1. Die Berechtigung zum Sexualleben
Das System der gegebenen Geschlechtsentraffung – Enthaltsamkeitsstörungen bei Tieren – Die Notwendigkeit der Nachkommenschaft ein Dogma alter Kulturvölker.

Der Buddhismus lehrt, daß Wollust und Unwissenheit die zwei großen Ursachen des Elends dieses Lebens sind. Ebenso könnte er aber lehren, die Tatsache, daß wir essen und trinken müssen, sei ein Grund mit unseres Elends. Die Vorstellung der Unreinheit der geschlechtlichen Beziehungen geht durch alle wilden Rassen und die Verfemung der Sinnlichkeit durch alle Religionen, die das Leben als eine Strafe betrachten. Buddhas Mutter hat keine anderen Söhne, und ihre Empfängnis ist durch übernatürliche Ursachen bedingt. Die unbefleckte Empfängnis der christlichen Mutter Gottes ist nur eine andere Erscheinungsform asiatischer, büßender Gottesmütter.

Diese beiden Erbübel, Wollust und Unwissenheit, mit denen wir geschlagen sind, sind von unserem Menschtum nicht wegzudenken. Und nicht nur der Körper bedarf der Befriedigung der aus ihnen entstehenden Begierden, sondern die Seele, die diesem Körper nun einmal so eng verbunden ist, daß man sie für eine Emanation seiner selbst halten kann. Wo zwischen diesen beiden, Körper und Seele, die Grenzen liegen, das können nur jene »Mystiker« sagen, die da genau »wissen«, was in den verschiedenen »Regionen« der Geisterwelt vorgeht, jene Fremdenführer im Nirwana; sie werden auch aufs Haar genau diese Grenzen kennen. Nicht aber wir andern. Wir können uns nur an die Erfahrungen halten, und nur die Äußerungen unserer Begierden und Nötigungen geben uns Kunde von ihrem Bestehen. Nicht, daß wir jene Begierde besitzen, macht uns so elend, sondern daß die Befriedigung unserer zwingendsten Bedürfnisse uns entrafft und erschwert wird. Wäre uns die Wollust nicht »bestimmt«, so hätte uns die »Gottheit« nicht mit jenen Organen versehen, die sie erzeugen. Ein Überschuß an geschlechtlichen[359] Energien bringt nicht selten die wunderbarsten Erscheinungen der Sinnenwelt hervor. So sind die leuchtenden Farben mancher Tiere aus geschlechtlicher Energie entstanden, zu geschlechtlichen Zwecken. Wir können auch nicht behaupten, daß für hohes geistiges Schaffen sexuelle Entbehrung günstig sei, nämlich nicht für die Entstehung solcher Taten, die das Leben mit Leben bereichern. Die Halluzinationen der Wüstenheiligen sind allerdings das Produkt geschlechtlicher Abtötung, ohne daß sie indessen das Leben reicher und lebenswerter zu machen vermochten. Im Vollgefühl des erotischen Erlebens findet der Vogel seinen wunderbaren Balzgesang, und unter demselben Eindruck haben Künstler Visionen geschaut und die Kraft und das Feuer in sich gefunden, das sie zu deren Verdeutlichung befähigte. Ohne Schönheit gibt es für den Künstler keine Ansammlung von Lebensenergie, deren Überschuß die Kunst ist. Diese Ansammlung, Häufung von Lebensenergie muß daher allem Schaffen vorausgehen; und von aller Schönheit der Erde übertrifft keine das Erlebnis der Liebe.

