9

[84] Als er in die Wohnstube zurückkehrte, da bemerkte er Thränenspuren auf dem sanften Frauengesicht hinter den Bettvorhängen; der Amtmann aber war bemüht, drei bis vier Stück Havannas – jedenfalls der Rest der Zigarren, um derentwillen der Forstwärter heute mit den Spitzen in der Tasche zum Juden wandern mußte – auf einem Zigarrenständer zu ordnen.

»Nun, wo steckt denn der Mosje Langbart?« rief er Herrn Markus entgegen.

Der Eingetretene berichtete, daß der junge Mann seinen Weg fortgesetzt haben müsse, und nahm seinen Sitz am Bett der Kranken wieder ein.

»Wußte sie denn nicht zu sagen, wohin er gegangen sei?« fragte der Amtmann, ganz hingenommen von seiner Beschäftigung, die Zigarren zu placieren, denn er sah nicht auf.

»Ach, Sie meinen die Magd? – Ich sah sie nicht.«

»So, so – wird mit dem Mittagessen zu thun haben.« – Er bot dem Gutsherrn die Zigarren hin, die jedoch dankend abgelehnt wurden.

Herr Markus sah, wie die alte Dame sich verstohlen abermals eine Thräne von den Wimpern wischte. Vielleicht wußte sie um den Spitzenhandel. Die Kante war möglicherweise das letzte Familienerbstück, dessen Ertrag der lüsterne Herr Ehegemahl im vorhinein in die Luft verpafft hatte; ein Zorngefühl gegen[84] den unverbesserlichen alten Mann stieg in ihm auf, er hätte um keinen Preis eine der Zigarren angerührt.

»Ein malerischer Waldblumenstrauß!« bemerkte er, mitleidig die Gedanken der Kranken von dem unerquicklichen Thema ablenkend, indem er auf das Boukett im Kristallkelch zeigte.

»Das will ich meinen!« sagte der Amtmann. »Es sind aber auch Künstlerhände gewesen, die den Strauß gebunden haben. Meine Nichte, die gegenwärtig bei mir lebt, ist eine Blumenmalerin, die ihresgleichen sucht. Wir erleben viel Freude an ihr, und das Kapital, das ich in ihre Ausbildung gesteckt habe, ist kein verlorenes, wie so mancher schöne Thaler Geld, den ich für vermeintliche Talente zum Fenster hinausgeworfen habe –«

»Ach ja – mein guter Mann hat immer geglaubt, er müsse jedem forthelfen, der von der Kunst sein Heil erwartete, und diese Großmut ist allzusehr ausgebeutet worden,« warf die Kranke mit einem schwachen Lächeln ein, und ein Blick voll unvergänglicher Liebe streifte den alten Herrn.

»Jugendeseleien sind's gewesen, Sannchen, dumme Streiche, die ich aber, weiß Gott, heute noch gerade so machen würde, wenn ich – na, wenn ich noch mitten im Welttreiben draußen mitschwämme. Der Tausend ja, schön wär's, das Mitschwimmen, trotz der steifen Beine, die mir das infame Zugloch, der Hirschwinkel angeblasen hat! Na, 's ist noch nicht aller Tage Abend, und wenn erst mein kalifornischer Goldjunge wiederkommt –«

Er unterbrach sich bei der hastigen Bewegung, mit welcher die alte Frau ihr weggewendetes Gesicht tief in die Kissen drückte. »Aber was ich vorhin sagen wollte –« hob er, das Kinn verlegen reibend, rasch wieder an. »I nun ja, da starb eines Tages mein guter Bruder; er war schon mit dreißig Jahren Witwer geworden und hinterließ mir das arme kleine Ding, die Agnes. – Ein Glückspilz war er nie gewesen, und als Vormund seiner kleinen Waise brauchte ich der Hinterlassenschaft wegen keinen Finger zu rühren – es blieb nichts übrig. Da haben wir das herzige Mädel an unser Herz genommen, mein Sannchen und ich, wie wenn's uns der Storch eben frisch aus dem Teich gebracht hätte – und nicht zu unserem Schaden. In dem verhängnisvollen Moment, wo mein armes Frauchen unter ihrem bösen Nervenleiden buchstäblich zusammenbrach, da zeigte es sich, was wir an unserer Agnes hatten – sie ließ ihre prächtige Stellung in Frankfurt im Stich und kam hierher in die Einsamkeit, um die kranke Tante zu pflegen.«[85]

