Er dankte also dem Pater, indem er sagte, er wolle so schnell als möglich Agnese aufsuchen.

Als sie in der Mitte des Weges waren, drückte ihm der Pater die Hand und sagte: »Wenn du sie findest, was Gott gebe! die gute Agnese, so grüße sie auch in meinem Namen, sie und alle, die noch leben und sich des Bruders Cristoforo erinnern, sie sollen für ihn beten. Gott begleite dich und segne dich.«

»O lieber Pater .....! werden wir uns wiedersehen? werden wir uns wiedersehen?«

»Dort oben.« Und mit diesen Worten machte er sich von Renzo los; dieser blieb stehen und sah ihm nach, bis er ihn aus dem Gesichte verlor, schritt dann eilig dem Thore zu, indem er nach rechts und links die letzten Blicke des Mitleids auf diese Gegend des Elends warf. Es war eine außerordentliche Bewegung, Monatti liefen hin und her, Sachen wurden fortgetragen, die Vorhänge der Baracken geschlossen; Kranke schleppten sich nach diesen und nach den Hallen, um sich vor dem hereinbrechenden Unwetter zu schützen.[285]

Quelle:
Manzoni, [Alessandro]: Die Verlobten. 2 Bände, Leipzig, Wien [o. J.], Band 2, S. 264-286.
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