Wir haben in den verschiedenen Kapiteln dieses Buches erkannt, daß ein komplettes System, von zahllosen Seiten wirksam, in der Sexualordnung unserer Kulturwelt in Aktion ist, bestimmt, das Geschlechtsleben der Menschen in Formen zu zwängen, die seinem natürlichsten Sinn widersprechen, und die Freiheit dieses Geschlechtslebens ihnen mehr und mehr zu entraffen. Bis ins Leben jedes einzelnen Individuums reicht diese Krise hinein, so haben wir im Vorwort gesagt und wiederholen es hier. Bei allen Fähigkeiten und Anlagen zu einem normalen erotisch-sexuellen Leben, beim besten Willen und bei den besten Fähigkeiten dazu bleiben Menschen, eben durch dieses System, welches in ihrer gesamten Umwelt wirkt, abgeschnitten, abgeschlossen von ihrem natürlichsten und zwingendsten Bedürfen, dem des Geschlechtes.[360] Die Entraffung des Geschlechtes! Man kann nicht ausdenken, welche Ungeheuerlichkeit das bedeutet! Wenn man bedenkt, daß bei Tieren, wie Experimente bewiesen haben, selbst die Entfernung einzelner Teile des Herzens, der Lungen, der Leber, der Milz, des Magens, der Därme, der Nieren, selbst einzelner Teile der Testikeln nicht zum Aufgeben des Geschlechtsaktes führt – daß der Mensch aber im Vollbesitz aller dieser Organe, in vollkommener Gesundheit, bei vollkommen normaler körperlicher und seelischer Beschaffenheit dazu oftmals gezwungen ist, so dämmert es einem vielleicht auf, was das bedeutet. Selbst »Hysterie« der Tiere ist eine in der Wissenschaft bekannte Erscheinung, z.B. der Samenkoller der Rinder, der sich entwickelt, »wenn gesunde Tiere zu den gewöhnlichen Jahreszeiten brünstig werden und dabei nicht zur Mutterschaft gelangen;... die Krankheit hat dann zwei Formen, entweder Stillochsigkeit oder Brüllerkrankheit ... Stuten werden häufig anhaltend rossig, wenn sie nicht befruchtet werden. Es kommt dann bei ihnen zu Zuckungen der Muskulatur, Krämpfen, Zähneknirschen, Herzklopfen. Im weiteren Verlauf tritt Verblödung (Dummkoller, Mutterkoller) ein ... Zeitweilig verschwinden die Erscheinungen in einzelnen Fällen, wenn die Stuten gedeckt werden. Bei männlichen Tieren kommt es in solchen Fällen zur Erweichung des Lendenmarks und Epilepsie«101. Unter den Mitteln, die der Tierarzt anwendet, steht an erster Stelle »Gelegenheit zur natürlichen Befriedigung des Liebestriebes«, sodann kalte Waschungen und Bäder. Als besonderes Merkmal der Krankheit bei Rindern und Pferden gilt die Stetigkeit, d.i. das beharrliche Verweigern der durchaus nicht übermäßigen Arbeit. Gefangenen Tieren ihr Geschlechtsleben zu entraffen, geht uns schon gegen den Strich, und wir paaren sie im Käfig, damit sie nicht zugrunde gehen. Es den Menschen zu entraffen,[361] muß noch viel unnatürlicher erscheinen. »Von der Wachstumsenergie der Keimdrüsen sind die geschlechtlichen Neigungen (Sexualtrieb zum anderen Geschlecht, Mutterliebe, Brüt- und Nährlust) bei Menschen wie bei den höheren Tieren abhängig«102. Die volle Ausbildung dieser Drüsen in bestimmtem Alter ist aber eine Tatsache, und die Folgen dieser Ausbildung auf den Gesamtorganismus sind ebenfalls Tatsachen. Eine »Ordnung«, die uns zwingt, diese Tatsachen zu mißachten oder die Befriedigung dieses von der Natur befohlenen Begehrens von unzähligen schwierigen Konstellationen abhängig zu machen, kann nicht die richtige sein. Wir haben in den verflossenen Kapiteln die vielfachen Gründe des sexuellen Elends im einzelnen kennen gelernt. Wir haben diese Gründe in tatsächliche (hartmechanische Verhinderungen), in geistig-moralische und in suggestive eingeteilt. Aber wir haben erkannt, daß das Urgesetz vom Kampf ums Dasein, vom Kampf der Tüchtigsten, von der Behauptung der besten Auslese im Geschlechtsleben nicht frei waltet, vielmehr unterbunden und in seinen Resultaten künstlich verschoben ist. Darwin spricht von einem Gesetz, welches die Voraussetzung des sexuellen Werbekampfes in der Natur bildet. Es ist dies »das Gesetz von dem Vorwiegen der Zeugungspotenzen und Zeugungstriebe gegenüber den verfügbaren Nährstellen in der Natur«. Ist etwa dieses Gesetz schuld an dem sexuellen Elend der menschlichen Kulturwelt? Nein. Denn wir sehen Zeugungspotenzen und Zeugungsermöglichung, mechanischer sowie seelischer Art, oft gerade da vorwiegen, wo der Zugang zu den »verfügbaren Nährstellen« der denkbar beschwerlichste ist, nämlich im Proletariat. Nicht auf dieses Urgesetz, welches die Kreatur angeblich abhält, sich zu vermehren und sich zu begatten, ist unser Elend zurückzuführen, sondern vor allem auf das Kunstprodukt[362] der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die mittelbar alle die Konstellationen, die zu einer Entraffung des Geschlechtslebens fortpflanzungstauglicher Menschen führen und die Übervermehrung oft Untauglicher zur Folge haben, geschaffen hat. Die Früchte dieser Konstellation sind denn selbst wieder neue Motive ihres Weiterbestehens, wie wir an dem Beispiel der zunehmenden Mißbildung des Menschenmaterials gesehen haben, welches die Folge dieses unterbundenen Ausleseprozesses ist, gleichzeitig neue Ursache wird zur Erschwerung einer befriedigenden Geschlechtsauslese.

