I.

[328] Die Nachmittagsschule war aus, und die kleinen sechs- bis siebenjährigen A-B-C-Schützen rutschten fröhlich von ihren Bänken, um die unliebsame Gefangenschaft mit der goldenen Freiheit zu vertauschen.

Der Lehrer hatte sich an die Thür postirt, um sich die schüchternen Händchen zum Abschiede darreichen zu lassen.

»Fährmann's Paul, Deine Hand mag ich nicht!« wies er einen strammen, schwarzäugigen Lockenkopf zurück, welcher ihm mit offenem Lächeln die Finger der ausgespreizten Rechten entgegenstreckte.[328]

Der Kleine zog die Hand zurück und sah ihn fragend an.

»Hast Du Dich gewaschen?«

»Nein.«

»Heut' nicht?«

»Nein.«

»Gestern auch nicht?«

»Nein.«

»Wann denn?«

»Gar nicht.«

»Und gekämmt auch nicht?«

»Nein.«

Er schüttelte dabei langsam den Kopf und machte eine Miene, welche deutlich besagte, daß er sich gar nicht recht erklären könne, warum irgend Jemand gewaschen und gekämmt sein müsse.

»Sieh' einmal Deine Finger an, Paul; die kleben ja vor Schmutz; an Deine Füße ist der Schlamm gebacken, und in den Haaren hängt das Heu und Stroh. Schläfst Du denn auch so?«

»Ja.«

»Im Bette?«

»Nein.«

»Wo denn?«

»Im Kuhstalle und – und auf dem Heuboden.«

»Was?! Der Fährmann's Paul schläft im Kuhstalle?« Der gute Mann konnte nicht begreifen, warum der reichste Junge im Dorfe kein anderes und besseres Lager habe. »Und schau, wie Deine Hosen zerrissen sind, und die Jacke auch! So darfst Du mir nicht wiederkommen, sonst bist Du ja der echte Struwelpeter! Sag's Deiner Mutter, sie soll Dich reinlicher in die Schule schicken!«

Die rothen Wangen des Getadelten färbten sich jetzt noch tiefer, und seine hellen Augen wurden feucht. Mit gesenktem Kopfe schlich er sich auf die Straße, wo die Anderen sich mit theilnehmender Miene um ihn schaarten. Nur Einer schien sich über den Verweis zu freuen.

»Der Fährmann's Paul ist der Struwelpeter,« rief er; »er darf nimmer so in die Schule!«

Im nächsten Augenblicke hatte der Beleidigte seine Schiefertafel auf die Erde gelegt, packte den Spötter, warf ihn zu Boden und gab ihm ein paar Ohrfeigen, daß es schallte.

»Da hast den Lohn, Du Galgendieb!« meinte er dann ruhig, indem er seine Habseligkeiten wieder an sich nahm. »Du bist ein Schimpfmaul und darfst nimmer mit uns spielen!«

Der kleine Goliath erhielt weder Abwehr, noch Gegenrede, und das hatte seine Gründe. Der Fährmann's Paul war gar hoch angesehen bei Seinesgleichen; er fürchtete sich vor keiner Gans und vor keinem Hunde; er riß sogar vor keinem Pferde aus, und was das Beste war, er konnte so unbeschreiblich schön spielen und sann sich immer neue Dinge aus, an die selbst der Herr Lehrer gar nie gedacht hätte. Darum war er der Hauptmann von der Löffelgarde, und es gab kein größeres Unglück, als wenn er Einem das Mitthun verbot.

Heute ging es gar nicht so lustig, wie sonst, auf dem Nachhausewege her. Der Paul war ganz tiefsinnig und gab fast gar keine Antwort auf die Reden, die ihm angeboten wurden. Erst am Thore seiner elterlichen Wohnung schien er sich auf das Versäumte zu besinnen.

