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[153] Verlorene Zeit! – Er biß die Zähne zusammen vor Grimm und Aerger, während er quer über den Hof zum Thor hinaus eilte.

»Herr, machen Sie, daß Sie in ›Nummer Sicher‹ kommen!« rief ihm der Amtmann nach. Er war unter die Thür getreten und zeigte mit der Pfeife nach dem Himmel, an welchem eben die Sonne völlig hinter den dunkeln Wolkenmassen verschwand. Wie ein plötzliches Erlöschen ging es über die lechzende Erde hin, und ein schwach hauchender, heißer Odem strich an dem Gehöft vorbei und hob die spärlichen weißen Haare an den Schläfen des alten Herrn. »Und sollten Sie einem jungen Frauenzimmer in grauem Schleierhut begegnen, so jagen Sie es heim, hierher aufs Vorwerk!« schrie er, die hohle Hand an den Mund legend. »Die vermaledeite Blumensucherei! Nun sitzen die Alten daheim und ängstigen sich!«

Die letzten Worte hörte der Fortgehende nur noch über die Hofmauer hinweg, hinter welcher er schritt. Er lachte zornig in sich hinein ... Wenn er ihr nur begegnete, der schönen Nichte! Er jagte sie nicht heim – ganz im Gegenteil, er vertrat ihr den Weg, und sie mußte ihm Rede stehen, ohne Gnade und Erbarmen, unter Blitz und Donner und strömendem Regen!

Die am Gehöft hinführende Fahrstraße verlief sich draußen im Felde oder vielmehr sie wurde zum schmalen das Grafenholz durchschneidenden Gehweg ... Da war das Mädchen jedenfalls gegangen, nachdem es »mit Sack und Pack« das Vorwerk verlassen hatte – »in den Wald, in den grünen Wald!« ... Hatte nicht auch der Amtmann vom »Herumzigeunern« gesprochen? – Stieg nicht aus den Wipfeln dort ein dünnes Rauchsäulchen von dem halbdürren, qualmenden Reisig, über welchem der Kessel des Nomadenvolkes hing? – Lächerlich! – die Wolken kämpften; da und dort schossen weißgraue Dunstgebilde schleierhaft an der kompakten[153] schwarzen Gewitterwand empor. Ein Zigeunerlager wurde wohl auch schwerlich im wohlkultivierten Waldgebiet Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht geduldet. Aber die Fahrstraße war frei – dem Wagen mit der Leinwandplane, eskortiert von den braunen Männern zu Pferde, war der Weg durch das kühle, labende Buchendüster in die weite Welt hinein unverwehrt ... Nun, eine solche Fahrt ging langsam von statten – diese Heimatlosen reisen con amore – einem raschen Wanderer gelang es wohl, sie einzuholen und zu erforschen, ob unter dem weißen Leinendach wirklich die Schöne Unbegreifliche sitze, wieder eingefangen in den Bann der Zusammengehörigkeit, den auch das gesetzlose Nomadenvolk festhält. – »Dummes Zeug!« sagte der Amtmann immer – und jetzt sagte es auch Herr Markus, indem er heftig den Kopf schüttelte und mit dem Fuß einen Stein aus dem Weg schleuderte. Dummes Zeug! – Dieses züchtig verhüllte, stolze, tapfere Mädchen unter der halbnackten Zigeunerjugend, unter wüsten Spitzbuben- und Hexenphysiognomien, durch die Welt ziehend! – Wie war es nur möglich, daß sich diese verrückte Vorstellung immer wieder einschleichen konnte in einen Kopf mit gesundem Menschenverstande!

In verdoppelter Eile schritt er weiter. Im Forstwärterhause mußte ihm Aufklärung werden; und war das Mädchen fort, nun – so schüttelte er den Staub von den Füßen und ging ihr unverweilt nach, bis er sie fand ...

