3. Das besondere Sexualelend der Frau
Die erotische Aushungerung und ihre Gefahren – Die erotische Entbehrung besonders der besseren Frau – Die »seltene« Frau – Anna Boje in »Hilligenlei« – »Fräulein Julia« – Krafft-Ebing über das Irresein bei ledigen Weibern – Der Verlust der ruhigen Zentralisation des Weibes durch sexuelles Darben – Die Gefahr der psychischen Diffusion – Die besondere tragische Einsamkeit der »neuen« Frauen – Maeterlincks »Lied« der weiblichen Resignation – Mutterrecht und Vaterrecht – Die Beherrschung der Geburtenrate durch direkte Liierung der Gesellschaft mit der Mutter – Das bewußte Werbespiel und seine erlösenden Folgen – Der Gram über das geknebelte Geschlechtsgefühl und seine zerstörenden Folgen.

[374] Der »Mangel an Objektivität der Weiber«, den Schopenhauer so hervorhebt, ist in ihrer geschlechtlichen Unfreiheit begründet. Er, Schopenhauer, kann sich gar nicht hineindenken, wie sehr »objektiv«, d.h. von sich selbst befreit und fähig, sich den Dingen auf ihre Natur hin zuzuwenden, man sein kann, wenn man seine sexuellen Affekte ausgelebt hat, und wie abhängig, versklavt an andere und an sich selbst man wird, wenn diese beständig unterdrückt werden müssen. Erst die moderne sexuelle Pathologie hat erkannt, welchen Einfluß der gestörte Sexualaffekt auf das gesamte geistige und moralische Leben des Individuums ausübt.

Die erotische Entbehrung bringt die Frau in die verkehrtesten Situationen, in die bedenklichsten Gefahren. Eine Hauptgefahr besteht darin, daß sie durch diese Entbehrung der männlichen Attacke ganz besonders ausgeliefert ist, in einer Weise, wie es, wenn sie die[374] volle Wahlfreiheit hätte, niemals möglich wäre. Dieser fortwährende schwere Druck, der auf ihrer Sexualsphäre liegt, trübt ihre Kritik, schwächt ihre Widerstandskraft, verdunkelt ihr Geistigstes. Nicht darin besteht ihre Abhängigkeit, daß der Mann der Wählende ist und nicht sie, sondern in den ungezählten Faktoren, welche das freie Werbespiel beiderseits verbieten und beschweren. Daß der Mann der Wählende ist und nicht die Frau, ist eines jener wenigen Phänomene, die nicht durch soziale Bildungen und Verbildungen entstanden, sondern ihr Gesetz in der Natur der Dinge haben. Der Mann kann sich zur Liebe nicht »wählen« lassen, da seine Fähigkeit dazu von gewissen Erscheinungen abhängt, die nur durch Begierde seinerseits in Aktion treten. Sie aber, die Frau, ist immer – zumindest physiologisch – »fähig« zur Liebe, zum Geschlechtsverkehr. Sie muß daher warten, bis sie Begierde erregt. Diese Begierde zu erregen, ist das tiefste und natürlichste Schicksal jeder Frau. »Lieber verwesen, als ein Weib sein und nicht begehrt«, bekennt selbst die stolzeste aller Frauen, die selbständigste, die Königin der Amazonen, Penthesilea. Wenn die Dinge normal zugehen, wird aber die Begierde des Mannes erregt, daher, ebenso normalerweise, auch die Werbung ihm zufällt, die Werbung um das Weib, auf daß es sich seiner Begierde überlasse. Das Phänomen des verkehrten Werbekampfes, wie es in unserer Kulturwelt auftritt, ist daher durchaus naturwidrig. Nicht zu werben, sondern zu sein, ist des Weibes Sache, unter natürlichen Bedingungen. Bei allen Naturvölkern, bei denen die Frauen sich mehr schmücken als die Männer, gilt dies, den Berichten der Naturforscher nach, als ein Zeichen, daß die Dinge in bezug auf die Werbung nicht so liegen, wie sie es natürlicherweise sollen. Dort, wo die Weiber am meisten geschmückt sind, nehmen sie in Wahrheit die untergeordnetste[375] Stellung ein. Macdonald berichtet von einem Stamm des östlichen Zentralafrikas, wo die Frauen auffallend geschmückt einhergehen: »Eine Frau kniet nieder, wenn sie Gelegenheit hat, mit einem Manne zu sprechen.« Dasselbe wird von den Guianas berichtet, während dort, wo die Frauen Einfluß haben, sie ganz bedeutend weniger Anstrengungen machen, durch ihre äußere Aufmachung das Männchen zu umwerben. »In Melanesien, wo die Frauen als Sklaven behandelt werden, sind sie es, die sich tätowieren, während in Polynesien, wo ihre Stellung günstig ist, diese Schmückung hauptsächlich auf Männer beschränkt bleibt.« Die Pracht, die von unserer Damenwelt heute entfaltet wird – werden muß – gestattet daher einen Rückschluß auf ihre tragische Lage, den Männern gegenüber. Putz und Herrschaft stehen in umgekehrtem Verhältnis zueinander, je mehr Herrschaft, desto weniger Putz und umgekehrt.

Mehr und mehr wird die Frau, die in jenen Jahren, die dem Leben mit dem Manne gehören sollen, einsam ist, in ihrer physischen und geistigen Entfaltung herabgemindert, in ihrem Temperamentsausdruck gedämpft. Man beobachtet dieses Erlöschen der Energien nicht nur bei alternden Mädchen, sondern auch bei jungen verwitweten und geschiedenen Frauen, die, auch wenn ein erotisch erfülltes Leben ihnen früher beschieden war, dennoch mehr und mehr »reduziert« werden, wenn es jählings abschneidet.