»Agnes ist ein Engel – sie opfert sich für uns auf,« sagte die alte Dame erregt und so hastig, als gelte es, den Augenblick zu benutzen, um die Verdienste des Mädchens in das rechte Licht zu ziehen. »Sie hat ein Joch auf sich genommen, das –«

»Nun, mein Herzchen, so gar haarsträubend ist's denn doch nicht!« unterbrach sie der Amtmann mit einem unruhigen Blick. Er bog sich weg und sah nach dem Nähtisch, welcher in einem der Fenster stand. »Hm – Hut und Handschuhe sind fort! Sie wird wohl wieder einmal im Walde auf der Blumensuche sein. Ich hätte mir gern die Freude gemacht, sie Ihnen vorzustellen. – So in Saus und Braus wie beim General von Guseck lebt sie in unserem Hause allerdings nicht, indes –«

»Die junge Dame mag in ihrer Stellung wohl recht verwöhnt worden sein!« warf Herr Markus mit einem leisen, maliziösen Lächeln ein.

»Verwöhnt, wie die Dame des Hauses selbst, bestätigte der Amtmann. Denken Sie sich doch: brillantes Theater, Diners, Soireen, eigene Kammerjungfer, Ausfahrten in eleganter Equipage;« – er zählte alles an den Fingern her – »sie ist sehr hübsch, eine Dame comme il faut, spielt wundervoll Klavier – Herr Gott, wie mich das immer wieder wurmt!« unterbrach er sich selbst. »Ich hatte in Gelsungen einen Flügel, ein Instrument, das mich seine runden tausend Thaler gekostet hat – mancher berühmte Virtuose hat in meinen Soireen darauf gespielt – jetzt steht's bei einem reich gewordenen Leimfabrikanten, und ein halb Dutzend junger Leimsiedersprossen klimpert drauf herum ... Ja, was half's denn aber? Ich mußte es hingeben. Sagen Sie doch selbst, wo hätte ich denn hier das Prachtinstrument aufstellen sollen? ... Ich wünschte nur, Sie hätten einmal diese Tonfülle gehört! Unter den Händen meiner Nichte klang der Flügel geradezu erschütternd; selbst ihren Fingerübungen konnte ich mit Genuß zuhören – ah, Sie sind kein Freund davon?« fragte er – der spöttische Ausdruck im Gesicht des Gutsherrn war drastisch lesbar geworden.

»Nein,« versicherte dieser unumwunden. »Die Zahl der klavierspielenden Damen ist Legion. Nach jedem Diner, in jeder Abendgesellschaft ist der unglückliche Marterkasten die schließliche Zugabe. Ich bin gewohnt, nach meinem Hut zu greifen, sobald sich eine Dame an das Klavier setzt.«

Der Amtmann lachte gezwungen auf, während seine Frau sehr ernst sagte: »Glauben Sie mir, auch wenn man uns das[86] Instrument gelassen hätte, Sie würden bei uns nie gezwungen sein, einer aufdringlichen Produktion auszuweichen ... Unser liebes Kind sucht auch nicht im einseitigen Virtuosentum seinen eigentlichen Beruf, seine Lebensaufgabe –«

»Aber, liebes Herz, ich sagte es ja schon, daß Agnes auch eine Malerin par excellence ist!« fiel der Amtmann hastig, in sichtlicher Ungeduld ein.

»Sie weiß auch Bescheid in Küche und Keller,« fuhr sie fort – man sah, es kostete sie einen inneren Kampf, noch etwas zu sagen, nachdem ihr Mann ihr so apodiktisch das Wort abgeschnitten; aber sie that es, und zwar mit etwas erhobener Stimme und hörbarem Nachdruck.

