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[112] Noch an demselben Abend machte sich Herr Markus reisefertig ... Das war ja nicht zu ertragen! Was zwang ihn denn, sich selbst auf der Folterbank in diesem Thüringen festzuschmieden? Die ganze, weite Welt stand ihm ja offen, und wenn er erst draußen war, und das frische, fröhliche Leben wehte ihn wieder an und zerblies die dumpfe, dicke Nebelkappe, die seinen sonst so klaren Kopf umhüllte und alle seine Gedanken gewaltsam auf den einen gehaßten, verwünschten Punkt konzentrierte, dann lachte er gewiß und schämte sich der Othellogefühle, die ihn immer wieder antrieben, nein, hetzten, dieses Waldhüternest zu umschleichen, wie der Marder das Taubenhaus – ein schönes Taubenhaus! Eine Waldschenke war's, voll zechender, johlender Gäste! ... Ja, eine Taube flog wohl aus und ein – eine schöne, weiße, mit täuschend unschuldsvollen Augen – aber sie fragte viel danach, ob ihr helles Gefieder in dieser schwülen, wüsten Atmosphäre befleckt wurde, wenn nur ihr Kommen und Gehen wohlbehütet unter dem Schleier des Geheimnisses blieb! ... Lug und Trug gaukelten auch durch diesen abgeschiedenen stillen Weltwinkel – und warum nicht? Belladonna und der verderbliche, schönglockige Fingerhut mischten sich ja auch unter Kraut und Strauch, unter die erquickenden Frucht- und Blumenspenden des edlen Waldes, und die Kreuzotter zischte aus dem Wurzelgeflecht der majestätischen Baumsäulen ...

Er ordnete die Papiere für seinen Buchhalter und schickte sie heim, und dabei schrieb er, daß es mit seiner Vergnügungstour nicht[112] allein bei Nürnberg und München bleibe, er wolle viel, viel weiter – wieder einmal nach Rom und Neapel – und käme deshalb nicht so bald in seine vier Pfähle zurück ... Und dabei meinte er, grimmig vor sich hinlachend, daß er gegenüber der erhabenen Marmorschönheit in den Sälen und Museen Roms, unter den Pinien am Golf von Neapel kaum noch verächtlich des Mädchens im Arbeitskittel und der herben Luft, der engen, grünen, einsamen Thäler des Thüringer Waldes gedenken, ja, daß er seinen jetzigen Wahnwitz dann nicht einmal mehr begreifen werde ...

Aber als er am andern Morgen die Vorhänge auseinanderschlug und das Fenster öffnete, und ihm die geschmähte, herbe Luft als würziger, erdbeerdurchdufteter Kraftodem entgegenschlug, die wogenden Kornbreiten des Thalgeländes morgensonnentrunken zu ihm aufleuchteten, und hart daneben der Buchenschatten dämmerte, wohlige Nachtkühle über die tief in sein Herz hineinlaufenden Waldwege breitend, da überkam ein unerklärliches Trennungsweh den tieferbitterten, zornigen Mann, und heiße Sehnsucht, die mit den toten Augen der Marmorbilder und dem weichen Wehen südlicher Lüfte nichts zu schaffen hatte, wallte übermächtig in ihm auf.

Er räumte Plaid und Reisetasche schleunigst beiseite und quartierte sich wie fast immer für den ganzen Tag im Gartenhäuschen ein. Das Weichbild jenseits der Mauer jedoch betrat er nicht. Er erging sich im Lindenschatten des Gartens, las und schrieb, ließ die Rouleaus nieder vor den Gartenhausfenstern, die nach dem Fichtengehölz hinausgingen, und schloß die auf Altan und Holztreppchen führende Thür so fest zu, als solle nie wieder ein Menschenfuß da aus und ein gehen.