»Wir Frauen sitzen immer und warten«, sagt Elisabeth von Heyking in ihrem Roman »Der Tag anderer«. Der heutigen Frau ist aber dieses Warten in unnatürlicher Weise schwer gemacht, denn der, den sie erwarten soll, hat nicht nur die Aufgabe, ihr die Brünne zu sprengen, er soll sie auch noch aus allen möglichen sozialen Banden erlösen. Er soll womöglich Held Siegfried sein und eine passende Partie auch noch dazu.[376] Das geht meist über sein Vermögen. Man stelle sich einen Mann in so unmöglicher Lebenslage vor, eingepfercht in die Familie, die alle seine Lebensregungen überwacht, ohne selbständige Gravitation, ohne ein eigenes, nur aus ihm selbst kommendes Leitmotiv seines Lebens. Wie sehr würde er die »Objektivität« verlieren! Seine erotischen Absichten resp. ihre Verwirklichung hat der Mann in der eigenen Hand. Er sagt sich: ich werde heiraten, bis ich eine Existenz habe, so lange bediene ich mich der Prostitution oder kleiner Liebschaften. Was aber soll sich die Frau sagen? »Ich werde heiraten«, kann sie nicht sagen, denn es liegt nicht in ihrer Hand, wie es in der des Mannes liegt. Schon ziffermäßig ist, wie wir ja aus der Statistik erfahren haben, ein Überschuß von Millionen lediger Frauen notwendig, die, den Prinzipien der Monogamie gemäß, vom Geschlechtsleben abgeschnitten bleiben. Sie muß sich also sagen: Werde ich heiraten? In dieser Frageform liegt schon die ganze Bangigkeit und Abhängigkeit des weiblichen Geschlechtsschicksals, gegenüber der Sicherheit des männlichen. Werde ich heiraten – und wann, und wie, und wen? Und solange? Was soll sie anfangen »solange«, mit demselben Trieb in sich, der den Mann zur Benützung der Prostitution und kleiner Liebschaften führt?


Die erotische Entbehrung der besseren Frau ist heute außerhalb der Ehe schon deshalb fast unbehebbar, weil die pharisäische Auffassung der freien Hingabe dem Manne von heute seit Generationen vererbt und anerzogen ist und ihm daher tief im Blute sitzt. Kein edleres Weib wird einer Hingabe froh werden, wenn es weiß oder fühlt, daß der betreffende Mann es deswegen morgen verachtet oder geringer einschätzt als früher,[377] oder es auch nur im mindesten bezweifelt. Jeder erotische Impuls verfliegt der Frau im selben Moment, wo sie eine »Stütze der Gesellschaft«, die sich einen »Seitensprung« vergönnt, in ihm vermutet. Einer solchen Eventualität gegenüber, die heute zumeist besteht, trägt sie lieber weiter ihre Einsamkeit. Nazarenisch-neurotische »Reue« einerseits, pharisäische Verachtung andererseits, das sind dem heutigen Manne zumeist die Begleiterscheinungen des Lendemains einer freien Liebesstunde. Sein Unvermögen, das Verhältnis in heiterer Schönheit durchzuführen, zwingt die bessere Frau zu »freiwilligem« Zölibat.