»Geht heim und holt Euch Euer Vesperbrod,« befahl er. »Nachher kommt Ihr nach dem Sandloche und bringt die Gewehre mit; wir machen Räubers!«

Langsam, als sei der Weg ein schwerer für ihn, ging er nach der Stube. Das Gesinde saß beim Nachmittagskaffee; am Fenster arbeitete eine Nähterin emsig an einem buntseidenen Rocke, und in Mitten des Zimmes standen zwei riesige Backtröge auf vier Stühlen. Die Bäuerin hatte übermorgen Hochzeit; d'rum gab es jetzt zu backen und so viel zu schanzen und zu schaffen, daß man den Schweiß, der ihr auf der Stirn stand, recht wohl begreiflich finden mußte.

Sie war ein schönes Weib. Die dichten, pechschwarzen Flechten hatten sich gelockert und hingen ihr lang über den Nacken hinab; das Gesicht war voll und frisch, wie das eines jungen Mädchens; die dunkeln Augen blitzten mit lebhaftem Feuer unter den beredten Wimpern hervor; die kirschrothen Lippen ließen beim Sprechen zwei Reihen kleiner, glänzend weißer Zähne erblicken, und wie sie, hoch aufgeschürzt und mit emporgestreiften Aermeln, so vor dem Teige stand und gewandt und kräftig mit den schweren Gefäßen spielte, hätte selbst der schmuckeste Jungbursche nicht so leicht das Auge von ihr wenden können.

»Mutter, ich habe Hunger!« bat schüchtern der Kleine.

»Hab' keine Zeit für Dich, Du Strolch!« antwortete sie in einem Tone, als habe ein fremdes Bettelkind sie angesprochen. »Wart' bis zum Abende und geh' jetzt gleich hinaus; hier findest keinen Raum!«

Der Knabe warf einen langen Blick auf die großen Schüsseln voll Rosinen, Butter und sonstigen Backerfordernissen, welche so appetitlich vor ihm standen, und sah dann sehnsüchtig nach dem Tische hinüber.

»Komm her, Paul,« meinte leise eine der Mägde; »hier hast ein Stückle Brod!«

Er nahm die trockene Schnitte mit dankbarem Lächeln in Empfang und schickte sich an, die Stube zu verlassen, kehrte aber noch einmal zögernd um.

»Mutter, der Herr Lehrer sagt, ich muß gewaschen werden und gekämmt. Auch das Kleid ist zerrissen. Ich darf so nicht wiederkommen!«

»Was sagt der Lehrer?« fragte sie, zornig aufblickend. »Willst gleich hinaus und Dich von ihm selber balsamiren lassen! Mir fehlt grad' noch, daß ich mich mit dem Schmutzvolk abzugeben hab'!«

»Ich bin der Struwelpeter geschimpft worden auf der Gasse!« wagte er hinzuzufügen.

»Das bist auch richtig, Du widerwärtiger Fink! Geh' fort; ich schäme mich, wenn ich Dich nur seh'!«

Er blickte verlegen vor sich nieder und schlich sich dann nach dem Ofen, hinter welchem der Kamm zu finden war.

»Was willst da hinten? Willst wohl noch auch den Kamm verschimpfiren und zerbrechen? Mach' Dich nur schnell hinweg, sonst sorg' ich für flinke Beine!«

Mit drohend erhobener Hand trat sie auf ihn zu. Er floh bis an die Thür, wo er im Gefühle des Unrechtes, welches ihm geschah, die muthige Bemerkung machte:

»So geh' ich zur Großmutter. Die Lindenbäurin wird mich waschen!«

Er kam nicht zur Thür hinaus. Sie war rasch auf ihn zu getreten und schlug ihm die vom Teige beklebte Hand in das Gesicht, daß er kopfüber zu Boden stürzte.