»Ich begreife dich nicht, Sannchen!« unterbrach er sie abermals. Eine starke Röte stieg in sein Gesicht, während er sich, geärgert, unter einer Grimasse die Kniee rieb. »Liegt dir denn gar so viel daran, die Agnes, die Tochter eines höheren Offiziers, eine Franz, mit aller Gewalt als Aschenputtel, respektive Küchendragoner hinzustellen? – Sollte mir leid thun um mein Geld, wenn sie es nicht weiter gebracht hätte! ... Apropos, Herr Markus,« brach er das Thema gewaltsam ab, »wie lange gedenken Sie noch im Hirschwinkel zu bleiben?«

»Nur wenige Tage.«

Es schien, als atme der alte Herr erleichtert auf; gleichwohl wiederholte er stirnrunzelnd, in mißvergnügtem Ton: »Wenige Tage?! ... Hm, da werden wir wohl die Freude nicht noch einmal haben, Sie bei uns zu sehen, und ich bin gezwungen, da mir mein unglückliches Piedestal keinen Gegenbesuch auf dem Gute gestattet, den günstigen Moment beim Zipfel zu nehmen und Sie um einen mündlichen Bescheid auf mein Schreiben zu bitten. Kurz heraus: Wie steht's mit der Eisenbahnfrage? – Sie werden sich nun selbst überzeugt haben, in welch desolatem Zustand die Vorwerksbaulichkeiten sind – da hilft schon längst kein Flicken mehr. Und vollends die alte Bude, in der wir hausen, die reißt und kracht bei jedem Windstoß in allen Fugen – sie prasselt beim ersten Vorbeipassieren der Lokomotive zusammen, so gewiß, wie zweimal zwei vier ist!«

»Dann thut man am besten, sie vorher niederzureißen –«

»Herr!« – fuhr der Amtmann empor – es sah fast aus, als wolle er dem gleichmütigen Redner an die Kehle fahren, während die Kranke mit einem Schreckenslaut flehend die Arme hob – »Herr, das heißt mit anderen Worten, Sie wollen mich an die Luft setzen!«[87]

Herr Markus ergriff beschwichtigend die Linke der alten Dame. »Wie mögen Sie darüber so sehr erschrecken, gnädige Frau ...« sagte er. »Ist Ihnen dieses Haus, das unleugbar dem Einsturz nahe ist, so lieb, daß Sie kein anderes an seiner Stelle sehen möchten? ... Ich baue auch die Schneidemühle vom Grunde aus neu auf; es bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich nicht will, daß sie eines Tages meinen Pachter unter sich begräbt. Und hier läßt sich ein Neubau viel leichter und rascher bewerkstelligen, als dort am Wasser ... Ich verspreche Ihnen, es soll ein hübsches, bequemes Haus mit gesunden luftigen Räumen, Veranda und Sicherheitsläden werden. Wir rücken es um mindestens dreißig Schritt weit aus der lästigen Nähe der Schienen, verlegen die Stallungen an seine Nordseite und den Hof hinter die Gebäude, zu welchem Zweck selbstverständlich ein beträchtliches Stück Fichtengehölz wegrasiert werden muß ... Es ist nicht mehr als billig, daß ich Ihnen für die Dauer des Umbaues ein anständiges Logement verschaffe, und deshalb bitte ich Sie, Ihr Zelt im Gutshause aufzuschlagen. Die Hälfte der oberen Etage stelle ich Ihnen zur unumschränkten Verfügung – ich glaube, die Wohnräume Ihrer lieben verstorbenen Freundin werden Sie anheimeln und Ihnen genügen, bis Sie – ich hoffe ganz gewiß mit Anfang Mai nächsten Jahres – auf das Vorwerk zurückkehren können. Sind Sie damit einverstanden?«

Sie versuchte, bitterlich weinend und vollkommen sprachlos, seine Hand, die ihre Linke noch umschlossen hielt, an die Lippen zu ziehen, was der junge Mann erschrocken abwehrte.