Das grüne Leuchten der sonnenheißen Buchenwipfel war wie weggelöscht – dunkel und regungslos stand der Wald unter dem tiefziehenden Gewitter, als hielte er mit allem, was in ihm lebte und webte, bang den Atem an. Bis in sein Herz hinein war die sengende Glut der letzten Tage gekrochen. Der schmale, sonst immer feuchte Weg sah gebleicht aus, dürres, knisterndes Gras stand an seinen Rändern, und die Farnwedel hingen schlaff und saftlos drüber her. Und das Bächlein, das ihn quer durchschnitt, war nahezu versickert – das lose über das Uferbett gedeckte Brett lag wie zum Hohne da.

Herr Markus schritt darüber hin. Zur Rechten lief das Dickicht schnurgerade auf ebenem Boden weiter; links aber that sich der schmale, an die Berglehne geschmiegte Wiesengrund auf, in welchem das Waldhüterhaus lag. Ziemlich entfernt durchschnitt ihn die Fahrstraße in sanfter Krümmung, und weiterhin kamen die roten Ziegelwände des einsamen Hauses in Sicht.

Bei diesem Anblick blieb der Gutsherr überrascht stehen. Dort[154] trat eben der nächtliche Reiter auf die Thürstufen und bestieg sein Pferd, das der Forstwärter hielt! Und jetzt im Tageslicht schwand alle Romantik! Der stattliche alte Herr im Sommerpaletot, mit seinem kurzgeschorenen grauen Haar und den Wildledernen über den Händen würde sich wohl schönstens bedankt haben für die Rolle eines Zigeunerhauptmanns. – Im ziemlich scharfen Trabe ritt er vom Hause weg: Mosje Dachs lief voraus, und der Forstwärter marschierte nebenher – nach wenig Augenblicken waren sie im Walde verschwunden.

Was nun? – Im ersten Moment stürmte Herr Markus vorwärts – der Grünrock war der einzige, der ihm Auskunft geben konnte; aber allmählich verlangsamte sich sein Eilschritt; er konnte doch unmöglich den Mann, der in sichtlicher Eile sein Haus verließ, wie ein Wegelagerer stellen und ihm auf offener Straße eine Erklärung abzwingen! –

In diesem Augenblick sah er, wie eine Katze die Thürstufen herabschlich und quer über den Fahrweg in das Dickicht spazierte – die Thür mußte offen sein, und da waren auch Leute im Hause ...

Er ging unter den Eckfenstern hin; die blauen Rouleaus hingen noch hinter den Scheiben; aber die Thür klaffte in der That, und Herr Markus zögerte nicht, sie geräuschlos weiter zu öffnen und einzutreten.[155]

Die Hausflur hatte keine Fenster, sie war kühl und dunkel: aber da zu seiner Rechten stand die Thür des Eckzimmers – wahrscheinlich der einströmenden Kühle wegen – weit offen, und ein bläuliches Licht floß heraus in den dämmernden Raum.

Nun überschlich ihn doch ein widerwärtiges Gefühl – er stand ja selbst wie ein eingedrungener Dieb in dem beargwohnten Hause; wie sollte er wildfremden Menschen sein Hiersein beim ersten Entgegentreten genügend motivieren? –

Nichtsdestoweniger schloß er die Hausthür leise hinter sich und verharrte einen Moment beobachtend auf seinem Platze. Im ganzen Hause herrschte Totenstille, und zuerst ließ das ungewisse Licht alle Gegenstände vor dem Auge des Eingetretenen verschwimmen; aber auch nur für einen Augenblick, im nächsten machte er eine überraschende Entdeckung – Fräulein Gouvernante war da, sie war im Hause! Da, auf einem Tische, nahe der Thür, lag der graue Schleierhut und die Handschuhe, welche das friedfertige Gemüt der guten Griebel in Wallung gebracht hatten ... Ah, der Vogel war gefangen! Eine Art Triumph, ein rachsüchtiges Gefühl quoll heiß in ihm auf. Jetzt wollte er dem »Bild von Sais« den Schleier vom Gesicht ziehen! Die grausame Egoistin sollte beichten und büßen; sie selbst sollte und mußte ihm dazu verhelfen, das Mädchen wiederzusehen, das sie in Not und Entbehrung mit sich geschleppt hatte, um es dann erbarmungslos seinem Schicksal zu überlassen.