»Was willst thun? Zum Lindenhof willst geh'n, zur alten Fährmann'sher', und Dich von der schönen Minna streicheln lassen? Hier hast Eins; das ist genug für Dich! Nun leck' den Teig ab; weiter bekommst doch nichts zur Hochzeit! Und wenn ich hör', daß Du wirklich dort gewesen bist, so nehm' ich Dich noch anders vor!«

Sie öffnete die Thür und stieß ihn hinaus, daß er an die gegenüberliegende Wand taumelte und auf die harte Steinplatte niederstürzte. Er raffte sich lautlos wieder empor und hinkte nach dem Stalle, in dessen hinterster Ecke sich ein Lager von Strohgewirr befand, unter welches er seine Schulrequisiten verbarg. Nachdem er sein Stückchen Brod mit sichtlichem Appetite verzehrt hatte, zog er aus dem Stroh einen hölzernen Säbel, welchen er umgürtete, und eine Flinte hervor, schwang sie mit selbstbewußter, trotziger Miene auf die Schulter und marschirte dem Orte zu, nach welchem er die Spielkameraden bestellt hatte.

Sie waren schon in voller Thätigkeit und hatten sich in Räuber und Soldaten getheilt, welche Ersteren von den Letzteren gefangen genommen werden mußten. Die Verbrecher waren bisher im Nachtheile gewesen, so daß sich die Mehrzahl von ihnen schon in Gefangenschaft befand. Als sie den Kommenden erblickten, jubelten sie ihm freudig entgegen.

»Jetzt ist der Hauptmann da,« rief Einer; »der bringt die große Flint' und wird uns frei machen! Schieß', Paul; dann reißen wir aus!«

»Bleibt nur immer ruhig steh'n, bis ich sie All' zu Tode getroffen hab'; ausgerissen aber wird nicht vor dem Soldatenvolk. Das wär' die größte Schand' für uns. Wer ist der oberste Corporal?«[329]

»Ich!« antwortete der Betreffende mit wichtigem Gesichte.

»So kommst Du grad' zuerst daran. Paß auf; wenn ich losdrück', so mußt Du hinfallen und liegen bleiben, bis wir gewonnen haben!«

Hier gab es keine Widerrede. Das war schon hundert Male so gewesen, und der Fährmann's Paul litt keinen Ungehorsam. Er schoß die Soldaten alle todt und ließ sie erst wieder lebendig werden, als ein neues Spiel begann.

»Ich thu' auch mit!« meinte da ein neu Herbeigetretener. Es war Derjenige, welcher nach der Schule eine so schnelle Bestrafung gefunden hatte.

»Nein, Du bleibst davon!« wies ihn Paul zurück. »Mit Dir ist's aus für immer. Wer schimpft, der taugt zu keinem Soldaten und zu einem Räuber vollends gar nicht. Ich mag Dich auch gar nicht frei machen, wenn sie Dich eingesteckt haben!«

»Da wärst Du auch der Richtige!« klang die geringschätzige Antwort. »Du kannst ja nicht einmal Deinen Vater frei machen! Er ist auch ein Räuber. Er hat die Truhe ausgeleert und sitzt nun im Zuchthaus. Schieß' ihn doch heraus, wenn Du's vermagst, Fährmann's Paul!«

Er hatte kaum ausgesprochen, so fuhr ihm die Flinte des kleinen Anführers an den Kopf.

»Da hast noch Eins, Du böser Bub', der Du bist! Mein Vater ist der Best' im ganzen Dorf; er ist viel besser noch, als Deiner. Er hat das Geld nicht genommen; er ist unschuldig eingesteckt; die Großmutter sagt's und die Minna auch. Und wenn ich will, da bring' ich ihn schon frei. Ich will Dir's gleich einmal zeigen!«

Er rief die Knaben alle herbei.

