III.

Im Fährmannshofe, der von morgen an das Hilbertgut genannt werden sollte, ging es schon während der Dämmerung gar lustig her. Er war ja heute Polterabend, an welchem sich die Nachbarn und Bekannten das Vergnügen zu machen pflegen, all' ihren Vorrath an altem, unbrauchbarem Topfgeschirr an der Thür des Hochzeitshauses zu zerbrechen.

Die Knechte hielten sich zur lustigen Abwehr bereit und trieben dabei mit den Mägden und dem sonstigen Besuche allerlei neckische Kurzweil. In der guten Stube aber saß das Brautpaar und hielt ein ernstes Zwiegespräch. Die Bäuerin hatte jetzt Zeit dazu; die meiste Arbeit war gethan, und was noch übrig blieb, das konnte sie dem Gesinde überlassen.

Sie befand sich in einer nicht sehr rosigen Laune, und das hatte seinen triftigen Grund! Die Abneigung, welche sie gegen ihren ersten Mann empfand, war auch auf dessen Kind übergegangen, ein Fall, der, so unnatürlich er erscheint, leider kein vereinzelter genannt werden kann, und hatte eine Vernachlässigung des armen Knaben zur Folge, die von jedem achtbaren Dorfbewohner mit dem größten Mißfallen bemerkt und auch besprochen wurde. Niemand aber hatte sich zur Einmischung berufen gefühlt, und selbst die brave Lindenbäuerin, welche wegen einer heimlichen Zuneigung für Fährmann unverheirathet geblieben war, hatte sich nur unter der Hand des Knaben angenommen und die Ausführung ihres Entschlusses, ihn durch das Vormundschaftsgericht sich zusprechen zu lassen, aus weiblicher Verzagtheit von einer Zeit zur anderen hinausgeschoben. Der heutige Tag aber hatte dieser Unentschlossenheit ein schnelles Ende bereitet.

Die Abwesenheit Paul's war, da er unter keiner besonderen Aufsicht stand und sich Niemand groß um ihn zu bekümmern pflegte, nicht eher bemerkt worden, als bis der Wagen, der ihn von seiner Befreiungsfahrt zurückbrachte, vor dem Thore hielt. Die Kugel hatte ihn nur leicht am Kopfe gestreift, so daß für sein Leben nicht das Geringste zu befürchten war; aber der begleitende Aufseher hatte sich seines Auftrages, der nachlässigen Mutter streng zu begegnen, so gut entledigt, daß ihr die selige Hochzeitsstimmung vollständig verloren gegangen war.

Die Kunde von dem Abenteuer des unternehmenden Kindes hatte sich schnell im Dorfe verbreitet, und vor noch nicht langer Zeit war die Lindenbäuerin in Begleitung des Richters gekommen, um es provisorisch zu sich zu nehmen, da zur eigentlichen Entscheidung erst noch weiter berichtet werden mußte.

Das war ein harter Schlag für die Frau vom Fährmannshofe gewesen. Ihr Mutterherz allerdings fühlte sich nicht im Geringsten verletzt, aber ihr Stolz war gedemüthigt und ihre vermeintliche Ehre gekränkt, – darum saß sie jetzt kalt und zornig an der Seite des liebeglühenden Bräutigams und wollte sich über den ihr widerfahrenen Schimpf nicht trösten lassen.

»Wer ist denn schuld, daß er fortgelaufen ist? Nicht ich, sondern Du!« warf sie ihm vor. »Du hast ihn geschlagen, daß mir himmelangst geworden ist! So ein Kind ist doch kein Pferd, mit dem Ihr Reiter umspringen könnt, wie's Euch beliebt!«

»Du hast mir ja befohlen, daß ich ihn hauen soll, und ich hab' noch nie vernommen, daß die Schläg' mit der Goldwag' abgemessen werden müssen! Und bin ich etwa nicht gleich fertig gewesen, als Du mir Einhalt thatest? Laß doch den Buben sein! Es ist ganz schön, daß wir ihn losgeworden sind.«