Rasch entschlossen trat er unter die Stubenthür, aber erschrocken fuhr er zusammen und zog sich unwillkürlich wieder tief in die Hausflur zurück. In der gegenüberliegenden Zimmerecke – es war just die Ecke, aus welcher gestern abend das monotone Gemurmel der männlichen Stimme gekommen – stand ein Bett, und in den Kissen desselben lag ein Schläfer. Färbte die blaue Dämmerung das stille Antlitz so leichenhaft, oder hielt der wirkliche Todesschlaf die Augen dort geschlossen, das ließ sich schwer entscheiden. Darüber sann auch der bestürzte Mann in der Hausflur nicht – er starrte nach dem wallenden, rötlich blonden Vollbart, der sich über die buntgewürfelte Bettdecke breitete. Wie kam der Mensch, den er und Frau Griebel neulich gleichsam von der Landstraße aufgelesen und eine Nacht im Gutshause verpflegt hatten, hierher, und seit wie lange beherbergte ihn die geheimnisvolle Ecke dort, die ihm, dem Gutsherrn, so viel Kopfzerbrechens verursacht? ... Was aber vor allem hatte FräuleinGouvernante, die dünkelhafte, preziöse Weltdame hier im Waldhüterhaus, am Krankenbett eines Landstreichers zu schaffen?

Ein leises Geräusch, das Hingleiten eines Frauengewandes über die Dielen des Zimmers ließ den Lauscher noch tiefer in das Dunkel zurücktreten – er wollte sich erst klar werden über das Thun und Treiben der verhaßten Mansardenbewohnerin, ehe er ihr entgegentrat. – Sie mußte aus einer Seitenthür, wohl aus der Küche, gekommen sein und mochte noch einen Augenblick an einem Tische hantieren; ein leises, sofort wieder verstummendes Aneinanderklingen von Glasgeschirr wurde hörbar, dann huschte die Schleppe weiter, und die Dame trat in den Gesichtskreis des Lauschers.

Die schlanke, elegante Gestalt kehrte ihm den Rücken zu. Er sah den feinfrisierten Hinterkopf, reiche, dunkle Flechten, aus denen sich hinter dem Ohr ein paar kurze Locken stahlen, sah, wie die eine Hand nach der Schleppe des dunklen Kleides zurückgriff, um sie graziös aufzunehmen – wunderlich! – er hatte diese junge Dame neulich in der Abenddämmerung nur flüchtig wie einen Schatten neben ihrem Onkel gesehen, er hatte nie in seinem Leben mit ihr gesprochen, und doch war es ihm, als kenne er sie seit lange, lange.

Sie bog sich tief über den Schlafenden und horchte auf seine Atemzüge; eine Fliege, die um das Kopfkissen summte, wurde mit sanfter Hand weggescheucht; dann wandte sich die Dame um, und – der Mann in der Hausflur stand wie vom Donner gerührt! ... Und wenn sie auch eine Dame comme il faut schien, wenn auch eine Fülle krauser Löckchen tief in ihre Stirn fiel, ein modern eleganter Anzug eng die Formen umschmiegte, die der Arbeitskittel und die dicken, steifen Schürzenfalten bisher erfolgreich verpuppt hatten – es war doch Amtmanns Magd, die da, in sich gekehrt, mit gesenkten Lidern lautlos nach dem Tisch an der Thür zurückkehrte! ...

Wie Schuppen fiel es von den Augen des Mannes, dem vor Bestürzung der Atem stockte – Teufel! – er hatte sich schmählich mystifizieren lassen! Er war dieser Feinen gegenüber der ehrliche, dummgläubige, deutsche Michel gewesen, der, ohne allen Spürsinn, weder ein Rechts noch Links erwogen und gerade nur das festgehalten hatte, auf was er mit der Nase gestoßen worden war ... Ein ganz klein wenig mehr Schlauheit, als Stiefmutter Natur ihm gegeben, hätte leicht das Rätsel der Sphinx[158] zu lösen vermocht, denn es war nicht schwer gewesen, und neben dem bitteren Ernst hatte leise und lieblich mädchenhafte Schelmerei hineingespielt, wie er nun wußte – das »Bild von Sais« hatte freilich hinter seinem Schleier in der Mansarde sitzen müssen, während Fräulein Agnes Franz in den Arbeitskittel geschlüpft war, um Brot für die beiden unglücklichen alten Menschen zu schaffen. »Unzertrennlich, ein Herz und eine Seele« seien Fräulein Gouvernante und Amtmanns Magd, war ihm der strikten Wahrheit gemäß gesagt worden, und wenn er dabei nicht auf den gescheiten Gedanken gekommen war, daß das Doppelwesen auch ein und denselben Kopf haben könne – den schönen, ausdrucksvollen, den er von seinem Versteck aus so lockend nahe vor sich sah – so hatte das eben nur so einem unbeholfenen, blödsichtigen alten Knaben wie ihm passieren können ...