Und so sehen wir eine Situation für die Kulturmenschheit geschaffen, welche mit dem grausamen Zustand des »Krummschließens« zu vergleichen ist, einer Strafe, die in Österreich beim Militär in Anwendung kommt und in einer Verkettung der Gliedmaßen besteht, die die unglücklichen Personen jeder Freiheit beraubt. Tolstoi vergleicht in einem seiner Romane ein unglückliches und heimliches Liebesverhältnis mit dem Sitzen mit unterschlagenen Beinen, die zum Erdboden zucken.

Welche Ungeheuerlichkeit liegt in der Voraussetzung, daß ein Mensch dieses gewaltige Erlebnis, das die geschlechtliche Vereinigung bedeutet, in seinem Leben vielleicht überhaupt nicht kennen lernen soll! – Von dem südafrikanischen Stamm der Todas berichtet Marshall: »Es besteht keine unverehelichte Klasse bei ihnen, die mit ihren Liebschaften und Zänkereien die Gesellschaft stören würde.« Die glücklichen Wilden! Bei wilden und barbarischen Rassen gibt es überhaupt keine alten Jungfern und Hagestolze. Die Unerläßlichkeit der Verbindung eines Menschen mit einem Wesen des anderen Geschlechtes ist sowohl den Ur- und Naturvölkern als auch gewissen alten Kulturvölkern ein Dogma. Nur die Kultur der Weißen hat es fertig gebracht, dieses Urbedürfnis zu vergewaltigen. Schon der Ahnenkult[363] dieser alten Kulturvölker zwingt den einzelnen gebieterisch, für Nachkommenschaft zu sorgen. Bei den alten Semiten wird der Heiratsunlustige als ein Schänder des Ebenbildes Gottes betrachtet und der zwanzigjährige Jüngling gerichtlich zur Verheiratung gezwungen. Die heutigen Hindus sehen den Hagestolz als einen Störer der Gesellschaft an, der außerhalb des Rahmens der Natur steht und bedauern die ruhelosen Geister der Jünglinge, »die gestorben sind, ohne Vater geworden zu sein ... wie Leute mit ungeheuren Schulden, zu deren Bezahlung sie unfähig sind«. Kinderlosigkeit ist das größte Unglück, das einen Perser treffen kann. »Dem Kinderlosen bleibt die Brücke zum Paradies verschlossen, die erste Frage, die die Engel ihm stellen werden, wird die sein, ob er hienieden einen Vertreter hinterlassen hat, und sagt er nein, so lassen ihn die Engel gramerfüllt am Brückenzugang stehen.« Welche Urweisheit liegt doch in solchem religiösen »Aberglauben«! Diese Urweisheit steckt hinter so mancher Zeremonie, die als Ritus geübt wird und uns eine bloße Formalität deucht. Aber merkwürdig ist es doch, daß Inder wie Perser, Semiten wie Griechen und Chinesen sich die Tatsache, daß jeder, der stirbt, jemanden zu hinterlassen habe, der seinem Begräbnis beiwohnt und seinen Manen opfert, eine Sorge sein lassen. Dieser Totenkult war freilich nur eine Formalität, aber die Tatsache, die ihn ermöglichte, war die, daß man eben jemanden hinterlassen hatte, daß man nicht ins Grab gefahren war, ohne seine eigene Art weiter gegeben zu haben. Und in den Jasts der Parsi steht das große Wort geschrieben: »Die ärgste Missetat, die ein Tyrann begehen kann, ist die, Jungfrauen, die lange unfruchtbar waren, am Kindergebären zu verhindern.«

Wahrlich, es ist nichts Neues unter der Sonne, und es braucht auch nichts Neues zu sein. Unsere Mutterbewegung,[364] unser heißer Schrei, der tausendstimmig aus so vielen Kehlen dringt, diese unsere neueste »Revolution«, diese Sehnsucht, die die Gesetzestafeln unserer bisherigen Sexualordnung zertrümmern will – sie braucht zu deren Ersatz gar keine neuen zu schmieden. In der Weisheit uralter Religionsbücher, im Geheimnis des Papyrus, auf den alten verschütteten Tafeln des Altertums ist es eingegraben, eingerissen mit ehernem Griffel, dieses unser Sehnen – unser uraltes, zu neuem Leben erwecktes Menschenrecht.

101

Dr. W. Hammer: »Enthaltsamkeitsstörungen bei Haustieren«.

102

Robert Müller: »Sexualbiologie«.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 357-365.
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