Ein großer Teil der Männer ist auch für die nicht verheiratete Frau so gut als nicht existierend, denn diese Männer haben schon von vornherein »Angst« vor Beziehungen, die entstehen könnten. Die Prostitution befriedigt ihr dringendstes sexuelles Bedürfen, welches sich so auf die rascheste, bequemste und »ungefährlichste« (!) Weise erledigen läßt. Die ungeheure Schar von Frauen, die dieser Zahl Männer ziffermäßig entspricht, lebt geschlechtslos oder ist auf kurze, wechselnde Verhältnisse angewiesen. Diese Konstellation hat denn auch einen ganz neuen Typus hervorgebracht, einen Typus so tragischer Art, daß wir zögern, ihn zu benennen. Ich möchte ihn die »seltene« Frau nennen, das ist eine Frau, die eigentlich keine »Frau« ist, wie die Ehefrau, d.h. in geregeltem, durch die Jahre der Zeugungsfähigkeit anhaltendem Geschlechtsverkehr lebt, auch keine alte Jungfer, die niemals Weib war, auch keine Prostituierte, deren Geschlecht exploitiert wird, sondern eben die »seltene« Frau, ein Weib, das in den Jahrzehnten seiner Jugend einige kurzwährende Liebeserlebnisse hat. Dieser Typus Frau ist häufiger, als man meint, über ihm ruht die tiefste Tragik, denn solch eine Frau wurde begehrt und hat begehrt, ihre Resignation[378] muß daher eine tiefe Störung ihres gesamten vitalen Systems bedeuten. Soviel mir bekannt, hat nur ein einziger Pathologe, der Wiener Arzt Professor Freud, die Störungen, die durch vereinzelte sexuelle Erlebnisse bei Menschen, die im allgemeinen abstinent zu leben gezwungen sind, in Evidenz genommen. Unter den Ursachen der »Angstneurose«, die wir später noch des genaueren darstellen werden, nennt Professor Freud auch diese. Die Abstinenz der Frauen hat tatsächlich einen Umfang, der weit größer ist, als man es sich gewöhnlich vorstellt. Es gibt kaum einen Mann, der eine solche Abstinenz ertragen würde, ohne darüber in schwere Perversionen zu geraten, etwa Onanist zu werden. Millionen Frauen aber leben vollkommen geschlechtslos und sind nur auf jene oben angedeuteten, kurzwährenden Geschlechtserlebnisse, die man mehr Geschlechtsreizungen nennen könnte, da sie die volle Auslösung der erregten Spannungen zumeist nicht bieten, angewiesen. Der Mann kann das gar nicht ausdenken! Noch weniger kann er die Zwiespältigkeit des Empfindens einer solchen Frau ermessen. Diese Zwiespältigkeit besteht in der gesunden, fordernden Begierde einerseits und in der notwendigen Abwehr andererseits, notwendig deshalb, weil die gemachten Erfahrungen zu einer Abwehr zwingen. Daß diese Spaltungen und Widersprüche zwischen dem Triebleben und den Vernunftentschließungen die psychische Einheit mehr und mehr gefährden, ist klar. Ein moderner großer Dichter hat dieses Phänomen in seiner ganzen unheimlichen Unnatur erkannt und gestaltet. Frenssen hat in seinem Roman »Hilligenlei« die tödliche Vereinsamung blühender, jugendlicher Weiblichkeit geschildert. Es scheint mir ein wunderbar tiefer Instinkt, der ihn dazu geführt hat, dieses Schicksal gerade an dem vollkommensten Weib seines Romans darzustellen. Anna Boje, herrlich an Leib und Seele, voll erblüht, geht in[379] finsterer Nacht über die Heide und schluchzt in den Sturm, ruft Gott an, sie vom Leben zu befreien. Immer dunkler wird es in ihr, dunkler noch, als die Nacht selbst ist, schließlich schwelgt sie in der Vorstellung, begraben zu sein, tief drinnen zu liegen in der Heide, tief in der braunen, gebärenden Erde, damit dann doch »etwas aus ihr wachse«, vielleicht ein Strauch, vielleicht Heidekraut, vielleicht auch nur Unkraut, aber irgend etwas wird dann doch aus ihr herauswachsen. Ich wünschte, unsere ganze Zeit verstünde, was der Dichter da geschaut und gesagt hat. Das herrliche, jugendliche Weib, die berufene Geliebte und Gebärerin ist ihrer Geschlechtsbestimmung durch dunkle, übermächtige Gewalten entzogen, ihr jugendstarker Schoß darf nicht empfangen, nicht tragen, nicht gebären. Alles aber in ihr, jeder Blutstropfen schreit danach, daß »etwas aus ihr wachse«. Und so will sie lieber tot und begraben sein, Staub und Erde werden, damit sie dann dieses Schicksal erfülle. Er erzählt auch, dieser Dichter, wie dem Mädchen trotz seiner Einsamkeit vor allen diesen entarteten Wichten, die sie umgeben, graut. Wie sie jeden einzelnen ansieht auf die Möglichkeit hin, sich ihm zu ergeben, und wie sie sich vor Ekel schüttelt bei dem bloßen Gedanken. Wie sie sich schließlich dem verheirateten Mann für eine kurze, knapp bemessene Zeit, deren Ende sie bevorsieht, hingibt – also zur »seltenen« Frau wird – nur weil er eben noch am ehesten einem Manne gleich sieht. Daß die Zeit es niemals vergäße, was der Dichter da geschildert hat.


Das Überwiegen der sexuellen Frage in der Literatur, besonders in der Frauenliteratur hat viele mit »dégout« erfüllt, besonders die, die satt und sicher im Hafen sitzen. Das grausigste aber ist, daß diese Schilderungen wahr sind, daß sie dem Leben entsprechen, daß viele[380] junge, liebestaugliche Frauen vereinsamt sind, sich verzehrend nach ein bißchen Licht und Liebe, nach einem natürlichen Schicksal. Die von der Gesellschaft ausgeübte Absperrung der erotischen Möglichkeiten betrügt sie darum, ihre Blüte bleibt ungenossen, ihr Schoß steril, und während der junge Mann, tief gedemütigt, bei der Prostituierten »Erleichterung« sucht, seine angehäufte Manneskraft in deren Schoß ergießt, nicht selten die Zähne zusammenbeißend, die Augen schließend, den Ekel nur mit großer Mühe niederhaltend, hier sich ausgibt, weil er kein Weib hat, sitzt dieses Weib mit sehnsüchtigem Herzen und gequältem Körper, der in seiner Blüte verlangt, genossen zu werden, verbittert, vereinsamt, von Verödungsgefühlen dem Selbstmord nahe gebracht und zehrt sich auf nach dem – was zur Prostituierten getragen wird. Noch ein anderer hat in einer schaurigen Fabel dieses unwahrscheinliche Elend dargestellt. Strindberg hat in seinem Einakter »Fräulein Julia« mit genialem Griff die Tragödie des verblühenden, von erotischem Mißgeschick verfolgten (ein zurückgegangenes Verlöbnis wird unsagbar diskret erwähnt) und dadurch mit sexuellen Spannungen förmlich geladenen, noch jungfräulichen Mädchens dargestellt, das an den Lakaien gerät, an den Jean – warum? Weil er da ist. Der Zustand eines Mädchens, bei dem das natürliche erotische Erlebnis ausbleibt, dessen Hoffnung darauf mit fortschreitenden Jahren mehr und mehr sinkt, und dessen Widerwillen gegen diesen erzwungenen Zustand immer erdrückender anwächst, muß nach und nach zur Psychose werden, zur tiefen Bedrückung des gesamten Organismus.