Ein Gemisch von Zürnen und Bewunderung, von Verlangen nach Revanche und mitleidsvoller Zärtlichkeit wogte in ihm auf, und er dankte seinem guten Stern, der ihn im Dunkel der Hausflur festgehalten – da blieb ihm Zeit, sich zu sammeln. Den Triumph, ihn in seiner grenzenlosen Bestürzung zu sehen, sollte »Fräulein Gouvernante« doch nicht erleben, nicht einmal Erstaunen durfte sie in seinen Zügen finden!

Ohne ihn zu bemerken, ging sie quer an der offenen Thür vorüber, und er bog sich weit vor, um sie am Tische beobachten zu können. Sie zerschnitt eine Zitrone und warf die Scheiben in ein Glasgefäß voll Brotwasser – und nun wußte er auch, weshalb die schöne Nichte nicht ohne Handschuhe ausgehen sollte; der »alte Prahlhans« auf dem Vorwerk suchte es nunmehr nach Kräften zu vertuschen, daß »eine Franz, die Tochter eines höheren Offiziers«, Magddienste hatte verrichten müssen – und die schlimmsten Verräter waren allerdings die braunen Hände da, an denen sich die Spuren harter Arbeit nicht so bald verwischen ließen ...

In diesem Augenblick schnob draußen der Gewittersturm vorbei. Wie ein alarmierender Trompetenstoß schrillte er durch die Lüfte und weckte ein majestätisches Sausen und Brausen in den geschüttelten Waldwipfeln; aber er machte auch die Fenster des Hauses klirren und rüttelte an der Flurthür, als wolle er sie aufstoßen.

Die Dame am Tische horchte auf und sah besorgt nach dem Kranken im Bett zurück, der indes nicht einmal einen Finger der auf der Decke liegenden Hand bewegte; er schlief offenbar den Schlaf tiefster Erschöpfung.[159]

Unterdes trat Herr Markus geräuschlos näher, er war nunmehr vollkommen Herr seiner selbst geworden, und als sie beruhigt den Kopf wandte, um ihre Beschäftigung fortzusetzen, da fiel ihr Blick auf ihn, der in verbindlicher Haltung, den Hut in der Hand, an der Thürschwelle stand.

Ein sichtbarer Schrecken durchfuhr sie, Zitrone und Messer entfielen ihren Händen; aber sie gewann unglaublich rasch ihre Fassung wieder, es war, als wüchse ihre Erscheinung vor seinen Augen ... So hochaufgerichtet trat sie vom Tische weg, ging über die Schwelle an dem Zurückweichenden vorüber und öffnete die gegenüberliegende Thür, die in die Wohnstube des Forstwärters führte.

»Bitte, mein Herr, treten Sie ein!« sagte sie, unter einer einladenden Handbewegung, höflich, fremd, mit schwacher und doch so wohlbekannter Stimme. »Sie suchen jedenfalls Zuflucht vor dem herankommenden Gewitter –«

Er unterdrückte ein Lächeln. »Fräulein Franz?« fragte er unterbrechend mit einer Verbeugung, so kühl und reserviert, als sähe er diese Dame zum erstenmal in seinem Leben.