»Das mein' ich auch, wenn's nur auf eine andere Art geschehen wär', und grad' zum Poltertag! Nun hab' ich das Gered' im Dorf und möcht' mich vor gar Niemand blicken lassen.«

»Das macht mir keine Sorg'. Wir bleiben dennoch, wer wir sind! Hast Dich nicht gescheut, vom Mann hinwegzukommen, so brauchst Dich auch nun jetzt bei seinem Buben nicht zu ärgern!«

Er hätte wohl seinen Versuch, sie zu besänftigen, weiter fortgesetzt, aber im Hofe ertönte Pferdegetrappel, und gleich darauf kam die Magd und meldete bestürzt:[360]

»Bäurin, Ihr sollt schnell herunterkommen; es ist ein – Gendarm da!«

»Ein Gendarm?«

»Ja, und noch dazu ein reitender!«

»Was mag der wollen? Ist's auch richtig, daß er den Fährmannshof sucht?«

»Ja.«

»So sag', ich komm' gleich! Gehst doch mit, Kurt?«

»Ich? Was soll denn ich dabei? Er hat doch nach Dir und nicht nach mir gefragt!«

»Aber ich fürcht' mich allein! Du wirst der Bauer und mußt mit!«

Nur mit Widerstreben folgte er ihr. Er trug, obgleich er um den Abschied eingekommen war und denselben alle Stunden erwartete, die dralle Uniform mit großer Ostentation zur Schau. Auch fehlte es ihm nicht an persönlichem Muthe, das hatte er auf manchem Tanzsaale bewiesen; jetzt aber sah er nichts weniger als nach großen Heldenthaten aus und blieb beinahe verlegen an der Thür stehen, als sie unten eingetreten waren. Der Sicherheitsbeamte erwartete sie mitten in der Stube. Die Anwesenden saßen kleinlaut auf ihren Plätzen und harrten ängstlich der Dinge, die da kommen würden.

»Sie sind die Frau vom Hause hier?« war seine erste Frage.

»Ja.«

»Ihr Mann ist abwesend?«

»Mein Mann? Ich bin geschieden!«

»Ach so! Wer ist der Herr in Uniform?«

»Das – das ist mein Bräutigam.«

»Ich gratulire!« Er sah sich in der Stube um und bemerkte die festlichen Vorbereitungen. »So haben Sie wohl gar Hochzeit?«

»Morgen.«

»Das dürfte allerdings die Sache ändern! Wann haben Sie Ihren ersten Mann zum letzten Male gesehen?«

»Als er – fortgeführt wurde!«

»Seitdem nicht wieder?«

»Nein.«

»Auch heut' nicht?«

»Nein,« antwortete sie erstaunt.

»Sie haben einen Knaben?«

»Ja.«

»Wo befindet er sich?«

»Auf dem Lindenhofe.«

»Warum?«

»Weil ihn die Bäurin als Kind annehmen will.«

Er nickte leise, als erkenne er die Wahrheit eines Gedankens, der ihm gekommen war.

»Ihr Mann ist heut' aus der Gefangenschaft entsprungen; es ist sehr leicht möglich, daß er Sie aufsuchen will, und ich werde daher Ihr Gut besetzen lassen. Wer sich gegenwärtig in demselben befindet, darf es nicht eher wieder verlassen, als bis ich die ausdrückliche Erlaubniß dazu ertheile. Sie haben wohl für mein Pferd einen Platz im Stalle? Lassen Sie es vom Knechte besorgen!«

Ohne sich um den gewaltigen Eindruck, welchen seine Worte machten, zu bekümmern, schritt er nach der Thür. Sein Blick fiel schärfer in das Gesicht des Husaren; er blieb vor ihm stehen.

»Mir ist, als hätten wir uns schon einmal gesprochen?«

»Ja, Herr Obergendarm.«

»Wo und wann ist das gewesen?«

»Vor einem Jahre in der Stadt. Ich hab' – die Anzeige – über den – Fährmannbauer gemacht!«

Der Beamte schien sich zu besinnen.

»Richtig! Ich war damals noch Brigadier. Wurden Sie nicht in derselben Angelegenheit auch als Zeuge vernommen? Es handelte sich, glaube ich, um Cassenscheine, deren Nummer eingetragen war?«

»Ja,« antwortete er immer verlegener.