»Welche Entlastung erfolgt schon aus der prinzipiellen Anerkennung des moralischen Standpunktes, der die sexuellen Naturtriebe als Kraftquelle eines fröhlichen, die Entwicklung nach aufwärts weisenden Kampfes gut[381] heißt.« So Professor Ehrenfels. Er findet in der Begeisterung eine blütenreiche Ausdrucksweise, wird zum Dichter, um die Wonnen der von ihm angestrebten Polygamie zu preisen103. »Welche Fülle befreienden Phantasieaufschwunges erblüht schon dem ärmsten polygamen Erlebnis, wenn es geheiligt und gehoben wird durch das Bewußtsein der tätigen Teilhaberschaft an dem großen Werk der sexuellen Reform.« So ernst wir die Vorschläge von Ehrenfels zu untersuchen beabsichtigen, so können wir uns doch nicht enthalten, hier zu fragen: wer lacht da? Es fordert in der Tat Heiterkeit heraus, wenn ein Mann vorgibt, daß seinen polygamen Erlebnissen so viel befreiender Phantasieaufschwung entblühe, lediglich durch das »Bewußtsein« der tätigen (!) Teilhaberschaft an dem großen Werk der sexuellen Reform. Ja, ja, was tut man nicht alles, um einem Reformgedanken so aktiv wie möglich zu dienen.

Wir begreifen diesen »Schrei des Mannes«, wann aber wird sich der Mann auch nur annähernd in die Lage der Frau hineindenken können, wann begreifen können die Vorstellungsmassen, die da in ihrem Unterbewußtsein geknebelt liegen und die Freiheit des Oberbewußtseins wie Barrikaden versperren. Und wenn der gesunde junge Mann eingesteht, nicht nur der polygamen erotischen Erlebnisse, sondern sogar der Prostitution zu bedürfen, weil er alle acht bis zehn Tage eine Entladung seiner sexuellen Energien braucht, wenn selbst die Gesellschaft die Prostitution aus diesem Gesichtspunkt toleriert mit der Motivierung, daß Arbeits- und Lebenskräfte des Mannes von dieser notwendigen Entladung abhängen, – wie hat sie diese Frage für die Frau gelöst? Sie hat eine Vorschrift gegeben des Inhalts, diese Frage existiere[382] nicht für sie, ohne den Schatten einer naturgemäßen Begründung. Ist der normale, gesunde Mann nach zweiwöchentlicher Enthaltsamkeit von Beschwerden geplagt, die ihn arbeitsunfähig machen, so stelle man sich die kräftige, gesunde Frau vor, die immer, oder doch jahrelang, ohne diese Auslösung ihrer sexuellen Spannungen dahinlebt, der reale und moralische Schwierigkeiten aller Art den Weg zu primärer Äußerung ihres sexuellen Empfindens verrammeln. Die »Ehrbarkeit«, die nicht nur die Erziehung übermittelt, sondern die uns durch viele Generationen angezüchtet ist, macht auf diese Art zu Krüppeln. Wir haben weder den Mut noch die unbefangene Laune, noch die geeigneten Partner, eine sinnliche Nötigung als solche anzuerkennen und ihr fröhlichen Gemütes freien Spielraum zu geben. Ohne die Verwicklungen und Gefahren der »großen Liebe« gibt es für uns keine erotische Entladung. Die Folgen sind unaufhörliche Liebesverwicklungen, die zumeist in Jammer enden, innere Beladenheit und Unfreiheit, die die Lebensmaschinerie belasten, Beschwerung aller Sinne. Judentum und Christentum haben diese »ethischen« Gebirge aufeinander getürmt, unter denen die menschliche Schönheit und Freiheit begraben liegt, aus den Moralen sind wirtschaftliche »Ordnungen« entstanden, welche dem letzten Rest freier Selbstbestimmung den Garaus gemacht haben. Die ungeheuerliche Überlegenheit des Mannes über das Weib stammt aus seiner sexuellen Freiheit weit mehr, denn aus seinem wirtschaftlichen Übergewicht.

Die sexuelle Spannung kompliziert sich bei der Frau noch durch das Bedürfnis des weiblichen Organismus nicht nur nach erotischer Anregung, sondern nach Mutterschaft. Die gesunde junge Frau muß Mutter sein dürfen, sonst wird sie nervenkrank. Sie braucht nicht nur den Geschlechtsakt, sondern die Schwangerschaft, die »Reinigung«[383] durch die Geburt, die Entlastung durch das Stillen und den Affekt der Liebe zum Kind. Ich wehre mich gegen die vielen »ethischen« Begründungen, mit denen manche Frauenrechtlerinnen diese Forderung vorzutragen pflegen, gegen jene dicken, schweren Hüllen, in die sie die natürlichsten Ansprüche einnähen wie in Säcke, und welche sie in den Augen der Männer darum so oft lächerlich erscheinen lassen. Es ist an der Zeit, daß man der unverballhornten Wahrheit Spielraum gibt, ich berufe mich auf Naturwissenschaft und Naturrecht, auf Naturwillen und sozialen Willen, wie er durch die Gattung spricht, auf die deutliche Forderung unverdorbener Instinkte. Goethe sagte einmal, die Deutschen sollten das Wort »Gemüt« hundert Jahre nicht aussprechen. Ich meine die Frauenrechtlerinnen sollten die Worte »ethisch« und »seelisch« ein paar Jahrzehnte in Ruhe lassen, damit sie wieder Bedeutung bekämen.

Wenn ein Mann eine Kette unglücklicher Liebesverhältnisse zu durchleben gezwungen ist, wie z.B. Goethe, so kann er über solch ein Schicksal hinweg durch den Ausweg der – Nebenliebe, sagen wir, oder der Seitenliebe, der ihm gelassen ist. Hier macht sich die durch die seelische Erschütterung doppelt bedrängte physische Natur Luft. Der Frau fehlt dieser Ausweg, sie muß alles das, was gerade durch solche Erlebnisse am stärksten zu irgendeiner Entladung drängt – »abreagieren«, wie es Freud genannt hat – in sich anhäufen, und wenn es ihren Organismus zerreißt. Darum muß sie an solchen Erlebnissen gewöhnlich zugrunde gehen. Darum ist unsere Zeit so unheimlich überfüllt von weinenden, kämpfenden, tief unbefriedigten, ihres Lebens schwer überdrüssigen jungen Frauen.