»Nein, nein,« sagte er verlegen errötend, »danken Sie mir nicht! Nehmen Sie das, was ich thue, als einen letzten Gruß der edlen Heimgegangenen von jenseits herüber! –«

Auch der Amtmann schien bis zur Wortlosigkeit überrascht zu sein; auch ihn mochte es drängen, dankend nach der Hand des jungen Mannes zu fassen; aber bei den letzten Worten desselben stutzte er und horchte auf. Er zog die Hand zurück, und in seiner schlauen Miene konnte auch ein nicht sehr Kundiger lesen, daß ihm plötzlich ein Licht aufgehe, daß ihm der Gedanke komme, hinter dieser unglaublichen Großmut »müsse etwas stecken«. – Er war einer jener brüsken, unzerstörbaren selbstbewußten Naturen, die es nie zugeben, daß sie Macht und Ansehen selbst verspielt haben – sie suchen sich jeder Situation sofort herrisch zu bemächtigen, wenn ihnen auch nur zollbreit Luft und Raum gelassen wird.[88]

»Ach ja, unsere teure Freundin,« sprach er mit kühler Ruhe und vornehm reservierter Haltung, »sie hat recht wohl zu schätzen gewußt, was wir ihr zu allen Zeiten gewesen sind! Wir haben von der Ferne aus Freud und Leid redlich mit ihr getragen und schließlich die traurige Einsamkeit des Hirschwinkels gerne mit ihr geteilt ... Ich bin so manchesmal durch Wind und Wetter gelaufen, um ihr mit einer Partie Schach die langweiligen Winterabende zu verkürzen – und Schach ist durchaus nicht meine Passion, müssen Sie wissen, Herr – im Gegenteil! Aber solch ein Opfer bringt man ja herzlich gern, zumal einer Frau, die hingebende Freundschaft so zu würdigen wußte, wie unsere gute selige Oberforstmeisterin.«

»Sie hat mehr für uns gethan, als das ganze Heer von Freunden zusammengenommen, das sich einst um unsere Speise- und Spieltische zu scharen pflegte,« schaltete die Frau im Bette schüchtern, mit bebender Stimme ein.

»Nicht bitter werden, liebes Herz; auf alle diese Braven lasse ich nun einmal nichts kommen! Aber du hast recht – Klotilde war von Herzen dankbar und wäre unbestritten noch viel weiter gegangen, wenn wir im leichtbegreiflichen Zartgefühl nicht immer abgewehrt hätten.« – Er zuckte die Achseln. – »Je nun, es hat so sein sollen – der Tod ist ihr über den Hals gekommen, sie wußte nicht wie, sonst – wäre wohl manches ganz, ganz anders!«

Herr Markus wandte sich unwillig weg von dem anmaßenden Schwätzer, der ihm, nur wenig verblümt, in das Gesicht hinein sagte, daß eigentlich er von Rechts wegen jetzt der Gutsherr im Hirschwinkel sei, wäre er nicht ein Pechvogel gewesen, dem das jähe Ende der früheren Besitzerin seine auf gebrachte Opfer wohlbegründeten Ansprüche vernichtet habe ... Eine scharfe Antwort drängte sich auf die Lippen des jungen Mannes; allein im Hinblick auf die sichtlich alterierte Kranke, die beweglich, mit angstvoll flehendem Blick seine Augen suchte, bezwang er sich und entgegnete gelassen: »Soviel ich durch ihren langjährigen Rechtsbeistand weiß, hat sich meine Tante zeitlebens nur als die Verwalterin dessen angesehen, was ihr Mann hinterlassen. Einzig aus diesem Grunde hat sie auch durchaus nicht testamentarisch über das Gut verfügt.«

»Ja, ja – Sie mögen recht haben – ja, ja!« stotterte der Amtmann. Er duckte sich plötzlich ganz kleinlaut in seinem Lehnstuhl zusammen. »Ich erinnere mich auch, dergleichen Aussprüche aus ihrem Munde gehört zu haben. Es ist deshalb nur anzuerkennen, daß Sie die vieljährige innige Beziehung zwischen[89] ihr und uns nicht ganz ignorieren ... Nun denn, ich nehme Ihr freundliches Anerbieten, einstweilen in das Gutshaus überzusiedeln, mit bestem Dank an; aber – ich bitte Sie – was soll inzwischen aus meinem Viehstand werden?«

Es war schwer, dieser lächerlichen Aufgeblasenheit gegenüber ernst zu bleiben. »Nun,« sagte Herr Markus, indem er sich an seinem aufgesprungenen Handschuhknopf zu schaffen machte, »ich meine, vorhin im Vorübergehen eine Kuh im Stalle gesehen zu haben –«