»Der Fall war interessant, ist mir aber nicht mehr so genau gegenwärtig. Wie waren Sie denn eigentlich in den Besitz des Geldes gekommen?«

Diese Frage, ganz unverfänglich ausgesprochen, trieb in das Gesicht des Husaren eine dunkle Blutwoge, um es dann desto blässer erscheinen zu lassen. Der Gendarm mußte diesen Eindruck, welchen seine Worte machten, bemerken.

»Wie – soll ich denn dazugekommen sein? Er hat mir's – geborgt!«

»Ja, ja, jetzt fällt es mir ein! Und jetzt sind Sie der Bräutigam seiner Frau? So, so; ich gratulire nochmals!«

Er übergab draußen sein Pferd dem Knechte und verließ dann den Hof. Die ebenso ungewöhnliche, wie scheinbar unbegründete Verlegenheit des Soldaten war seinem geübten Blicke aufgefallen; doch konnte er den Gedanken, welche sich sofort zu einem Bilde compliciren wollten, nicht Raum geben, – er war anderweit zu sehr in Anspruch genommen. Auf der Straße warteten mehrere Untergebene auf ihn; er instruirte sie und ließ sich dann von einem ihm begegnenden Dorfbewohner nach dem Lindenhofe führen.

Er traf die Bäuerin nicht zu Hause. Sie war noch spät zum Nachbardorfe gegangen, wo eine Bekannte von ihr eine heilsame Wundsalbe besaß, die gar trefflich war für alle Verletzungen und äußere Schäden. Von dieser wollte sie holen und Paul auflegen, damit sie ihm den Schmerz lindere.

Obgleich sie sich gesputet hatte, brach doch bereits die Nacht herein, als sie den Rückweg antrat. Ein großer Theil desselben führte durch den Wald; doch fürchtete sie sich nicht, da sie ein gutes Mittel wußte, die Angst zu vertreiben: sie sang nach dem Tacte ihrer Schritte halblaut vor sich hin, – das fesselt die Phantasie und läßt sie auf nächtliche Täuschungen weniger achten. Ihre Stimme war als eine der besten im Orte bekannt, und sie hatte mit dem Vater Paul's in früherer Zeit gar manche schöne Kirchenarie vom Chore herab gesungen. Jetzt fiel ihr sein Lieblingslied ein; sie summte es und dachte dabei, wie schön es sein würde, wenn die alten Tage wiederkehren könnten, in denen er die Frau noch nicht lieb hatte, die ihn nur wegen seiner blanken Knöpfe nahm und dann, als er den Militairrock auszog, nicht mehr leiden konnte.

Plötzlich blieb sie stehen. Es war ihr, als hätte Jemand ihren Namen ausgesprochen, gerade so, wie Der, an den sie dachte, der sich oft hinter den Zaun oder in den Busch gesteckt und sie mit heller Stimme gerufen hatte, um sie zu überraschen.

»Minna!«

Jetzt hörte sie das Wort deutlich. Es befand sich also wirklich Jemand hinter den Sträuchern, und es wurde ihr plötzlich so bange, daß sie fliehen wollte.

»Bleib' steh'n, Minna, und sag', bist's, oder bist's nicht!«

»Guter Heiland, das klingt ja grad' wie – ja, ich bin's! Wer ist denn da?«

»Erschrick nicht, Minna, der Eduard ist's!« antwortete es, indem der Sprecher näher trat.

»Bleib' steh'n, – ich glaub' es nicht, – es ist nicht möglich!«

»Und doch ist's möglich, – hör' mich nur an! Ich bin aus der Gefangenschaft entsprungen! Wißt Ihr's noch nicht im Dorf?«

Sie faltete vor Schreck ihre Hände ineinander und antwortete mit vorsichtig gedämpfter Stimme:

»Kein Sterbenswort hab' ich gewußt. Ach Gott, Eduard, was hast da gethan!«

»Ich hab' nicht anders gekonnt! Sie haben mir den Paul erschossen, und da bin ich fort, um ihn noch einmal zu seh'n.«

»Erschossen? Das ist ja gar nicht wahr! Die Kugel hat ihm nur die Haut berührt und ein paar Haare mitgenommen.«

»Ist's wahr, Minna? Ist's gewiß auch wahr, was Du mir sagst?« fragte er mit vor Freude lauter Stimme.