Nach Krafft-Ebing treten die meisten Fälle von Irresein bei Frauen im Alter von fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren auf, wo »bei ledigen Weibern Liebes- und[384] Lebenshoffnungen das Gemüt erregen, und, oft getäuscht, schwere geistige Wunden setzen, während« – so lautet der Schluß des Satzes – »bei geschlechtsfunktionierenden Frauen die schwächenden Einflüsse von Geburten, Laktationen zu Geltung gelangen«. Während wir aber die Schwächung durch normale Vorgänge wie Geburten, Laktationen als ausgesprochene Degenerationsmerkmale betrachten müssen, die durch vernünftige Individual- und Rassenhygiene zu beheben sind, muß das Gebrochenwerden bis zum Irresein durch gewaltsame geschlechtliche Entraffung im Alter, »wo bei ledigen Weibern Liebes- und Lebenshoffnungen das Gemüt erregen«, durch die Sterilisierung bei gesundem Leibe in den zur Geschlechtstätigkeit bestimmten Jahren als ein durchaus normaler Vorgang betrachtet werden, als unausweichliche Folge einer solchen ungeheuerlichen Vergewaltigung der Natur, daher hoffnungslos, unheilbar durch medizinische Hygiene, heilbar nur durch soziale Hygiene, d.h. Gesundung des kranken Gesellschaftskörpers, Ausscheidung siecher Moralgesetze und Ersatz jener Moralbestandteile unserer »Ordnung«, die da vermoulue geworden sind, durch gesunde.

Wie viele Frauen sich förmlich zu Tode frieren, kann man gar nicht ermessen. Sie erfrieren an der Leblosigkeit, Sinnlosigkeit ihres Daseins. Und welch leichte Beute ist das Weib dem Manne, der werbend in solcher Öde zu ihr tritt, wie ist sie ihm überliefert – weil es für sie keine, gar keine Möglichkeit gibt, sich irgendwo eine Stunde der Freude, irgendwo, wenn sie in Frost, Angst und Einsamkeit vergeht, wenn »das häßliche, zweideutige Geflügel, das leidige Gefolg der alten Nacht«, von dem im »Tasso« die Rede ist, ihr Haupt umflattert, Licht und Wärme zu holen. Eine direkte Folgeerscheinung dieses Elends ist daher die Entwürdigung der Frau. Sie verliert das, was ihr in der Erotik das eigentlich[385] Gemäße ist – die ruhige Passivität und damit ihr eigentlichstes Wesen. Das geschlechtliche Darben macht die Frauen würdelos, ruhelos, nimmt ihnen Halt und Frieden, nimmt ihnen die ruhige Zentralisation in sich selbst, die das Wesen des an sich Weiblichen ist, macht sie zu seelischen Schmarotzern an anderen, die allem und jedem nachjagen, um ihre Öde zu betäuben, und die, wenn sie nicht zufällig in irgendeiner Lebensaufgabe Fixierung finden, sich immer mehr und mehr verlieren. In diesem Aushungerungszustand ist das gar nicht anders möglich, Scham, Würde, Vernunft können sich eben bei solcher Konstellation nicht behaupten, es sei denn, daß das Übel schon so weit fortgeschritten ist, daß eine direkte Ablehnung gegen jede erotische Möglichkeit an Stelle der früheren Sehnsucht danach tritt, ein Zustand, den der Arzt und Psychopath sehr gut kennt. Wie die Situation heute ist, muß die temperamentvolle, von Natur hingebende Frau es lernen, aus ihrem Herzen künstlich eine Mördergrube zu machen. Im Zustand des sexuellen Darbens bekommt ihr Wesen – und wenn sie die reinste Seele hatte – entweder etwas Abweisend-Herbes oder etwas Buhlerisches jedem Manne gegenüber, der einigermaßen Eindruck auf sie macht. Und, im Gegensatz zu ihr – die befriedigte, glückliche Frau hat etwas Mütterliches, Gütiges, Demetrisch-Reines im Verkehr mit dem Manne.