»Hört, wir spielen jetzt das Zuchthaus! Das ist noch nicht dagewesen und wird Euch gern gefallen. Ich bin einmal mit der Großmutter dort gewesen und hab' Alles gesehen, wie es ist. Dort ist das Haus, hier kommt die Mauer, und da geht es hinein in den Graben, wo das Kraut und der Salat gewachsen ist. Da haben wir den Vater d'rin gesehen, als wir vorüber gegangen sind. Sie schnitten Pflanzen heraus, und die Soldaten haben mit dem Gewehre dabei gestanden, damit Keiner davonspringen konnt'. Nun sollt Ihr seh'n, wie's geht! Macht Euch auseinander. So! Ihr seid die Soldaten, und Ihr müßt die Gefangenen machen; Du bist der Vater, und nun kann die Sach' beginnen. Ich werd' gleich laden und Alles niederschießen. Und wenn ich keine Kugel mehr hab', so schlag' ich mit dem Kolben d'rein, wie's der Vater gemacht hat, als er im Krieg gewesen ist. Der wartet auch gar nicht, bis ich gesiegt hab'; er ist stärker als alle Soldaten und macht sich los, sobald er mich nur sieht. So mußt Du's auch thun! Nun geht; der Anfang kann beginnen!«

Mit offenem Munde hatten sie der Erklärung des schönen, neuen Spieles gelauscht, und Jeder eilte jetzt auf seinen Posten. Die Flinte, welche der Paul von seinem Vater zum Geburtstage erhalten hatte, stand bei Allen in großem Respect. Man konnte wirklich mit ihr schießen, und so war ihr bei allen Unterhaltungen die erste Rolle zugetheilt. Die Befreiung des armen Gefangenen gefiel den Knaben so gut, daß sie immer von Neuem wiederholt wurde, bis die Zeit der Heimkehr herangekommen war. Da stellten sie sich in Reih' und Glied und marschirten nach dem Dorfe zurück.

Vor einem Gute stand eine alte, mächtige Linde. Unter ihr saßen zwei Frauen und schauten lächelnd auf den gravitätischen Zug.

»Ob der Paul nicht immer der Oberst' ist!« meinte die Jüngere, indem sie ihr gutes, blaues Auge auf die Aeltere richtete, die einen grünen Schirm über dem oberen Theile des Gesichtes trug und sich vorsichtig von den Strahlen der untergehenden Sonne gewendet hatte.

»Ich kann ihn auf so weit nicht genau erkennen. Ruf' ihn doch herbei, Minna!«

»Das ist gar nicht nöthig; er kommt schon ganz von selbst!«

Wirklich verabschiedete der Knabe die Genossen und stolzirte dann mit wichtiger Miene herbei.

»Großmutter, da bin ich! Ich hab' den Vater frei gemacht.«

»Wenn Du das könntest,« seufzte die Angeredete, »so wärst Du größer, als der Advocat, der uns nichts genützt hat, und als die Männer, die ihn festhalten!«

»Ich kann's, Großmutter. Ich hab's im Sandloch probirt und geh' bald nach der Stadt, um ihn heim zu bringen! Deshalb bekomm' ich auch ein Butterbrod, nicht wahr, Lindenbäurin?«

»Hast wohl Hunger?« fragte die Genannte.

»Großen; so groß wie noch nimmer!«

»Was hast denn heut' gegessen?«

»Heut' früh nichts, zu Mittag nichts und nach der Schul' ein Stückle Brod von der Magd. Die Mutter giebt mir nichts als Schläg' und Prügel. Sie kann mich nicht erseh'n, hat sie zum Reitercurt gesagt, weil ich grad' ausschau wie der Vater. Ich stand dabei und hab's vernommen. Nun mag ich sie auch nicht mehr leiden und geh' doch zu Dir, Minna, obgleich ich Straf' dafür bekomm'. Du bist mir lieber, als sie!«

Sie zog ihn liebkosend an sich.

»Du armer, armer Schelm! Du bist im reichen Fährmannshof das Aschenbrödel, das sich verkriechen muß und doch nicht fortgegeben wird. Aber ich thu' doch noch, was ich mir vorgenommen hab': ich geh' zum Richter, damit er Dich von der Rabenmutter wegnimmt und zu mir giebt. Uebermorgen bekommst gar den Stiefvater; wer weiß, wie Dir's von ihm ergeht!«

»Ich mag keinen Stiefvater! Ich leid' es nicht; ich werd' ihn mit der Flint' fortjagen!«