»Ja, mein Herr, ich bin die Nichte des Amtmanns, Agnes Franz –« bestätigte sie – ihr Blick suchte den Boden, und das Blut wallte ihr nach dem Gesicht –, »die Gouvernante«, setzte sie mit festem, geschärftem Ton hinzu; sie sah auf, und ihre Augen flimmerten in einem sichtbaren Kampf zwischen Befangenheit und feindseligem Trotz.

Er bemerkte das nicht, er war sehr unbefangen. An der Thür stehen bleibend, sagte er wie zu seiner Entschuldigung: »Es ist nicht meine Absicht, den Ausbruch des Gewitters hier abzuwarten – das Naßwerden darf mich nicht schrecken, denn es ist sehr möglich, daß ich, wie ich da bin, schon im nächsten Augenblick hinaus muß, um stundenweit zu gehen ... Ich suche ein junges Mädchen, eine barmherzige Schwester, die mir gestern den Verband da angelegt hat« – er zeigte nach seiner Rechten. – »Der Herr Amtmann sagt, das Mädchen sei fort, fort auf Nimmerwiederkehr – ist das wahr, Fräulein Franz? Ist sie fort?«

Sie wich seinem ernsthaften, durchdringenden Blick aus und antwortete unsicher: »Ihre Hilfe und Thätigkeit wurde nicht mehr gebraucht – Sie selbst haben ja einen Ersatz für sie acquiriert –«

»Und da ist sie gegangen, ohne sich zu erinnern, daß sie ein gegebenes Wort einzulösen hat? ... Sie sagte gestern: ›Ich komme[160] morgen wieder, um nachzusehen.‹ – Sie müssen wissen, daß das für mich so gut wie Manneswort war, so unantastbar wie ein Evangelium. – Nun wohl, ich habe geduldig gewartet. Ich habe stundenlang in die zitternde Nachmittagsglut hinausgestarrt, immer hoffend, einmal müsse doch das Mädchen im Arbeitsrock, mit dem weißen Tuch über dem Kopf, um die Waldecke kommen. Ich habe den Verband da nicht berührt, aus Besorgnis, er könne sich lockern und mir den Tadel der barmherzigen Samariterin zuziehen. Nun ist sie fort, in die weite Welt, als habe sie der Wind für immer weggeweht, sagt der Herr Amtmann – was fange ich an? –«

»Erlauben Sie, daß ich das gegebene Wort einlöse,« sagte sie, die Hand nach seiner Rechten ausstreckend, und ein scheuer, fast lächelnder Blick streifte sein Gesicht – er verzog keine Miene.

»Ich danke,« versetzte er zurückweichend. »Das kann ich nicht annehmen. Der Verband bleibt wie er ist, bis ich meinen lieben Heilgehilfen gefunden habe. Ich sagte Ihnen schon, daß ich ihm nachgehen würde, und hoffe zuversichtlich, Sie werden menschenfreundlich genug sein, mir einen Fingerzeig zu geben, wie ich seiner habhaft werden kann –«

»Nein – das werde ich niemals!« unterbrach sie ihn schroff und wandte sich ab.

»Aber das ist hart und unchristlich und häßlich parteiisch! ... Was hat denn der fremde Bettler drüben auf dem Krankenlager mir voraus, daß er sorgsam gepflegt wird, während Sie mir die Auskunft verweigern, die mir Heilung bringen soll?«

Sie wurde ganz blaß und drückte unhörbar die Thür zu, die bisher nur angelehnt gewesen war.

»Jawohl, ein Bettler,« sagte sie mit umflortem Blick, »ein Mensch, dem nicht einmal das Kopfkissen gehört, auf welchem er seine Todeskrankheit durchgemacht hat. – Es ist bitter, über das weite Meer, durch tausend Gefahren und Strapazen dem Golde nachgegangen zu sein, um schließlich, zum Sterben erschöpft, arm wie Hiob, an der heimischen Schwelle zusammenzubrechen ... Für sein Mütterchen hat er draußen arbeiten und einheimsen wollen. Er hat gewußt, daß ein Tag kommen mußte, wo sie aus Glanz und Komfort in die bitterste Not hinabgestoßen werden würde, und da hat er sich losgerissen, als er glaubte, es sei noch Zeit, vorzubeugen ... Ein anderer wäre vielleicht mit dem Scheitern seiner Pläne für die Seinen verschollen – das hat er nicht gekonnt[161] – die Sehnsucht nach der alten Frau hat ihn gleichsam mit dem Zwangspaß nach Hause gejagt. Und nun muß er hier, keine tausend Schritt von ihrem Siechbett entfernt, unfreiwillig Station machen –«

»Ist es der, auf dessen Zurückkunft der Amtmann hofft, wie die Juden auf den Messias?« unterbrach sie der Gutsherr ahnungsvoll, mit zurückgehaltenem Atem.