In einem Vortrag sagte Lili Braun einmal: »Durch die Liebe kann man nicht fallen, sondern nur steigen.« Ach, wie sehr kann man durch die Liebe fallen, sinken, tiefer und tiefer gleiten. Freilich nicht in dem landläufigen Sinn ist dies gemeint. Nicht die sexuelle Hingabe macht den Fall aus, sondern die seelische Hörigkeit, in die die Frau zu geraten pflegt, ihre innere Versklavung, die sie mehr und mehr um die eigene Persönlichkeit bringt, bedeutet ihr »Fallen«. – Es gibt viele Männer,[386] die des Kontaktes mit dem Weibe wenigstens insofern bedürfen, daß sie jeden Tag zumindest eine Frau sehen und sprechen müssen. Diese selben Männer haben nicht selten nicht das geringste Verständnis für dieselbe Nötigung beim Weibe. Die Einsamkeit der jungen Weiber schreit zum Himmel. Liebesbeziehungen außerhalb der Ehe werden, unter den gegebenen Bedingungen, zu bloßen Aventuren, die zumeist böse ausgehen. Und da die Ehe selbst immer schwieriger wird, am schwierigsten aber für die Feinergearteten, so ist die Situation trostlos. Die etwaigen »Ablenkungen« von diesem Elend durch Beruf, Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft, soziale Fürsorge, Naturgenuß usw. sind nur unvollständige. Wenn man die Frau auf diese Betätigungen als Ablenkung verweist, so ist das so, als wollte man sagen, wenn jemand atmet, braucht er nicht zu essen oder zu schlafen, oder weil er Stiefel hat, braucht er keinen Mantel. Diese Betätigungen sind viel zu positive Werte, um als »Ablenkungen« mißbraucht zu werden. Sie ersetzen nicht andere, ebenso notwendige Betätigungen, und je gesunder und vollkommener ein Organismus ist, desto notwendiger wird ihm natürliche Aktion in allen ihm bestimmten Zonen, daher auch in der der Sympathie, der Vertrautheit mit einem Wesen des anderen Geschlechtes. Das Unglück für die Frau liegt nur darin, daß sie von dieser Vertrautheit auch immer noch eine Menge anderer Dinge will und braucht als der Mann. Ein tiefer Naturinstinkt lehrt sie eben, den vielfachen Wechsel dieser Beziehungen fürchten. »Wer den ersten Knopf verfehlt, wird mit dem Zuknöpfen nicht fertig«, lautet ein Spruch von Goethe. Eine Frau, die einmal »Unglück« in der großen Sache, die das Liebeserlebnis für sie heute auch sozial und moralisch bedeutet, hatte, kommt nur schwer wieder ins richtige Geleise. Das eine Mißgeschick zieht neue,[387] besondere Folgen der Vereinsamung, der Erschwerung der neuerlichen Wahl und dabei das um so zwingendere Bedürfnis nach neuer Gemeinschaft mit sich, daher sie, zumindest in den Jahren, in denen ja die natürliche Leidenschaft am stärksten ist, nur allzu leicht wieder in eine neue Beziehung gerät, die die wahrhaft »richtige« Gewähr für glücklichen und dauernden Bestand nicht bietet. Aber wollte sie auf diese ganz »richtige« Beziehung warten – sie käme vielleicht niemals überhaupt zu irgendeinem Erlebnis der Liebe, und die normale Frau wird eben ein solches Schicksal nicht ertragen, lieber sich in die Gefahren solcher Beziehungen stürzen, die, wenn sie auch nicht gesichert erscheinen, ihr doch ein Teil eines natürlichen Schicksals bieten. Solange die Frau nicht in ihrem Charakter gefestigt ist, sind solche Erlebnisse eine schwere Gefährdung für ihre Charakterbildung überhaupt. Sie gerät in die Gefahr einer psychischen Zersplitterung, Diffusion. Denn will der eine Mann die »Herrin« in ihr, so will der andere das in Hingabe zerschmelzende Weib; jener wünscht sie häuslich, dieser wünscht sie weltlich, dieser philosophisch-asketisch, jener üppig-hetärisch usf. Und das liebende und liebebedürftige Weib versucht immer wieder – d.h. solange ihr ihr eigenstes Wesen nicht deutlich und unverdrängbar geworden ist – eine neue »Anpassung«! Das ist ein Kapitel »Hörigkeit« von ganz besonderer Art. Das mögliche Elend der Frau auf erotischem Gebiete ist eben deshalb ein besonderes, weil ihr jede Möglichkeit momentaner Erleichterung aus qualvollster Einsamkeit fehlt. Unzählige junge Frauen haben öfters, als man annimmt, keinerlei, selbst keinerlei freundschaftlich vertraute Beziehungen mit dem anderen Geschlecht, Millionen Frauen sind vollkommen einsam. Vereinsamt sind sie in ihrem Liebes- und Zärtlichkeitsbedürfnis, in ihrem Bedürfnis zu empfangen und Frucht zu tragen. »Wenn[388] tief im Schoße der Jungfrau, auf den Wink des kreisenden Mondes, sich eine winzige Zelle löst, um durch einen schmalen Gang in die heimliche Kammer hinabzusteigen, so harrt sie hier einige Tage, ob nicht ein kühner Eroberer von außen eindringe und ihr Dasein in neue Bahnen lenke. Und der kleinen Zelle zu Ehren bringt der stolze Körper des Mädchens blutige Opfer dar. Aber bald, wenn kein Eroberer erscheint, um sich der bräutlichen Zelle zu bemächtigen, läßt der Körper nach mit seiner nährenden Opferspeise, und die Lebenskraft der Zelle versiegt. Dringt nun vielleicht auch nachher im stürmischen Jubel eine wilde Schar kecker Eroberer in das heimliche Gemach, so geht es ihnen wie den Römern vor dem Raub der Sabinerinnen, so geht es ihnen wie so vielen Eroberervölkern, die ruhmlos untergingen, weil ihnen die Nachkommenschaft fehlte. Und wieder kreist der Mond. Und wieder reißt sich eine Eizelle los von dem Boden, auf dem sie gewachsen ist, und kommt in jenes Brautgemach, welches jedes Weib in seinem Innern trägt. Und wieder fließen blutige Opfer. Und wieder dringt kein Bräutigam in das Gemach, das anscheinend für ihn bereitet ist«104.