»Das mußt schon leiden, Paul; dagegen giebt's nun keine Hilf'. Aber ich laß Dich nicht daheim; ich hol' Dich her zu mir. Willst?«

»Ja; ich mag die Mutter nicht und auch den Reitercurt nicht, welcher sie beim Kopf faßt, wie der Vater. Er schaut mich so zornig an und schickt mich aus der Stub' und fort vom Tisch. D'rum bin ich ausgezogen und in den Stall gewichen. Gieb mir Brod, Minna, sonst muß ich weinen!«

»Komm herein, Kind; Du sollst vollauf haben, was Du begehrst!«

»Und waschen und kämmen mußt mich auch, sonst darf ich morgen nicht in die Schul'! Die Mutter wirft mich zur Thür hinaus, wenn ich sie darum bitt'.«

Die Großmutter erhob sich und trat in das Haus. Sie wollte die Thränen verbergen, welche ihr in den schmerzenden Augen standen. Die beiden Anderen folgten ihr nach.

Als der Knabe nach einiger Zeit wieder auf die Straße trat, hatte sich sein Aeußeres vortheilhaft verändert. Die Liebe, welcher er im Lindenhofe begegnete, glänzte in dem Sonnenscheine wieder, der auf seinem frohen, jetzt so sauberen Antlitze lag, und erwartungsvoll blickte er in die Fenster des Schulhauses, ob vielleicht an einem derselben der Lehrer stehe und die Besserung bemerke, die mit dem Struwelpeter vorgegangen war.

Zu Hause angekommen, trug er die Flinte in den Stall und nahm die Schiefertafel zur Hand. Draußen im Garten gab es hinter dem Hollunderbaume ein schönes Plätzchen, wo ihn beim Schreiben und Malen, was er so gern that, Niemand störte, und es war noch hell genug, um das Zuchthaus zu zeichnen mit den Soldaten und dem Vater, den er frei machen wollte. Dann konnte er auch wieder in der Kammer schlafen und mit den Anderen am Tische mit essen, brauchte keinen Hunger zu leiden, der so weh that, und bekam auch ganz gewiß keine Schläge mehr.

Er ging hinaus, kroch in sein Versteck, wo er oft schon halbe Tage lang gesessen hatte, ohne daß er bemerkt worden war, und arbeitete emsig an dem Bilde, welches es geben mußte, wenn er in den Graben stieg, um zum Vater zu kommen. Er war so vertieft in seinen kindlichen Plan, daß er die Zwei, welche nach ihm in den Garten getreten waren, nicht eher bemerkte, als bis er ihre Stimmen hörte.

Es war die Mutter mit dem Bräutigam. Sie hatte sich Zeit genommen, um einige Augenblicke mit ihm allein zu sein.

»Ich hab' von früh bis jetzt nach Dir ausgeschaut, ob Du kommen werdest,« meinte sie mit Vorwurf. »Wo bist denn nur herumgelaufen?«

»Ich war beim Bruder, der im Zuchthaus auf Commando steht. Ich muß ihn doch zur Hochzeit laden. Er hatte frei am[330] Vormittage und ließ mich gar nicht fort. Wir sind spaziren gewesen und auch um die Gefangenschaft 'rumgegangen. Weißt, wen ich da gesehen hab'?«

»Kann mir's schon denken!« antwortete sie kalt und wegwerfend.

»Er darf noch immer im Freien arbeiten und hat gar jämmerlich ausgeschaut. Wer gut gehorsam ist oder krank wird, der bekommt gar oft vom Director die Erlaubniß, mit an die frische Luft zu geh'n. Er hat lange in der Arzneistub' gelegen, sagt mein Bruder, und ist so herabgekommen, daß er das Dorf wohl gar nicht wieder zu sehen bekommt.«