»Ja, ja – ganz recht, augenblicklich, Herr Markus! – Ich war vor kurzem gezwungen, dem Fleischer zwei prächtige Schweizerkühe ans Messer zu liefern – eine schwere Heimsuchung für einen Oekonomen! Ich bin überhaupt schlimm dran, bester Herr! Es steht draußen nicht alles so, wie es sein sollte, das weiß niemand besser als ich; aber mir fehlt ein Knecht. Ich habe nach allen Himmelsgegenden geschrieben – einen hiesigen will ich um keinen Preis, das Volk taugt den Teufel nichts – habe Lohn über Lohn geboten; aber den Lumpen ist's zu einsam hier, es will absolut keiner in den Hirschwinkel!«

»Lassen Sie mich einmal den Versuch machen, vielleicht habe ich mehr Glück,« versetzte der Gutsherr. »Die Kuh stellen wir auf dem Gute ein, und das Geflügel kann auch drüben auf dem Hofe mit durchgefüttert werden. Mit Vollendung des Neubaues aber muß alles wieder im alten Geleise sein – d.h. das nötige Vieh in den Ställen und die erforderliche Menschenkraft und Hilfe zur sorgfältigen Bewirtschaftung des Pachthofes, wenn er nicht total zu Grunde gehen soll. Ich werde für alles Sorge tragen, auch dafür, daß der Knecht möglichst bald eintritt, der Ernte wegen. Selbstverständlich« – der Knopf am Handschuh schien sich absolut nicht fügen zu wollen, der Sprechende wandte ihm seine ganze Aufmerksamkeit zu – »selbstverständlich brauchen wir auch noch eine Magd, ein echtes, rechtes Bauernmädchen, das tüchtig mit eingreift ... Das Mädchen, das jetzt auf den Vorwerkswiesen hantiert, ist doch wohl ursprünglich nicht zu diesem Zweck engagiert worden?«

Die Kranke legte die abgezehrte, blasse Hand über die Augen, als überkomme sie eine momentane Schwäche, und der Amtmann hatte in diesem Augenblick einen so krampfhaften Hustenanfall, daß er ganz blaurot im Gesicht wurde.

Der Gutsherr aber brannte förmlich darauf, etwas Näheres über das Mädchen zu hören; er hielt den günstigen Moment unerbittlich fest, trotz Schwäche und Stickanfall des alten Ehepaares.[90] »Wie man mir sagte, ist sie ein Stadtkind, oder hat zuletzt in einer größeren Stadt gedient?« forschte er hartnäckig weiter.

»Ja, sie war in Frankfurt am Main,« antwortete die alte Dame. Ihre Rechte war von den Augen auf die Bettdecke gesunken und pflückte an dem Ueberzug. »Sie ist allerdings nicht für eine solche Thätigkeit erzogen, ach, nichts weniger als das! Lieber Herr –«

»Und deshalb sind wir Ihnen sehr zu Danke verpflichtet, wenn Sie uns eine richtige, tüchtige Bauernmagd verschaffen wollten,« fiel der Amtmann mit erhöhter Stimme ein. »Also, bis wann denken Sie mit dem Neubau zu beginnen, Herr Markus?«

»Ich will mich sofort mit einem Baumeister der nächsten Stadt ins Einvernehmen setzen,« entgegnete der Angeredete, sich erhebend – es lag eine tiefe Falte des Mißmutes, ja, eines gründlichen Aergers, zwischen seinen Brauen – »und werde später nicht verfehlen, Ihnen den Bauriß vorzulegen.«

»Gottes Segen über Sie! Sie sind ein edler Mann!« rief ihm die Kranke in tiefster Bewegung zu, während er sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung von ihr verabschiedete, um das Zimmer zu verlassen.

Der Amtmann bestand darauf, ihn hinaus zu begleiten. Draußen in der Hausflur hielt er ihn mit geheimnisvoller Miene fest.