Sie neigte schweigend und bejahend den Kopf.

Er fühlte sich tief erschüttert. – Das war also der »Nabob«? – Eben noch hatte der alte Mann in seinen vermessenen Illusionen sich und seinen Sohn »Regierende von Goldes Gnaden« genannt; er war stolz auf sein »magnifikes Programm« gewesen, das mit dem kalifornischen Golde urplötzlich eine Wüstenei in eine Art Schlaraffenreich verwandeln sollte ... Und durfte man sich auch sagen, daß der eingefleischte Renommist an seine kühnen Hoffnungsbilder selbst nicht allzufest glaube, so blieb es doch herzbewegend genug, zu wissen, daß »der Strolch mit dem polizeiwidrigen Bart«, dem er einen Zehrpfennig und ein Stück Bettelbrot vor das Hofthor geschickt hatte, sein eigen Fleisch und Blut, sein »Goldjunge« gewesen war ...

Und inmitten dieses Familiendramas stand ein Mädchen, mutig und klug, und in Kindestreue gleichsam die feindlichen Speere mit starken Armen zusammenfassend und in die eigene Brust drückend ... Sie hatte alles auf sich genommen, den furchtbaren Druck harter Arbeit, die Sorge um das tägliche Brot, die Pflege der zwei hilflosen Alten – und nun lag hier noch einer, dessen Heimkehr sie verbergen mußte; nur verstohlen hatte sie zu ihm schleichen dürfen. Mit welch herzklopfender Angst mochte sie wohl des Nachts das Vorwerk verlassen haben, um hier zu wachen! Und bei diesem Liebeswerk war sie von Frau Griebel gesehen und grausam verurteilt worden.

Er sah sie mit gesenktem Kopf da an der Thür stehen und hätte ihre Kniee umfassen mögen. Aber in diesem Augenblick galt es, streng den Sturm im Innern niederzuhalten; sie war mit Recht erbittert und beleidigt, die vielgeschmähte Gouvernante – eine einzige leidenschaftliche Gebärde der Tiefverletzten gegenüber schleuderte ihn weit von dem ersehnten Ziel zurück, das sagte ihm ihre ganze Haltung.

»Wird Ihr Vetter dem Leben erhalten bleiben?« fragte er, Stimme und Gesichtsausdruck mit aller Kraft beherrschend.[162]

»Gott sei Dank – ja! Der Arzt, der vor wenigen Minuten fortgeritten ist, erklärt ihn für genesend. Gestern abend zeigte er große Besorgnis – das Delirium hatte einen kritischen Charakter angenommen –«

Das war das unheimliche Gemurmel in der Ecke gewesen, und aus dem biederen Thüringer Landarzt hatte die tolle Eifersucht einen Zigeunerhäuptling gemacht!

»Da trat an uns Pfleger einen Augenblick die schwere Frage der Verantwortung heran,« fuhr sie bewegt fort. »Ottos Heimkehr unter so unglücklichen Verhältnissen hatten wir vorläufig den Eltern verheimlichen müssen, aber wenn es ans Sterben ging –« sie verstummte in der Erinnerung an das furchtbare Dilemma, das über sie verhängt gewesen war, und in die plötzliche Stille hinein grollte fern der Donner und ein Schauer großer Regentropfen schlug hart gegen die Scheiben.

»Das Wetter kommt und der Forstwärter ist unterwegs nach der Tillröder Apotheke!« rief sie besorgt.

»Und auf dem Vorwerk ängstigen sich zwei alte Leute um eine junge Dame, die im Walde Blumen sucht,« sagte Herr Markus.