»Das wär' das Best' für ihn und uns. Ich müßt' mich ja zu Tod schämen, wenn er wiederkäm'. Er war ein armer Schlucker, der nichts besaß, als was er auf dem Leib hatte; durch mich ist er reich geworden und so angesehen, daß er sogar mit in die große Actiengesellschaft kam und das Geld verwalten durfte. Das ist ihm in den Kopf gestiegen und hat ihn stolz und schlecht gemacht. Er hat mich nicht mehr auf den Tanz gelassen, weil es sich für eine ordentliche Frau nicht schickt, mit Jedem auf dem Saale herumzuschwenken, sagte er, und als ich ihn deshalb nicht mehr leiden konnt' und Dir gut geworden bin, da ist's vollends ganz aus gewesen. Nun hat er das Buch falsch gemacht und die Gesellschaft bestohlen und sitzt im Zuchthaus. Es ist ihm ganz recht; er mag nur immer sterben!«

Bei diesen harten Worten ließ sich ein unterdrücktes Schluchzen hinter dem Hollunder vernehmen. Es that dem Knaben weh, daß der Vater sterben sollte; er konnte seinen Schmerz nicht zurückhalten. Die Bauerin blickte durch die Zweige, faßte ihn bei den Haaren und zog ihn hervor.

»Was hast hier zu lauschen, Du heimtückischer Bub'! Willst wohl grad' so ein Wicht werden, wie Dein schöner Vater, der auch nichts lieber gethan hat, als mir nachzuschleichen und auf Schritt und Tritt mich auszuhorchen? Komm heraus und zeig', was Du thust!«

Sie riß ihm die Schiefertafel aus der Hand und betrachtete die seltsamen Hieroglyphen, welche er gezeichnet hatte.

»Was soll denn das vorstellen? Solch' dummes Zeug bekommt Ihr wohl in der Schul' gelehrt?«

»Das ist das Bild von dem Vater, wie ich ihn holen werd'!«

»Ach so,« lachte sie, »Du willst ihn herausbringen! Wie soll denn das gescheh'n, Du Dummhut, der Du bist?«

»Das ist nicht dumm!« vertheidigte er sich muthig. »Er darf nicht sterben; er muß heraus, und ich geh' und helfe ihm mit meiner Flint'! Ich hab's vorhin im Sandloch schon probirt; es geht ganz gut!«

»Im Sandloch hast Dich herumgewälzt, so wirst wohl wieder ausseh'n wie ein –.« Sie unterbrach sich; denn erst jetzt bemerkte sie, wie sauber er vor ihr stand. »Du bist gewaschen und apart gemacht! Wer hat das gethan?«

»Die Großmutter hat's gethan und die Lindenbäurin. Ich hab' sie d'rum gebeten, weil's der Herr Lehrer will, und auch mit dort gegessen.«

»So, also bist doch noch bei der schönen Minna gewesen! Hab' ich Dir's nicht verboten, Du widerwilliger Schlingel Du? – Curt, nimm ihn einmal vor; Du wirst der Vater und kannst gleich heut' beginnen!«

Der Bräutigam nickte zustimmend und langte nach dem Knaben. Die Husarenuniform, welche er trug, gab ihm ein gar stattliches Aussehen, und wer ihn nur nach seinem Aeußeren beurtheilte, brauchte sich nicht zu wundern, daß er der schönen Fährmannbäuerin lieber war, als ihr erster Mann, von dem sie sich hatte scheiden lassen, weil das Gericht eine mehrjährige Freiheitsentziehung über ihn verhängt hatte.

Paul wich um einige Schritte zurück.

»Mutter, schlag' Du mich lieber! Der Kurt ist nicht mein Vater; ich mag ihn nicht leiden!«

»Ach so, mein Junge, Du bist mir nicht gut?« meinte der Verschmähte. »Mir geht es mit Dir auch nicht anders; das hast wohl schon gemerkt, und ich will es Dir noch obendrein beweisen!«

Er faßte ihn, legte ihn über das Knie und machte von der ihm zugesprochenen väterlichen Gewalt einen so kräftigen Gebrauch, daß ihm die Bäuerin Einhalt that.