»Es ist alles sehr schön und liebenswürdig, was Sie da für uns thun wollen,« raunte er ihm mit gedämpfter Stimme zu. »Und ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür; aber denken Sie ja nicht, daß Sie dabei irgend etwas riskieren – es wird alles bei Heller und Pfennig ausgeglichen werden, Sie kommen nicht um Ihr Geld, dafür stehe ich! ... Sehen Sie, drin durfte ich nichts sagen – meine Frau weint sich noch die Augen aus vor Sehnsucht nach ihrem Jungen – das ist ein gar heikles Thema bei uns. Solch ein närrisches Weibchen! Und wenn er zerlumpt und zerrissen heimkäme, sie wäre doch selig, ihn wieder zu haben – so sind die Frauen, und in solchen Dingen muß der Vater den Kopf oben behalten. Ich werde doch wahrhaftig meinen Sohn nicht vorzeitig und um dieser Grillen wegen aus seiner Karriere reißen! Er hat großes Glück gehabt, der Thunichtgut, dem's zu Hause, in der schönen Thüringer Heimat, zu enge war – der junge Bengel ist schon jetzt so eine Art Nabob; noch ein, zwei Jährchen, da frage ich Serenissimus schlankweg, was seine Gelsunger Domäne kostet –«

»Ei, du Sackermenter, willst du gleich 'runtergehen!« unterbrach[91] er sich, riß sein Käppchen von dem kahlen Schädel und warf es in die offenstehende Küche nach einer Katze, die eben auf den Tisch gesprungen war, um eine der Tauben zu annektieren.

Er humpelte hinein und jagte das Tier mit dem Stocke in den Hof, worauf er die Küche verschloß. Sie war noch leer. Ueber dem Suppentopf kräuselte kein Dampfwölkchen – das Herdfeuer war offenbar längst ausgegangen.

»Was das nun wieder für Dummheiten sind!« brummte der Amtmann, rot vor Aerger und Alteration. »Und wenn man zehn Dienstboten hält und bezahlt, sie lassen, eine wie die andere, Thür und Angel offen und sieden und braten für die Katze, was man für sein teures Geld anschafft ... Um ein Haar wären wir um unser Diner gekommen! – Dummes Zeug! – Wo sie nur wieder einmal steckt!«

Ja – wo mochte sie sich wohl versteckt halten? dachte auch Herr Markus ergrimmt, nachdem er sich vom Amtmann verabschiedet hatte und über den Hof nach dem Garten schritt, um auf dem Weg, den er gekommen, nach dem Gute zurückzukehren. Er warf einen bösen Blick hinauf nach dem Mansardenfenster, wo sich eben wieder der Mullvorhang wie ein Sommerwölkchen in den blauen Lüften wiegte. – Höchst wahrscheinlich hatte sie sich zu Fräulein Gouvernante geflüchtet, und zwei Mädchenköpfe sahen ihm nun verstohlen und hohnlächelnd nach ... Es war doch stark, daß sie die kärgliche Mahlzeit ihrer Herrschaft achtlos preisgab[92] und sich die schärfsten Verweise derselben zuzog, nur um ihm nicht wieder in den Weg zu kommen ...

Im Garten war es auch still und einsam. Die brütenden Grasmücken zwitscherten leise in dem Gebüsch, durch welches vor einer halben Stunde die vermeintliche weiße Dame gekommen war, um eiligst die nötigen Küchenkräuter abzuschneiden. Noch lagen die ihr im raschen Lauf entfallenen grünen Stengel über den Weg verstreut; es war offenbar kein Fuß wieder darüber hingeschritten. Und in der Lindenlaube konnte Herr Markus das Schreibheft dreist in die Hand nehmen – es war weit und breit kein Menschenauge, um zu sehen, wie er ironisch lächelte.

Die ersten Seiten des kleinen Buches waren richtig bedeckt mit dem zierlichen Geschreibsel derselben Feder, in welche der Amtmann seinen herausfordernden Brief diktiert hatte. Es waren aber keine Verse, nur abgerissene Gedanken, wie sie der Augenblick eingegeben haben mochte, Ansichten und Aussprüche eines klaren, wohlgeordneten Mädchenkopfes. – Diese Blattseiten waren eigentlich ein günstiges Charakterzeugnis für die Schreiberin. Wie sie plötzlich ihre angenehme Stellung aufgegeben, um Krankenpflegerin zu werden, so hatte sie auch diese nicht absolut notwendigen, poetischen Seelenergüsse mit dem pünktlich geführten, kärglichen Einnahmeregister des verarmten Onkels ohne Zaudern vertauscht ... Wie aber reimte sich diese resolute Handlungsweise mit dem Gebaren der jungen Dame zusammen, die sich nach wie vor von der Kammerjungfer wie eine Prinzessin bedienen ließ?

