4.

[303] Das Neujahr 1814 war gekommen. Draußen in der Welt bereiteten sich große Dinge vor, und auch in der Niedermühle schien ein Sturm im Anzuge zu sein. Es konnte nicht verschwiegen bleiben, daß die Sache Napoleons auf schlimmen Füßen stehe, sämmtliche Douaniers hatten Ordre bekommen, sich marschfertig zu halten, aber der Befehl zum Rückzuge zögerte von Stunde zu Stunde. Der Glaube an die Allmacht des großen Corsen war so stark, daß man an den erlittenen Niederlagen zweifelte und aller Augenblicke den Bericht erwartete, er sei an der Spitze seiner Legionen erschienen und habe den Feind mit einem seiner gewaltigen Schläge für immer zu Boden geworfen.

Die vier Franzosen, welche jetzt die Mühle mitbewohnten, waren sehr darüber einig, daß diese Hoffnung in Erfüllung gehen werde, und der Eine von ihnen, welcher Müller war und das Kreuz der Ehrenlegion trug, übertraf sogar den Lieutenant an Eifer, für seinen glorreichen Kaiser auch mit der Zunge zu fechten. Er schien ihm auch in anderer Beziehung den Vorrang ablaufen zu wollen, wenigstens bemerkte der eifersüchtige Jambrieu, daß zwischen ihm und Anna trotz seines nichts weniger als ansprechenden Aeußeren eine immer wachsende Sympathie stattfinden müsse, und schon zu wiederholten Malen hatte er daher im Begriff gestanden, sein vermeindlich besseres Recht nunmehr zur Geltung zu bringen.

Der Müller fühlte sich nirgends wohler, als in der Gesellschaft dieser vier Männer, welche den gleichen Abgott mit ihm hatten und – es sich an seinem Tische trefflich schmecken ließen. Jemehr er grad jetzt um seines politischen Bekenntnisses willen von den Nachbarn gemieden wurde, desto fester hielt er dasselbe, und die Gerüchte, welche über den Vormarsch der Verbündeten im Umlauf waren, machten so wenig Eindruck auf ihn, daß er die Verlobung Anna's mit Jambrieu auf den heutigen Abend festgesetzt hatte.

Er hatte erwartet, bei der Tochter den kräftigsten Widerstand zu finden und wunderte sich nicht wenig, als sie sein Machtwort mit der gleichgültigsten Miene hinnahm und die nothwendigen wirthschaftlichen Vorbereitungen zu dem Familienfeste ohne besondere Anweisung traf. Er glaubte, sie sei endlich einmal klug geworden; ein Douanenoffizier ist ein schwerwiegendes Menschenkind, und wenn eine Müllerstochter ihn zum Manne bekommt, so hat sie von einem Glücke zu sagen.

Es waren für den Abend wenig Gäste geladen; aber der Kreis der Verwandten und Hausgenossen war ein so zahlreicher, daß sich bald eine lebhafte Unterhaltung entwickelte, welche gegen Mitternacht hin, wo das bindende Verlöbniß stattfinden sollte, in Folge des reichlich genossenen Weines außerordentlich animirt wurde.

Nur Jambrieu theilte nicht die frohe Laune der Anderen; er bemerkte gar zu wohl die Blicke, welche möglichst verstohlen zwischen Anna und dem Legionär gewechselt wurden; so gern er den Letzteren in den ersten Tagen gehabt hatte, so wenig konnte er ihn jetzt leiden, und es schwebte von Minute zu Minute ein scharfes Wort auf seinen Lippen, welches er nur zurückhielt, weil das schöne Mädchen ihm doch jedenfalls nun sicher war. Er gab sich Mühe, seine Eifersucht zu überwinden und ergriff das gefüllte Glas, um einen Toast auf seinen Kaiser auszubringen. Alles stimmte in das »vive l'empereur!« ein, und nur der Legionär bückte sich unter den Tisch, als sei ihm irgend Etwas zur Erde gefallen.