»Freilich ist's wahr; ich werd' doch Dir keine Lüg' sagen! Schau hier die Salb'; die würd' ich doch nicht für ihn holen, wenn er zu Tod' getroffen wär'!«

»Für ihn bist fort gewesen, Minna, – für mein Kind? Sag', wo ist er zu finden? Ich muß ihn seh'n!«

»Bei mir im Lindenhof. Die Mutter sitzt bei ihm und sorgt für seine Pfleg', bis ich zurückgekehrt bin.«

»Was meinst für eine Mutter? Du hast ja keine mehr!«

»Die Deinige. Deine Frau hat sie aus dem Haus gejagt, drum wohnt sie nun bei mir.«[361]

Er ergriff ihre Hände und drückte sie an seine Brust.

»Du gute, liebe Seel', wie soll ich Dir es danken! Und den Paul hast auch zu Dir genommen?«

»Seit heut' nur erst; aber ich geb' ihn nimmer wieder her, bist Du selber ihn verlangst.«

»So weiß ich ihn in guten Händen! Lindenbäurin, ich hab' Dich gar zu gern gehabt, aber ich wollt' mich nicht an Dich getrauen, weil ich zu arm gewesen bin. Da ist die Andere gekommen und hat sich mit Fleiß mir an den Hals geworfen; sie ist schön, und ich hab' geglaubt, daß ich sie lieben kann. O, wärst doch Du an ihrer Stell' gewesen!«

»So hast sie nicht mehr lieb, Eduard?«

»Schon längst nicht mehr; sie ist auch schuld, daß ich im Zuchthaus bin; denn ohne ihr hätt' ich dem Reiterkurt nicht das Geld geborgt, worauf man meine Schuld begründet. Minna, Du bist so gut, so seelensgut, – thu' mir nun auch die Lieb' und glaub', daß ich unschuldig bin!«

»Ich glaub's!« antwortete sie einfach. »Aber wie ist's nur zugegangen, daß Du verurtheilt bist?«

»Das weiß ich auch nicht! Ich hab' dem Kurt fünfzig Thaler geliehen von meinem eigenen Geld, und einige Tage darauf ist der Brigadier gekommen mit dem Director von der Gesellschaft, um die Cass' zu untersuchen. Da haben achthundert Thaler gefehlt, die im Buch zu wenig eingetragen sind, und das Geld, welches der Kurt bekommen hat, ist grad' von dem gewesen, welches fehlt. Wie das zugegangen ist, das kann ich nicht begreifen! Ich darf mich auch gar nicht hineindenken, sonst geht mir der Verstand verloren! Ach, Minna, ich wollt', ich wär' gleich todt!«

»Sprich nicht so, Eduard. Der liebe Gott wird's schon noch an den Tag ziehen! Aber sag', was jetzt nun werden soll?«

»Jetzt will ich ins Dorf zum Paul, und dann kehr' ich freiwillig ins Zuchthaus zurück!«

Er nahm sie bei der Hand und zog sie vorwärts. Sie hatten sich so viel zu fragen und zu sagen, daß sie wenig oder gar nicht an die gegenwärtige Gefahr dachten und den Schritt erst anhielten, als sie den Rand des Waldes erreichten.