Und diesen einen Tag blieb er auch übermenschlich standhaft in seiner selbstgewählten Gefangenschaft; ja, er hörte scheinbar äußerst gutmütig zu, als Frau Griebel nachmittags kam und erzählte, daß sie bereits eine neue Magd für Amtmanns gemietet habe. Die stramme Person werde schon in diesen Tagen die Stelle antreten, und da sei sie, die alte Griebel, lieber gleich selbst nach dem Vorwerk gegangen, um den Leuten die Nachricht zu bringen ... Die Hände habe sie zusammengeschlagen über die Frau Amtmann, die jahraus, jahrein im Bett kampieren müsse; und dabei sei die arme Kreuzträgerin so lieb, so sanft und freundschaftlich gewesen, daß sie kaum die Zeit er warten könne, wo sie selbst das elende, ganz zusammengezogene Weibchen heben und tragen werde – denn daß sie die Pflege in die Hände nehmen[113] müsse, das stehe bombenfest, nach allem, was sie heute in den paar Augenblicken beobachtet habe ... Die Amtmannsleute seien mutterseelenallein gewesen – der alte Krüppel, der kaum noch über die Stubendielen kriechen könne, habe ihr die Hausthür aufschließen müssen, und in der Küche sei mit keinem Auge Feuer noch Rauch zu sehen gewesen, und das gerade um das Kaffeestündchen, wo doch der Aermste ein Töpfchen voll Zichorienwasser ans Feuer rücke! – Ein wahrer Spektakel sei es da drüben! Das vornehme Gouvernantenfräulein habe jedenfalls ihr Nachmittagsschläfchen gemacht, und die andere – na, von der wisse man ja, wo sie zu suchen sei! – Die könne aber nun abkommen und sich mit Sack und Pack zu ihrem Forstwärter trollen; denn die »Neue« sei ein wahrer Dragoner, ein Arbeitsbär, mit Händen, an denen jede rechtschaffene Oekonomenfrau ihre Freude haben müsse. Die bringe das bißchen Kram im Haushalt und die Arbeit auf dem ausgehungerten Felde spielend fertig und gehe in Nägelschuhen und Flanellrock, wie es sich für eine ordentliche Magd auf dem Dorfe schicke – kurz und gut, es sei Zeit, daß drüben gründlich ausgefegt und reiner Tisch gemacht werde, und damit habe dann auch der Skandal im Grafenholz ein Ende.

Bei dieser Rede hatte die brave kleine Dicke scharf mit ihren schmalgeschlitzten Aeuglein an dem Gutsherrn hinaufgesehen; denn seit gestern, wo sie die Gottesgabe, den Griebelschen Musterkaffee, unangerührt und eiskalt auf dem Schreibtisch vorgefunden und die auf dem Fußboden verstreuten Geschäftspapiere zusammengelesen hatte, war ihr der neue Besitzer des Hirschwinkels sehr befremdlich, und eben hatte er ja so verdächtig aufgezuckt, als wolle er ihr mit allen seinen schlanken Fingern in die saubergebürsteten, spärlichen weißblonden Haare fahren. Natürlich war sie nicht die Frau, die so etwas bemerkte. Sie hatte nun erst recht »von der Leber weg gesprochen« und war nachher mit dem Bemerken fortgegangen, daß sie heute noch die Mägdekammer auf dem Hausboden für »die Neue« ausräumen und herrichten müsse.

Und dann, nachdem die Sonne untergegangen, war es wirklich geschehen, daß eine hastige Hand an der Altanthür leise den Schlüssel umgedreht und den Riegel zurückgeschoben hatte; und gleich darauf war der Gutsherr das Holztreppchen herabgestiegen und zwischen dem Kornfeld und der Gartenmauer hingeschritten; der Weg lief an den Hintergebäuden des Gutes hin und, über ein Wiesenstück weg, direkt in den Wald hinein ... Der Wandelnde hatte[114] den Hut tief in die Augen gedrückt gehabt, als schäme er sich vor dem wispernden Halmgewoge und den dunkelnden Waldwipfeln, die in ernster Majestät auf eine neue Thorheit niedergesehen. Es hatte aber auch jedes Geräusch, das der eigenen Schritte, das ferne Durchbrechen eines Wildrudels im Unterholz, das Huschen der Eichhörnchen droben durchs Geäst, doppelt scharf und nervenberührend geklungen – ein polizeiliches »Halt« vor diesem Wege hätte dem Dahingehenden weit weniger zu schaffen gemacht, als der Gedanke, daß Herr Markus, der gestrenge, unentwegt Rechtliche daheim, hier scheu wie ein Wilderer durch fremdes Revier schleiche ... Und im Stall des Waldhüterhauses hatten die Ziegen verräterisch gemeckert, und der Hund hatte drin die Schnauze an die Fuge der Flugthür gedrückt und geknurrt, zum Aerger dessen, der das Haus umkreist und auf dem weichen Wiesenboden fast unhörbar geschritten war.