Eine besondere Einsamkeit umgibt jene schon erwähnten »neuen« Frauen, denn der Mann, der für sie in Betracht kommt, ist heutigentags nur allzu vereinzelt da. Die Zahl dieser sehr feinen und ein sehr kultiviertes Eigenleben, welches keine unsauberen Kompromisse duldet, führenden Frauen wächst von Tag zu Tag, und sie entbehren des Genossen. Der geringe Mann scheitert am Wege zu ihnen, er durchdringt nicht das »Feuer« ihrer Persönlichkeit. Dieser höheren Frau kann auch nur das tiefe Erlebnis – besonders in Anbetracht[389] des heute herrschenden geschwächten Liebesvermögens des Mannes und seiner unhellenischen Gesinnung – Befreiung bringen. Bleibt es aus, oder wird es ihr wieder genommen, so ist sie nicht nur ihrem Gemütsleid, sondern auch der sexuellen Entbehrung vollkommen preisgegeben, denn zu einem frivolen Erlebnis wagt sich, zur Ehre des Mannes sei es gesagt, kaum ein Mann an sie heran. Eine solche Frau wird immer ernst umworben, oder gar nicht. An sie tritt nicht so leicht ein Mann mit einem Wunsch, einem Begehren, einer Forderung heran, es sei denn, daß er ihr alles – die ungeteilte, restlose, dauernde Hingabe zu bieten hätte. Und da dieser ihr gemäße Typus Mann – der Mann, dessen liebesstarkes Herz eine tragefähige Brücke zu ihrer Persönlichkeit baut – ihr nur sehr selten überhaupt begegnet, und am allerseltensten unter Verhältnissen, die eine Dauerverbindung möglich erscheinen lassen, bleibt gerade diese Frau am ehesten einsam. Von den Kämpfen eines solchen Frauenherzens gibt uns Rahels Lebensgeschichte ein erschütterndes Bild. »Heiteren Geistes, traurigen Herzens« – so war sie nach ihren Enttäuschungen geworden. Die Gefahr der Vereinsamung gerade dieser höheren Frauen ist auch eine Gefahr für die Gesamtheit. Denn wenn diese »geistig hochmütigen Frauen ohne leibliche Nachkommenschaft sterben, ihre kraftvollen Individualitäten sich nicht fortpflanzen«105, so ist das keinesfalls ein Vorteil für die Rasse. Die Erzieher und Lehrer der folgenden Epoche »haben dann fortgesetzt die Aufgabe, die dümmsten Schädel zu erhellen«. Und die Sehnsucht gerade solcher Frauen ist besonders stark, tief und strahlend. Solange in ihrer durch die Regsamkeit ihres Geistes verlängerten Jugendlichkeit in ihrer Seele alle Kräfte in Blüte stehen, so lange glaubt solch eine Frau auch instinktiv an ihren Stern, an den Stern,[390] unter dem aus Zweien Eines wird, ein Einziges und Untrennbares. Aber es kommt ein Tag, wo sie ihre Sehnsucht traurigen Herzens entläßt und der Entschwindenden trüben Blickes nachsieht, müde von vergeblicher Pilgerfahrt. Ein Mann war es, der große Fläme Maeterlinck, der das Lied dieser Sehnsucht und dieser Resignation gefunden hat:


»Schwestern, ich suchte dreißig Jahr:

Wo mag er verborgen sein?

Schwestern, ich pilgerte dreißig Jahr

Und holte ihn doch nicht ein.


Schwestern, ich pilgerte dreißig Jahr:

Nun sind die Füße mir schwer.

Schwestern, er war überall

Und ist nirgends mehr.


Schwestern, trübe die Stunde rinnt:

Zieht mir vom Fuße die Schuh'.

Schwestern, auch der Abend sinkt,

Und meine Seele sucht Ruh'.


Schwestern, sechzehn Jahre alt,

Wandert weit von hier.