Sie sah ihn fest, mit brennenden Augen an und zuckte bitter lächelnd die Schultern. »Was kann es schaden, wenn die verwöhnten, faulen Damenhände, die sich mit ihren gemalten Feldblumensträußen und Fingerübungen aufdringlich machen, auch einmal vom Gewitterregen gewaschen werden?« fragte sie leichthin.

Der Gutsherr biß sich auf die Lippen und blickte hinaus in die niederstürzende Regenflut. »Der Meinung bin ich auch,« versetzte er, sich nach einem augenblicklichen Schweigen gelassen umwendend; »aber ich sehe nicht ein, mit welchem Recht Sie Ihre Bemerkung auf die sonnverbrannten Hände da beziehen mögen« – er zeigte nach ihren Händen, die noch den Thürgriff umschlossen hielten.

»Ja, schön sind sie nicht,« sagte sie mit Humor und ließ die Finger der Rechten vor ihren Augen spielen. »Der Onkel sieht auch seit heute mittag streng darauf, daß ich mich dem lieben alten Walde nicht mehr ohne Handschuhe zeige.«

»Er hält auf die Dehors, der alte Herr, auf seinen Namen –«

Sie lachte hart auf. »Er weiß und bedenkt nicht, wie schlimm es um diesen Namen steht! Die Franzens haben ja einen mit all seinen Hoffnungen Gescheiterten – und eine Gouvernante in der Familie –«[163]

»Und – was ich für viel, viel schlimmer halte – ein häßlich rachsüchtiges, unversöhnliches Element in ihrem Blute,« ergänzte er mit hervorbrechendem Unwillen. – Er griff nach seinem Hut, den er auf den nächsten Tisch gelegt hatte.

»Sie wollen doch nicht in das Unwetter hinausgehen?« fragte sie verschüchtert.

»Ei warum denn nicht? – Es kann auch ›dem Reichen, wie er in der Bibel steht‹, nicht schaden, wenn ihm der Regen auf den Hut fällt. – Die Luft hier im Hause regt mir das Blut auf. Ich will doch tausendmal lieber den Kampf mit Sturm und Gewitter aufnehmen, als hier der Engherzigkeit und Verbitterung standhalten! ... Und haben Sie denn vergessen, daß ich einzig und allein hierhergekommen bin, mein Mädchen – Pardon, meinen lieben Heilgehilfen wollte ich sagen – zu suchen? – Nun, hier ist sie nicht, die Tapfere, Großherzige, die Edle, die es nicht ertragen konnte, mir einen Schmerz verursacht zu haben, und, sich selbst verleugnend, zu mir gekommen ist –«

»Sie that nur ihre Pflicht,« unterbrach sie ihn mit zuckenden Lippen schroff und trotzig und dabei hocherrötend. »Sie haben recht, das Mädchen in Kopftuch und Arbeitsrock finden Sie hier nicht – sie wird sich überhaupt nicht wiederfinden lassen. Hat sie Ihnen nicht gesagt, daß sie mit mir ein Herz und eine Seele sei? Muß sie dann nicht zürnen wie ich, nicht mit mir fühlen, daß eine Mädchenseele, die auf ihre Selbstachtung hält, es nicht verwinden kann, wenn ihr das Häßlichste nachgesagt wird: das Angeln nach Männerherzen? ... Ich weiß am besten, wie sie am Fuß der Treppe, die zu Ihnen führt, mit sich gekämpft hat –«

»Aber sie ist trotz alledem hinaufgegangen und hat gehandelt, wie das echte Weib handeln soll, mit dem mitleidigen Herzen, und nicht mit dem egoistischen Verstand, mit dem starren Prinzip, das da sagt: ›Zahn um Zahn‹! ... An diesem Herzen zweifeln, wäre eine Sünde, die ich mir selbst nicht verzeihen könnte, und deshalb sage ich – mögen Sie die Gütevolle, Selbstlose auch hier in diesen fremden vier Wänden vor mir verleugnen – ich sage: sie wird wiederkommen, weil ihre Samariterpflicht sie noch einmal mit mir zusammenführen muß« – er zeigte auf die verbundene Hand.