Die Eckfenster waren noch genau so streng verhüllt gewesen, wie gestern; nur aus einem Fenster an der Nordseite war ein helles Licht in die Abenddämmerung hineingeflossen – und durch dieses Fenster hatte er gesehen, was er gefürchtet, was ihm Verwünschungen auf die Lippen und eine Thräne ohnmächtigen Zornes und rasender Erbitterung in die Augen getrieben ... Ja, sie war dagewesen; sie hatte am Küchenherd gestanden, und eine grelle Flamme war jäh aus dem offenen Herdloch emporgelodert und hatte sie voll beleuchtet ... Er war in Versuchung gewesen, hinüber zu springen und mit einem Faustschlag gegen das Fenster sie aufzuschrecken aus dem tiefen Sinnen, das gleichsam einen Schleier über das schöne Gesicht des Mädchens gebreitet. Dazu wäre ihm aber auch kaum die Zeit verblieben – sie hatte sich plötzlich selbst emporgerafft, hatte mit hastigen Händen die Herdringe über die Flamme gedeckt und war mit einer dampfenden Eßschüssel in der Hand hinter der nächsten Thür verschwunden.

Der Mann draußen war noch einen Augenblick stehen geblieben, dann hatte er, sich hoch aufrichtend, gleichsam den Staub von den Füßen geschüttelt und war harten, festen Trittes unter den Fenstern des Hauses hingegangen, so daß Mosje Dachs hinter der Flurthür nunmehr mit Fug und Recht laut geworden war. Ein Fenster hatte geklirrt – es mochte auch jemand herausgesehen haben; aber Herr Markus war auf der Fahrstraße fürbaß gegangen wie andere Wanderer auch, die das einsame Haus interesselos seitwärts liegen ließen ... Nein, er durfte nicht länger der klägliche, erbärmliche Spielball dieser unseligen Leidenschaft sein! Schande[115] über den Mann, der sich die Wogen leidenschaftlicher Gefühle über dem Kopf zusammenschlagen ließ! Es mußte alles vorbei sein, als habe ein Erdsturz dort hinter ihm den roten Würfel mit seinen Insassen verschlungen ... Die Sterne waren nur blaß auf dem noch ziemlich lichten Himmel hervorgetreten; aber sie waren doch dagewesen, die wenigen, denen die vorquellenden Baumwipfel zu beiden Seiten ein Hereinlugen gestattet, sie hatten auf ihrem Posten gestanden und auf den dahinstürmenden Mann unverändert herabgesehen, wie sie schon vor Jahren über seinem Kindeshaupt geschienen ... Wie nur die Dichter mit diesen unwandelbaren, im steten, tröstlichen Licht schimmernden Sternen die Frauenaugen vergleichen mochten! – Ein hohnvolles, bitteres Auflachen hatte gespenstig in die tiefe Einsamkeit hineingeklungen. – Gab es denn etwas Verlogeneres, als solch einen seelenvollen Mädchenblick unter dunklen Wimpern hervor? –

So war der letzte Tag dieser stürmischen Woche, der Sonnabend, gekommen, und mit ihm der Baumeister, der den Riß des neuen Vorwerkhauses brachte. Er hatte auf der Schneidemühle zu thun, wohin ihn der Gutsherr begleitete, und blieb über die Mittagszeit im Hirschwinkel. Als aber sein Wagen vom Hofthor wegrollte, da kam auch Herr Markus schon die Treppe herab, um den Bauriß auf das Vorwerk zu tragen. Er durfte sich das wohl zutrauen – er war ja über Nacht vollkommen ruhig geworden, jawohl, so ruhig, als sei sein Herzschlag nie alteriert gewesen. Das Gefühl der Verachtung hatte ihm den Sieg über die unselige Neigung verschafft. Und wenn ihm auch war, als scheine die Sonne gar nicht mehr so strahlend über die Welt, und als sei es so seltsam tonlos still um ihn her geworden, wie wenn die dunkle Erde alle sonnige Fröhlichkeit aus der Lebensluft in sich aufgesogen hätte – so mußte man sich darüber hinwegzusetzen wissen; besser in ein Grab sehen, als sich durch einen Zauber narren lassen und sich selbst zum Gespött werden! ...