»Hier muß geschieden sein, Minna. Das Dorf ist ganz gewiß mit Soldaten und Polizei umstellt. Am besten ist der Fährmannshof besetzt und auch der Deinige, weil sie meinen, daß mich der Paul hinziehen werd'. Ich würd' mich freiwillig gleich gefangen geben, wenn ich wüßt', daß sie mich ihn erst sehen lassen. Aber das thun sie nicht, und so werd' ich mich in den Lindenhof schleichen.«

»Eduard, thu's lieber nicht. Sie werden Dich er schießen!«

»Mich treffen sie nicht! Und wenn auch; um den Zuchthausfährmann wird kein Aug' mehr roth!«

»Glaub's nicht, glaub's nicht. Du thust sonst eine Sünd'! Deine Mutter hat so um Dich geweint, daß sie bald nichts mehr sehen kann, und ich – ich – ich –«

»Nun, Du? Sag's, Minna!«

»Ich könnt' mich gar nie trösten!«

»Ist's wahr?«

»Ja. Trag' Deine Straf', Eduard, wenn Du auch unschuldig bist! Und nachher kommst Du zu mir. Wenn Alle Dich verlassen, – in meinem Haus bist stets willkommen!«

Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Es wurde kein Wort gesprochen; der Augenblick war zu selig und zu heilig für die gewöhnliche Rede. Endlich schob er langsam ihr Köpfchen von sich ab.

»Geh' jetzt, Minna, geh'; ich komm' bald nach.«

»Sie schießen!« erwiderte sie angstvoll.

»Nein, denn sie werden mich gar nicht seh'n. Ich kenn' den Hof und weiß die Schlich', die ich zu brauchen hab'. Wo liegt der Paul?«

»In der Stub' bei meiner Kammer. Du wirst's am Licht erkennen.«

»So mach' den Vorhang herab, sobald im Haus der Weg frei ist. Das Uebrige ist meine Sach'. Nun geh'!«

Sie ließ ihn mit schwerem Herzen allein; aber sie mußte ihm gehorchen. Er wartete, bis er ihre Schritte nicht mehr hörte, und näherte sich dann mit der angestrengtesten Vorsicht dem Dorfe.

Die Wege waren besetzt, das merkte er schon nach kurzer Zeit; er wendete sich daher querfeldein und erreichte auch wirklich unbemerkt den zum Lindenhofe gehörigen Garten. Jenseits des Zaunes stand ein kleines Häuschen; die Eltern des Reiterkurt hatten es vor ungefähr Jahresfrist gekauft, ohne daß man so recht gewußt hätte, woher ihnen das Geld gekommen war. Sie befanden sich heute mit auf dem Fährmannshofe, und darum war kein Licht zu bemerken, obgleich die nach hinten gehenden kleinen Fenster keine Läden hatten.

Der Flüchtling mußte diesseits des Zaunes an ihm vorüber. Er legte sich zur Erde und kroch langsam vorwärts. Da vernahm er von der Straße her eilige, aber leise Schritte; ein Schlüssel wurde in die Hausthür gesteckt, und nach kaum einer Minute war die enge Wohnstube von einer Lampe nothdürftig erhellt, so daß man sie vom Garten aus genügend überblicken konnte.

Der Reiterkurt war eingetreten. Er hatte, um sich unkenntlich zu machen, die Uniform mit Civilkleidern vertauscht und schien große Eile zu haben. Ohne das unverhüllte Fenster zu beachten, trat er zu der alten Wanduhr, hob eines ihrer riesigen Gewichte aus und kehrte mit demselben zum Tische zurück. Es bestand aus einem hohlen Blechcylinder und war mit Blei- und Eisenstücken angefüllt. Er schüttete es vor der Lampe aus; ein kleines Päckchen, welches sich ganz unten befunden hatte, kam zum Vorscheine; er wand den Faden ab und wickelte es auf.

Der Zaun war von dem Häuschen kaum vier Fuß entfernt; der Zwischenraum wurde nur zur Anhäufung des für den Winter eingesammelten Brennholzes benutzt. Fährmann mußte wissen, welche Heimlichkeit den Bräutigam seiner ehemaligen Frau so allein und eilig aus dem Hochzeitshause fortgetrieben hatte, und stand schon im Begriffe, sich über den Zaun hinüber zu beugen, obgleich er sich dadurch dem verrätherischen Lichtscheine preisgeben mußte, als er überrascht wieder zurückwich. Er hatte gesehen, daß sich hinter dem Reiterkurt die Thür bewegte. Sie wurde langsam aufgezogen, und in der Oeffnung erschien eine glänzende Uniform.