Jetzt erhob sich auch der Müller zu einem Toaste. Er spöttelte über die kleinen Feinde Napoleons und forderte auf, die Gläser auf den baldigen Untergang derselben zu leeren. Alle folgten dieser Weisung außer wieder dem Legionär, welcher, sein Glas zwischen den Fingern drehend, ruhig sitzen blieb.

»Helas,« meinte Jambrieu, »bist Du an den Stuhl gewachsen? Was soll das heißen, daß Du Dich gar nicht rührst?«

»Das soll 'eiß, Napoleong sein perdu, Napoleong sein futsch, Napoleong sein kaput, sakt die Kossak,« antwortete er in seiner gebrochenen Sprache.

Diese Worte brachten ein ungeheueres Aufsehen hervor; eine solche Versündigung an dem gewaltigen Herrscher war unerhört, und Jambrieu machte Miene, sich auf den Verbrecher zu stürzen, als plötzlich die Thür hastig aufgerissen wurde und ein Douane mit Sack und Pack hereintrat, um dem Lieutenant einen verschlossenen Brief zu überreichen.

Jambrieu besah das Couvert. Das Schreiben kam von seinem Vorgesetzten. Er las es und tiefe Blässe breitete sich über seine erschrockenen Züge.

»Der Feind ist da,« rief er; »wir müssen fort. Rasch vorwärts in die Berge, bis der Kaiser sie wieder packt und vernichtet!«[303]

Jambrieu eilte zur Thür, prallte aber dort um einige Schritte zurück, denn vor derselben stand die hochaufgerichtete Gestalt des Legionärs, welcher ihm die Pistole entgegen hielt.

»Wart' Sie nok ein klein Wenik, 'err Lieutenant,« meinte er lächelnd; »Sie 'ab' verkeß', mitßunehm' Ihr Braut!«

»Was soll das heißen?« frug der vollständig verblüffte Offizier.

»Es soll 'eiß', daß Franzis sein kaput und die 'err Lieutenant sein auk kaput!«

»Kaput? Ich?!«

»Oui, kaput, ßerr kaput!«

»Zurück, Schurke; laß Deinen dummen Witz! Ich habe keine Zeit, ihn anzuhören.«

»Ah, die 'err Lieutenant muß lauf', lauf' über die Berg vor der Cuchons, die freß' all' Franzos' und all' Douaniers. Hêlas, die 'err Lieutenant muß bleib' in diese chamber bis komm' der Cuchons!«

Jambrieu wollte ihn fassen; der Legionär aber stieß ihn zurück, riß die Perrücke vom Kopfe, den Bart vom Gesichte[317] und warf das alte Camisol, welches er getragen hatte, vom Leibe. Ein Schrei des Schreckens entfuhr der aufgeregten Versammlung, denn statt des verwundeten Franzosen stand Franz vor ihnen, der dem Douanenoffizier mit einem raschen Griffe den Degen entriß. Er trug eine schwarze, roth vorgestoßene Litewke, von welcher die goldgelben, halbmondförmigen Achselstücke sich glänzend hervorhoben; das dunkle Lederzeug stak voller Waffen, und seine ganze Haltung war eine solche, daß keiner der Franzosen sich auf ihn zu werfen wagte, zumal Alle die fürchterliche Uniform kannten, welche er trug: er war ein Lützower.

Den Degen Jambrieu's hinter sich an die schnell verriegelte Thür lehnend, zog er eine zweite Pistole hervor. Die Hähne knackten, ein leiser Druck der Finger und die tödtlichen Schüsse mußten krachen.

»Kennen Sie mich jetzt, Herr Lieutenant?« frug er ernst. »Sie wollten einst den Schmuggler fangen, jetzt hat er Sie im Sacke. Und nun paßt auf, Ihr Leute: Wer nicht sofort thut, was ich befehle, den schieße ich auf der Stelle nieder!«

Man sah es ihm an, daß er Ernst machen werde, und als ein kurzes, barsches

»Setzt Euch!«

erscholl, suchten Alle außer Jambrieu die verlassenen Sitze wieder auf.