Im Vorwerkgarten hatte man angefangen das Gras zu mähen; bis auf den schmalen Weg herein waren die blumendurchsprenkelten Büschel verzettelt. Es lag aber auch ein Taschentuch da; Herr Markus nahm es auf, das feine, schneeweiße Tüchlein, dem ein zarter Veilchengeruch entströmte. Fräulein Gouvernante hatte hier promeniert, und es war leicht möglich, daß er sie jetzt dort in der Lindenlaube mit ihrer Arbeit oder einem Buch in der Hand überraschte. Das ließ ihn allerdings sehr kalt; er wünschte durchaus[116] keine Begegnung und wollte einfach im Vorübergehen den Hut ziehen – aber auch das unterblieb.

Die Mäherin stand am Tisch unter der Laubenwölbung. Sie hatte sich wahrscheinlich, ermüdet und erhitzt, für einen Moment in den kühlen Schatten geflüchtet. Die Sichel lag vor ihr auf der Steinplatte neben einer Handvoll Gras, aus welchem das Mädchen die Blumen zusammensuchte.

Ohne zu grüßen, legte Herr Markus das gefundene Tuch auf den Tisch, und sein Blick streifte spöttisch nur die schlanken, braunen Hände – er mußte »der Neuen« gedenken, die mit ihren gepriesenen Arbeitsfäusten das anmutige Geschäft des Boukettbindens schwerlich fortsetzte.

Und er ging weiter, als sei die Laube vollkommen leer gewesen. »Brüsk« hatte der Forstwärter sein Thun und Wesen genannt, und das war er augenblicklich in jeder Linie, brüsk und herrisch, »ein Vornehmer«, für welchen die Dienstleute des Hauses, das er besucht, nicht existieren ... Aber schon über den Hof schritt er als ein anderer. Die alte Frau auf dem Krankenlager durfte und sollte es nicht mitempfinden, daß ihm dieses Vorwerk nunmehr in tiefster Seele verhaßt sei.

Er breitete den Bauriß auf ihrer Bettdecke aus und weidete sich an der freudigen Bestürzung, mit welcher sie die Zeichnung des schmucken Neubaues anstaunte. Ja, da waren schöne, hohe Fenster und Glasthüren, die auf die Veranda hinausgingen! Wilder Wein sollte sich um das Eisengeländer und die Verandasäulchen[117] schlingen und an Stelle des öden Oekonomiehofes vor der Hauptfassade zeigte die Skizze einen hübschen, mit Kugelakazien besetzten Rasenplatz. Er beschrieb ihr, die in einem Atem weinte und lachte, die ganze innere, zweckmäßige Einrichtung des Hauses und blieb äußerlich völlig gelassen den lächerlichen Ansprüchen und Ausstellungen des Amtmanns gegenüber, dem plötzlich der Kamm ganz gewaltig schwoll. Der unverbesserliche Aufschneider war sofort wieder Herr der Situation – das Haus baute er. Er faselte von parkettierten Fußböden, von Samtmöbeln, die er für den Salon anschaffen werde, und tadelte es heftig, daß keine eigentliche Anfahrt da sei, welche das direkte Herankommen einer anständigen Equipage gestatte. Und dabei hinkte er aufgeregt durch die Stube und schlug den geflickten Schlafrock, dem ein verwaschenes Baumwolltuch aus der Tasche hing, majestätisch wie einen kostbaren Pelz über der Brust zusammen.

Der Gutsherr lächelte nur und drückte der Kranken, die ihn bei diesen Auslassungen angstvoll ansah, beruhigend die Hand, wobei er ihr sagte, daß er in Berlin auch nach einem bequemen Fahrstuhl suchen würde, auf welchem ihre Uebersiedlung nach dem Gutshause bewerkstelligt werden solle ... Dann aber erhob er sich eiligst. Es mochte wohl die dumpfe, eingeschlossene Luft der Wohnstube sein, die ihm das Blut pochend, voll prickelnder Unruhe nach den Schläfen jagte und ihn hinaus ins Freie trieb – er ging lediglich, um aufzuatmen, ja, nur deshalb! ... Er hätte auch durch das Hofthor den Heimweg antreten können; allein, da lag die Sonne breit, in greller Gluthitze auf der verwahrlosten, steinebesäten Fahrstraße, während der Garten mit seinen Bäumen kühlen Schatten bot – und weshalb hätte er denn nicht durch den Garten gehen sollen? –[118]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900, S. 112-119.
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Amtmanns Magd
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