Er zerknitterte im Unwillen das unschuldige Schreibheft in seiner Hand – aber er hatte auch alle Ursache, erregt zu sein. In welches Dilemma war sein sonst so ruhiger Kopf geraten! Er, dem sonst der heitere Lebensgenuß das Dasein ausfüllte, der daheim pünktlich und voll frischen Eifers seinen Obliegenheiten am Kontorschreibtisch nachkam, um sich dann in den Erholungsstunden voll Lust in den Strom schöner Seelenergüsse zu werfen, dem bis dahin nichts die Wohlthat des süßen Schlafes, den Vorzug eines gesunden Appetites zu rauben vermocht hatte, ihm war jetzt der ursprünglich so anziehende Landaufenthalt verdorben durch aufdringliche Grübeleien, die sich absolut nicht abweisen ließen – er schob Frau Griebels Delikatessen widerwillig beiseite und hatte heute morgen schlaflos den Kopf in den heißen Kissen hin und her geworfen, noch bevor die Haushähne auf dem Hinterhof ihre grellen Morgenfanfaren in das dunkelverhangene Schlafzimmer geschickt hatten.[93]

Dieses Vorwerk, dieses alte Wrack mit der mystischen Dame Gouvernante und dem halbtollen Aufschneider, dem Amtmann, das Mädchen mit dem Sphinxgesicht und der edelschönen Gestalt im armseligen Arbeitskittel, das ihn reizte und ärgerte, wie es noch niemand vermocht, und den »humanen, wißbegierigen« Forstwärter, den unausstehlichen Menschen, der seine Fangarme begehrlich nach ihr ausstreckte – er wünschte sie samt und sonders in das Mohrenland, um der Unruhe willen, die ihn peinigte, und welche er doch mit aller Zorngewalt nicht abzuschütteln vermochte.

Heute noch wollte er in die Stadt fahren und mit dem Baumeister, der auch den Neubau der Schneidemühle übernehmen sollte, eingehend beraten. Der Riß des neuen Vorwerkshauses konnte schon in den nächsten Tagen in seinen Händen sein, ebenso der Baukontrakt, behufs der Abschließung. Alles andere durfte er getrost in Pachter Griebels Hände und die seiner wackeren Frau legen – das Engagement des neuen Gesindes, die einstweilige Uebersiedelung der Amtmannsfamilie in das Gutshaus, den späteren Ankauf des Viehstandes. – Zu diesen Anordnungen bedurfte es nur weniger Tage, dann – wollte er den Staub von den Füßen schütteln und in Jahr und Tag den Hirschwinkel nicht wiedersehen ... Einstweilen blieb die letztwillige Verfügung im Notizbuch der seligen Frau Oberforstmeisterin sein Geheimnis, bis er wieder ruhig geworden war und es sich im Lauf der Zeit herausgestellt hatte, wessen Obhut die sorgenfreie Existenz der kranken Frau auf dem Vorwerk anvertraut werden durfte. –

Er warf das Schreibheft auf den Steintisch und verließ den Garten, dessen altes, ausgedientes Gitterthürchen mit schwachem Geseufze hinter ihm zufiel. Mit diesem leisen, lebensmüden Geräusch wähnte er die direkte Beziehung zu den Menschen, die er da zurückließ, nunmehr abgeschlossen. Er war weit entfernt davon, sich einzugestehen, daß er sich ja selbst kopfüber in die fremden Verhältnisse gestürzt habe, und allein schuld sei, wenn die Webefäden fremden Geschickes sich an ihm festklammerten, wie in diesem Augenblick die zähen, kriechenden Queckenranken, die ihn auf dem wenig beschrittenen, grasigen Wege als lebendige Fußangeln umstrickten, und deren er sich nur erwehren konnte, indem er sie zertrat ...[94]

Quelle:
Eugenie Marlitt: Gesammelte Romane und Novellen. Band 10, Leipzig 21900, S. 84-95.
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