»Herr Lieutenant, ich schieße. Setzen Sie sich! Eins – zwei – –«

Der eingeschüchterte Offizier wartete die verhängnißvolle »Drei« nicht ab.

»Aber was wollen Sie denn eigentlich von uns?« frug er kleinlaut, indem er sich ruhig auf dem Stuhle niederließ. »Wir werden Ihnen nicht das Geringste zu Leide thun, sondern ganz ruhig unseres Weges gehen!«

»Ich habe noch Mehreres mit Ihnen zu verhandeln!« lachte der muthige Lützower. »Zunächst sage ich Ihnen meinen Dank für den Unterricht, welchen Sie mir über die Stellung der Ihrigen so – so naiv gegeben haben. Ich bin stets des Nachts fortgewesen, um das Vernommene an gehöriger Stelle zur Meldung zu bringen.«

»Mille tonnerre!« fluchte der blamirte Douanier zwischen die Zähne.

»Ferner muß ich Ihnen dafür danken, daß Sie im Eise des Mühlteiches ein so deutliches Zeichen angebracht haben. Ich hätte sonst nicht so leicht die Stelle gefunden, wo der eiserne Kasten von Ihnen versenkt wurde.«

»Sacré bleu!« rief er aufspringend. »Ich muß fort; der Kerl weiß Alles! En avant, Ihr Leute; schlagt ihn nieder; wir müssen die Kriegskasse retten!«

Er kam nicht weit, der drohende Lauf der Pistole hielt ihn zurück.

»Niedergesetzt!« erklang es drohend. »Für die Kassewerden bessere Leute sorgen, als Sie!«

Des Leutenants Augen blitzten wüthend auf, aber er mußte gehorchen, wenn er sein Leben nicht verlieren wollte.

Franz wandte sich jetzt zum Niedermüller.

»Jetzt kommt an Euch die Reihe! In wenigen Minuten ist Euer Haus von den siegreichen Cuchons besetzt. Wißt Ihr, wie Ihr stets von ihnen gesprochen und was Ihr ihnen erst vorhin noch gewünscht habt?«

Der Müller erbleichte; er vermochte nicht zu antworten.

»Euer Schicksal hängt von Eurem gegenwärtigen Verhalten ab. Ich habe keine Zeit zu langen Reden. Antwortet mir also kurz und bündig: Ist Eure Tochter noch frei?«

»Ja,« erwiderte er zitternd und zögernd.

»Ihr habt Euch auf eine Verlobung eingerichtet. Der Herr Lieutenant wird entsagen müssen. Anna, komm her!«

Das Mädchen, welche eine angstvolle Zeugin des ganzen Vorganges gewesen war, trat zu ihm. Er faßte ihre kleine, bebende Hand.

»Herr Niedermüller, Ihr wißt, daß wir Beide uns lieb haben. Gebt mir die Anna zur Frau!«

Der Müller schwieg.

»Antwortet! Ja oder nein?«

Der Gefragte blickte rathlos im Kreise umher. Da erklang lautes Pferdegetrappel und ein lauter Kommandoruf vom Hofe herauf in die Stube; die Hausthür wurde aufgerissen, und fragende Stimmen ließen sich hören.

»Nun! Macht schnell, die Cuchons sind da!«

»Ich – habe – – Nichts dawider!« lautete die seufzende Antwort, während Jambrieu sich mit einer protestirenden Armbewegung erhob. Franz zog das Mädchen an sich und drückte einen schallenden Kuß auf ihre Lippen.