»Sie werden sich erinnern, daß ich mich erboten habe –«

»Und Sie wissen, daß ich diese Hilfe entschieden zurückweise ... Ich werde warten, geduldig warten, bis mein lieber[164] Heilgehilfe sich seines Patienten erinnert ... Und nun will ich in Gottes Namen hinausgehen – vielleicht finde ich draußen im Walde seine Spur eher wieder!«

»Sie können jetzt das Haus unmöglich verlassen!«

»Bah, des Gewitters wegen? Sehen Sie doch hinaus – im Augenblick fällt kein Tropfen mehr!«

Das Getöse des niederrauschenden Regens war in der That jäh abgerissen; aber es war ein Innehalten, wie wenn ein Ringender mit einem tiefen, langsamen Atemholen neue Kraft schöpft. Als bräche die Nacht herein, so dunkel wurde es plötzlich im Zimmer – die schwarze Wolkenwucht senkte sich so tief, als wolle sie das Dach des Hauses und die Waldwipfel zusammendrücken.

Der Gutsherr verbeugte sich leicht mit einem sprechenden Blick nach den Händen auf dem Thürschloß; aber sie gaben dasselbe nicht frei. »Gehen Sie nicht!« sprach die junge Dame. Das klang so sanft und beweglich, wie gestern die Mahnung: »Seien Sie gut!«

Seine Augen strahlten feurig auf. »Ich bleibe, wenn Sie befehlen,« versetzte er nichtsdestoweniger kühl und förmlich. »Ich begreife, daß Sie sich, so allein hier, vor dem Gewitter fürchten.«

»So geistesschwach bin ich nicht!« entgegnete sie gereizt. »Von Kindheit an habe ich das Gewitter weit eher geliebt, als gefürchtet.«

»Nun, dann ist mir Ihr Wunsch ein Rätsel. Hätte die barmherzige Schwester ihn ausgesprochen, dann wüßte ich, daß es aus Besorgnis für mich geschehen wäre, wie sie ja gestern auch um meinetwillen zu mir gekommen ist –«

»Sie irren sich! Sie hat Ihnen ausdrücklich erklärt, daß sie den unerhörten Schritt aus Gewissensnot, im Hinblick auf die Menschenpflicht gethan habe,« sagte sie fast heftig und warf mit einer unbeschreiblich stolzen, trotzigen Gebärde den Kopf auf.

»Ach, so bitterernst ist das gemeint? ... Und Sie haben wirklich das Herz, mir – weil ich leichtsinnig und oberflächlich über einen Beruf und seine Vertreterinnen geurteilt habe – meine süße Illusion zu rauben?«

Sie sah auf den Boden und ihre Hände sanken vom Thürschloß herab.

»Finden Sie nicht ein milderndes Wort, an welchem ich mich aufrichten könnte?«

Man sah, daß ein heftiger Widerstreit der Gefühle in ihr kämpfte; allein ihre Lippen blieben geschlossen, und das blasse[165] Gesicht wurde starr im Ausdruck unbeugsamen Widerstandes, während sie von der Thür wegtrat.

»Nun wohl, dann nehme ich die grausamste Enttäuschung meines Lebens hin und gehe!« rief er, indem er die Thür öffnete und durch die Hausflur nach dem Ausgang schritt.

Er hatte völlig vergessen, daß ein Kranker im Hause liege, und deshalb seine kräftigen, raschen Bewegungen in keiner Weise moderiert – so mochte das Geräusch des kreischenden Thürgriffes und der festen Schritte auf dem Backsteinfußboden den Schlafenden aufgeschreckt haben.

»Agnes!« rief eine matte, verlangende Stimme von der Zimmerecke her.

Herr Markus sah noch, wie die junge Dame über die Schwelle der andern Stube geflogen kam; er sah auch, wie sie, im heftigsten Zwiespalt mit sich selbst, in der Hausflur ihre Schritte hemmte und mit angstvollen Augen ihn verfolgte. bis es ihm gelang, dem eindringenden Sturm die Hausthür zu entreißen und sie zu schließen.[166]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900, S. 153-167.
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Amtmanns Magd; Roman

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