»Kurt, hör' auf; es ist genug für jetzt! Nun geh', Du Schlingel, und laß Dich heut' nicht wieder seh'n, sonst nehm' ich Dich noch selber vor!«

Der Knabe hatte keinen Laut von sich gegeben.

So wehe ihm die Schläge thaten, er wollte den Verhaßten keine Thräne sehen lassen und ging nach seinem Zufluchtsorte im Stalle.

Als die Leute beim Abendbrode saßen, so daß er ungesehen fortkommen konnte, nahm er seine Flinte und schlich sich über den Hof und hinaus auf die Gasse.

Es war mittlerweile dunkel geworden; er konnte unbeobachtet seinen Weg verfolgen, trabte das Dorf hinab und schlug den wohlbekannten Weg nach der Stadt ein, wo er früher öfters mit dem Vater gewesen war. Daheim war die Liebe für ihn erstorben; er wollte den holen, in dessen Herzen sie sicher mit ungeschwächter Stärke fortlebte, und seine kindliche Phantasie wußte nichts von einer Unmöglichkeit, seinen Plan auch auszuführen.

So wanderte er vorwärts, ruhte zuweilen aus und dachte mit seliger Freude an den Augenblick, der ihm den Vater wiedergeben werde. Sein Muth blieb trotz des weiten Weges sich immer gleich, bis er die einige Stunden von dem Dorfe entfernte Stadt erreichte.

Es war sehr spät, und nur hier und da schimmerte ihm ein einsames Licht entgegen. Er kannte die Gegend, in der das Schloß lag, welches jetzt als Landesstrafanstalt eingerichtet war; die Großmutter hatte es ihm gezeigt und war mit ihm um den Graben herumgegangen, der einst zur Befestigung des Platzes angelegt, jetzt aber mit allerlei Küchenpflanzen bebaut worden war. Hier hatte er den Vater gesehen, hier mußte er ihn auch wieder finden, so glaubte er und bog, als er die dunkle Masse des Schlosses sich seitwärts erheben sah, von der Straße ab.

Als er den Graben erreicht hatte, blieb er horchend stehen. Das unheimliche Gebäude da drüben machte doch einen beengenden Eindruck auf ihn.

Langsame abgemessene Schritte ließen sich hören; sie rührten von den Außenposten her, welche zur Nachtzeit rings um das Schloß gelegt waren, um alle Communication zwischen hüben und drüben zu verhüten und dem etwaigen Ausbruche eines der Gefangenen mit der scharfgeladenen Waffe zu begegnen.

Wer lief da unten? War es der Vater oder ein Anderer? Er durfte nicht rufen, sondern mußte den Mann erst sehen. Leise schlich er sich an dem Rande des Grabens vorwärts, bis er an eine Stelle kam, wo die Mauer, welche senkrecht hinunter ging, sich zu einer Böschung verflachte, die den Graben für die zuweilen nothwendigen Fuhrwerke zugänglich machte.

Hier schlich er sich hinab.

Das Gefühl, welches jetzt über ihn kam, machte seine Schritte vollständig unhörbar, und er kam eine ziemliche Strecke in dem Graben weiter, ehe er bemerkt wurde. Da stieß er an einen Stein.

»Wer da!« rief eine laute, barsche Stimme.

Er fürchtete sich und suchte auszuweichen.

Jetzt sah der Posten trotz der Dunkelheit die Gestalt, welche sich in einiger Entfernung von ihm bewegte.

»Halt, steh'!« gebot er.

Der Angerufene begann nun grad' vor Angst zu laufen.

»Halt, steh', oder ich schieße!« ertönte es.

Das Gewehr klirrte. Der Knabe suchte, von Furcht getrieben, den Ort, an welchem er herabgekommen war; da krachte der Schuß.

»Vater!« ertönte es laut durch die Nacht; dann brach der Getroffene zusammen.[331]

Quelle:
Des Kindes Ruf. Eine Geschichte aus dem Erzgebirge von Karl May. In: Weltspiegel. 3. Jg. 1879. Heft 11–12. Dresden (1878). Nr. 21, S. 328-332.
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