»So ist's recht,« erklang es da hinter ihm; »nur drauf, immer drauf, wer Glück und Sieg begehrt!«

Es war ein Greis, der diese Worte sprach. Er mochte seine siebzig Jahre zählen, aber seine Haltung war eine noch ungemein rüstige. Ein langer Mantel fiel von seinen Schultern, eine leichte Interimsmütze bedeckte den graubehaarten Kopf; der dichte, weiße Schnurrbart stand ihm gar martialisch zu Gesichte, und wie er so dastand, die Linke am Degengriffe, in der Rechten die kurze, qualmende Pfeife, und mit dem großen, scharfen Auge die Versammlung überfliegend hätte es wohl Keiner gewagt, ein Wort zu sprechen, ohne von ihm gefragt zu sein. Er hatte sofort die Situation vollständig begriffen.

»Aha, eine Verlobung auf dem Degenknopf! Oder nicht?«

»Zu Befehl, Excellenz, ja!« antwortete Franz mit salutirender Handbewegung.

»Gratulire! Der Alte dort wird Wort halten müssen!« Und auf Jambrieu deutend, fuhr er fort: »Ist das der Zöllner, dem wir Deine Nachrichten verdanken, mein Sohn?«

»Zu Befehl, ja!«

»Er wird uns die Monneten lassen müssen! Wo stecken sie?«

»Im Teiche, Excellenz.«

»Fi donc,« lachte der alte Feldmarschall, welcher vor kaum einer Viertelstunde bei Caub über den Rhein gegangen war, »die Napoleons im kalten Wasser! Wir müssen sie erretten; zeige uns den Ort, mein Sohn!«[318]

Er kniff Anna freundlich in die Wange und schritt hinaus; ein Wink an die Draußenstehenden genügte, die in der Stube befindlichen Personen unter sichere Wache zu bringen. Franz folgte ihm und nahm unten im Hofe eine Hacke zur Hand.

Eine Schaar Lützower hielt vor dem Hause. Die berühmten Freischärler hatten den Rheinübergang eröffnet und waren von Blücher zur Begleitung nach der Mühle befohlen worden. Die Offiziere schlossen sich dem Feldherrn an. Beim Teiche angekommen, deutete Franz auf eine tiefe und hartüberfrorene Stelle, welche unweit des Ufers lag.

»Hier ist's, Excellenz! Sie haben den Kasten an Stricken befestigt, deren Enden so im Eise angebracht sind, daß sie mit eingefroren sind.«

»Schön; so haben wir leichte Arbeit. Hack' zu; ich habe nicht viel Zeit!«

Mit wenigen Schlägen war die Scholle herausgehauen; die Stricke wurden gefaßt, und bald lag der Kasten am trockenen Ufer des Teiches.

»Uebernehmen Sie die Chatulle, Horwitz,« wandte sich Blücher an einen der Offiziere, »und rapportiren Sie mir am Morgen über ihren Inhalt. Die Douaniers werden sofort mitgenommenen! – Du aber, mein Sohn, hast zwei volle Tage Urlaub. Ich werde dafür sorgen, daß Deine Verdienste nicht vergessen werden!«

Nach wenigen Minuten ertönte wieder lautes Pferdegetrappel, und bald lag die Niedermühle einsam wie zuvor im nächtlich dunklen Thale. In der Stube aber, wo der Feldmarschall die Küssenden überrascht hatte, ging es noch lange Zeit munter und lebendig her. Obermüllers waren geholt worden; Franz saß jetzt an der Seite Anna's auf demselben Stuhle, welcher vorhin den Douanierleutenant getragen hatte; Toast auf Toast erklang, und als der Niedermüller, welcher vor dem jungen Manne einen ganz gehörigen Respekt bekommen hatte, den Seinigen ausbrachte, klang derselbe ganz anders als der vorige und hatte nicht den großen Napoleon zum Gegenstand, sondern diente zur Verherrlichung des wackeren, alten Marschall »Vortwärts.« – – –[319]

Quelle:
Die Kriegskasse. Eine kleine Episode aus einer großen Zeit von E. Pollmer. In: Frohe Stunden. 2. Jg. Dresden, Leipzig (1878). Nr. 20, S. 317-320.
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