Der Obergendarm war's. Vom Lindenhofe zurückkehrend, hatte er einige Minuten recognoscirend in der Nähe gestanden und den Mann bemerkt, der so behend und vorsichtig hinter dem Dorfe heraufgekommen war. Verdacht schöpfend, folgte er ihm, trat in das jetzt offene Haus und stand nun hart hinter ihm, mit neugierigem Blicke jeder seiner Bewegungen folgend.

Das Packet war geöffnet; es enthielt eine Anzahl Cassenscheine und einen Schlüssel mit alterthümlich geformtem Handtheile. Bei diesem Anblicke traten die Gedanken von vorhin wieder vor die Seele des Beamten, und mit einem raschen Griffe hielt er die Gegenstände in seiner Hand.

»Der Herr Bräutigam hat es ja mit recht sonderbaren Uhrgewichten zu thun! Wie kommen Sie in diese Kleidung und hierher, da ich doch befohlen habe, daß Niemand Ihren Hof verlassen soll?«

Fährmann hörte diese Worte und hatte ebenso deutlich den Schlüssel erkannt. Seine gefahrvolle Lage war vergessen; er schwang sich über den Zaun, eilte um die Ecke des Hauses und trat ein. Er kam gerade zur rechten Zeit. Der Husar hatte sich auf den Gendarm geworfen und diesen, dem der Degen im Wege war und dessen Sporen sich in der alten Stubendecke verwickelten, zur Erde gerissen. Er kniete auf ihm, hielt ihn mit der Linken bei der Kehle gefaßt und langte mit der Rechten nach dem nahestehenden Ofen, an welchem ein Beil lehnte. Das war so schnell gegangen, daß keiner von Beiden einen Laut von sich gegeben hatte.

Auch der Flüchtling sprach kein Wort; er hätte in diesem Augenblicke die Stärke eines Simson entwickeln können, faßte den Verführer seines Weibes beim Nacken, riß ihn hintenüber und hielt ihn fest, bis der Beamte sich erhoben hatte. Als dieser die Anstaltskleidung erkannte, schien er einen Moment lang vollständig verblüfft, begriff die Scene dann aber desto schneller, zog eine Schnur aus der Tasche und fesselte mit Hilfe seines Retters den übermannten Gegner. Dann schob er rasch den Riegel vor die Thür und fragte:

»Sie sind Nummer Hundertneunzig, oder vielmehr der Oekonom Fährmann von hier?«

»Ja.«[362]

»Sie sind mein Gefangener!«

»Ich hab' nichts mehr dagegen, weil ich bald ganz frei sein werd'; denn jetzt kann ich beweisen, daß ich unschuldig verurtheilt bin!«

»Wieso?«

»Das ist mein Geldschrankschlüssel, der hier in der Stub' liegt; ich dacht', ich hätt' ihn verloren, aber nun seh' ich, daß der Reiterkurt ihn mir gestohlen hat und das Papiergeld dazu. Darf ich die Nummern seh'n?«

Der Beamte nahm die ihm während des Kampfes entfallenen Cassenscheine von der Diele auf, warf einen eigenthümlich forschenden Blick auf ihn und las dann die Nummern vor.

»Sie sind's! Sie folgen nach der Reihe und sind mir bei der Verhandlung vorgelesen worden. Nun weiß ich Alles, wie's gegangen ist! Der Kurt ist in meinen Schrank gegangen, hat im Buch meine Ziffern umgewandelt und die Summ', die ich ihm geliehen hab', in dem gestohlenen Geld vorgezeigt. So hat er mich aufs Zuchthaus und von der Frau gebracht und wär' beinah' noch der reichste Bauer im Dorf geworden! Sag's, Spitzbub', ist es so? Hier kann kein Leugnen retten!«

Der Gefragte antwortete nicht; er war von dem plötzlichen Wechsel seines Schicksales vollständig betäubt. Der Gendarm öffnete das Fenster und stieß einen lauten schrillen Pfiff aus, dann fragte er:

»Sie sind entsprungen, um Ihr Kind zu sehen?«

»Nur allein deswegen!«

»Ich habe nicht über Sie zu entscheiden und muß Sie nach dem Kleide behandeln, welches Sie tragen. Aber Sie haben mir einen großen Dienst geleistet, den ich Ihnen nicht vergessen werde. Ich bringe Sie nach der Anstalt zurück, gebe Ihnen aber die Erlaubniß, bei Ihrem Knaben sein zu können, bis ich hier meine Pflicht gethan habe. – Ja, meine Herren,« wendete er sich zu den eintretenden Untergebenen, »zwei Fliegen mit einem Schlage. Die eine halten wir fest, die andere aber werden wir in Kurzem vielleicht wieder freigeben müssen!«

Nachdem er ihnen eine flüsternde Erklärung gegeben hatte, wendete er sich wieder zu Fährmann.

»Gehen Sie jetzt mit diesem Herrn! Ich bin überzeugt daß wir Sie nicht zu fesseln brauchen. Sie können mit den Bewohnern des Lindenhofes ungenirt verkehren, doch wird Ihr Begleiter nicht von Ihrer Seite weichen!«

Als die Beiden bei der Lindenbäuerin eintraten, erschrak sie auf das Heftigste; doch gab ihr das Verhalten Fährmann's bald die volle Ruhe wieder.

»Minna, hör', der Reiterkurt ist's gewesen, der mein Geld gestohlen hat! Ich hab' ihn jetzt mit gefangen genommen und werd' in kurzer Zeit frei sein! Grüß Gott, Mutter!«

Er drückte sie Beide an sein froh bewegtes Herz und eilte dann zu seinem Knaben. Dieser saß wach im Bette und hatte seine große Flinte vor sich liegen.

»Vater,« rief er jubelnd, als er ihn erblickte, und streckte ihm die beiden Aermchen entgegen, »Vater, mein lieber Vater, bist wieder da?«

»Ja, da bin ich und geh' nur einmal noch ein ganz klein wenig fort!«

»Hast's wohl gehört, daß ich Dich gerufen hab'?«

»Freilich hab' ich's vernommen! Thut Dir Dein Kopf sehr weh'?«

»Nein, jetzt nicht mehr. Die Minna hat mir Salb' aufgelegt. Sie ist so gut, viel besser als die Mutter. Sie soll meine Mutter sein; sie hat mich schon gefragt, ob ich sie will!«

Die glücklichen Leute hatten vollständig Zeit, sich auszusprechen; denn es vergingen mehrere Stunden, ehe der Obergendarm erschien. Er betrachtete die Gruppe mit teilnehmendem Blicke.

»Fährmann,« meinte er, »jetzt bin ich überzeugt, daß Sie unschuldig sind. Der Husar hat Alles eingestanden. Er hat Sie auf das Zuchthaus bringen wollen, damit Ihre Frau einen Scheidegrund habe. Er hat ohne Ihr Wissen auf dem Hofe Zutritt gehabt, den Schlüssel weggenommen, später die achthundert Thaler gestohlen und während Ihrer Abwesenheit im Buche aus einer Fünf eine Drei, und aus einer Sieben eine Eins gemacht, so daß die Acht herausgekommen ist. Ich war mit ihm im Fährmannshofe und auch beim jetzigen Cassirer. Das Buch ist noch vorhanden; er hat die Radirung als sein Werk anerkannt und befindet sich schon nach dem Gefängnisse unterwegs. Auch Sie werden jetzt aufbrechen; doch will ich dafür sorgen, daß es nicht auf lange ist!« –

Die Anstaltsglocke gab das Zeichen, daß die Gefangenen sich zu erheben hatten, als in früher Morgenstunde der Flüchtling wieder eingeliefert wurde. Und wer heute nach Oberdorf kommt und den reichen Lindenbauer fragt, der kann erfahren, daß er schon am Abende wieder daheim gewesen ist bei seinem Knaben, dem er die Freiheit zu verdanken hat.[363]

Quelle:
Des Kindes Ruf. Eine Geschichte aus dem Erzgebirge von Karl May. In: Weltspiegel. 3. Jg. 1879. Heft 11–12. Dresden (1878). Nr. 23, S. 360-364.
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