Schwestern, nehmt meinen Stab zum Halt

Geht und sucht gleich mir.«


Ist es denkbar, daß derartigem Elend jemals abzuhelfen ist? Ja. Denn wenn auch nicht zur »richtigen« Dauerehe – zur Mutterschaft könnte in einem gesunden Sexualsystem jede gesunde, begehrte Frau Gelegenheit haben. Wenn nicht die gespenstige Formel »er muß sie heiraten«, oder »er ist verheiratet«, oder »er oder sie wollen sich anderweitig verheiraten« neben jedem Liebesverhältnis stünde, hätte jede Frau, die heute, trotzdem sie Begehren erregt, vereinsamt bleibt, noch hundertmal mehr Gelegenheit, begehrt und geliebt zu werden. Daß diese Möglichkeit frei werde, frei vor allem durch ökonomische Sicherung der durch die Mutterschaft am Erwerb verhinderten oder darin unterbrochenen Frau, frei durch[391] die gesellschaftliche Rehabilitierung auch der unehelichen Mutterschaft, eine Forderung, die vor allem der »Deutsche Bund für Mutterschutz« stolz und kühn und ganz offiziell auf seine Flagge geschrieben hat, frei durch die moralischen Voraussetzungen, mit denen beide Partner an das Verhältnis herangehen, frei von den Bleigewichten an Sinnen und Seele, die heute in jedem Liebesverhältnis die Beteiligten belasten, ist notwendig. Daß das »volle Glück« in einer Einheit von Mutter und Kind, ohne den Vater des Kindes, zu finden sei, behaupten wir nicht. Aber dennoch scheint es ganz außer Frage, daß die Gesellschaft zu dieser Einheit als Basis ihrer Sexualordnung zurückkehren müssen wird, daß, nach der kurzen Verirrung ins Vaterrecht, wieder das Matriarchat die natürliche Familieneinheit wird. Im zweiten Buch dieser Arbeit soll das Wesen des Matriarchats eingehend untersucht werden, in einer Darlegung, aus welcher hervorgeht, wie erstaunlich kurz tatsächlich in der Geschichte der Menschheit die Geschichte des Vaterrechts ist, welch episodischen Charakter diese Familienform, die auf keinem Naturwillen basiert, trägt. Bis in die Urzeiten der weiblichen Prophetie hinein ragt die Institution des Mutterrechtes, in der die unlösliche Zusammengehörigkeit von Mutter und Kind und die einzig sichere Familiengemeinschaft zum Ausdruck kam, und die nichtsdestoweniger auch den Vater der Kinder der Familie – schon dadurch, daß sich Grundbesitz nur in weiblicher Linie vererbte – zumeist in monogamer Eheform verband. – Aber selbst wenn der Vater fehlt, so ist ein solches Schicksal für die Frau tausendmal besser (immer unter der Voraussetzung, daß sie dadurch nicht in Not und gesellschaftliche Verachtung gestoßen wird), als daß sie unter der Bürde des völligen Verzichtes als Liebes- und Geschlechtswesen, die heute Millionen Frauen aufgeladen wird, dahinlebt. Ist ihre Befreiung von diesem Verzicht eine anerkannte und gebilligte, so wird[392] sie auch gar nicht in die Lage kommen, derart zu vereinsamen, wenn selbst der eine Mann sie verläßt, wie heute. Hat ihr Kind nicht den »natürlichen« Vater, so hat es im Freund der Mutter vielleicht einen besseren. Auch wird der Mann gerade, wenn er sich frei fühlt, in dem Sinn, wie heute die unverheiratete Frau frei ist, nämlich vogelfrei – einer natürlichen psychischen Suggestion folgend, das Recht an seinem Kinde erobern wollen, und wahrscheinlich häufiger der Mutter ergeben bleiben als heute, wo er sich durch jede derartige Beziehung sofort »eingefangen« fühlt. Daß eine Frau, wenn der eine Mann sie im Stich läßt, oder auch, wenn sie über ihn hinauskommt – nicht auch mit anderen Männern, zu denen sie im Laufe des Lebens in Liebesbeziehungen gerät, Kinder haben soll – immer vorausgesetzt, daß es gesunde Kinder sind – dagegen läßt sich kein, aber auch gar kein vernünftiger rassenbiologischer Grund auffinden. Im Gegenteil: eine viel intensivere Auslese kann auf diese Art am Werke sein, als sie heute bei der einmaligen und einzigen Bindung, die halb im Dunkeln abgeschlossen wird, am Werke ist. Inwieweit eine Gesellschaft ihre Geburtenrate steigern will, wird sie national-ökonomisch und durch direkte Initiative der Mutter gegenüber bestimmen müssen. Durch diese direkte Liierung mit der Mutter kommt der Staat überhaupt das erstemal in die Lage, seine Geburtenrate planmäßig zu regeln, während er jetzt fortwährend allen möglichen Krisen, bald der Über-, bald der Unterbevölkerung ausgesetzt ist. Auch dürften innerhalb einer solchen anderen Sexualordnung durchaus nicht so sehr viel mehr Kinder geboren werden als heute, nur eben – und hier ist der springende Punkt – in anderer Verteilung, und gerade das ist wünschenwert. Weder würde sich der Erwerbsschwache noch der Kranke – bei offizieller Verbreitung der Kenntnisse des Präventivverkehrs und dem gesellschaftlichen Veto einer rassenschädlichen Vermehrung[393] gegenüber – so überreich fortpflanzen, wie es heute gerade in diesen Schichten üblich ist, noch würde die Mitgifttochter ohne besondere Vorzüge, noch der degenerierte Mann zur Vermehrung gelangen; wenn der Mann keinen komplizierten »Hausstand«, das Weib keinen Ernährer braucht, würden mindere Individuen viel häufiger aus dem Rasseprozeß geschieden werden und dafür schöne, starke und begehrte Menschen zur Fortpflanzung gelangen. Nicht um vermehrte Paarung, sondern nur um andere Formen und Voraussetzungen der Paarung und andere Zusammenstellung der Paare handelt es sich.

Die Fortpflanzung muß frei werden von der Ummauerung durch die Ehe. Das hindert nicht, daß die Ehe selbst, als vielfach bevorzugte Form der Geschlechtsgemeinschaft, bestehen bleibt, nur als einzige Basis der Generation soll sie nicht ausschließliche Geltung behalten. Die Forderung dieser Legitimität muß entfallen, soll das Gesetz der freien Auslese wirklich wieder in Kraft treten und edle Früchte zeitigen. Durch die Opfer, mit denen die Bevorzugung dieser Legitimität erkauft wird und in Anbetracht der Früchte, die sie als Monopol der Fortpflanzung zeitigt, hat sie ihre Berechtigung zu solcher Bevorzugung und Monopolisierung nicht erwiesen. Die Millionen Opfer der Zölibatäre, der Prostitution und die Früchte einer gewaltsamen Unterbindung der Zuchtwahl lassen sie als zu teuer bezahlt erscheinen.


Ein wunderbares bewußtes Werbespiel würde dann endlich wieder nach normalen Gesetzen vor sich gehen. Jetzt wird nicht »geworben«. Man erheiratet, man erkauft heutzutage Geschlechtsgunst, man resigniert darauf oder man »verführt« dazu, mit dem bösesten Gewissen auf beiden Seiten. Aber eigentliche, feurig-frohe, deutliche und natürliche Werbung des Mannes um das[394] Weib gibt es kaum. Die kann nur vorwalten, wenn niemandem schlimme Konsequenzen erwachsen, wenn beiden Teilen Freude wird durch Erhörung. Wir ersticken und verkümmern heutzutage in dieser absonderlichsten Dürre, mit der uns die Zuchtrute einer lügentollen »Moral« geschlagen hat.

Welch ein wunderbares Drängen nach Gunst und Minne könnte bei Anerkennung der Notwendigkeit auch des außerehelichen erotischen Verkehrs und der gesellschaftlichen Rehabilitierung seiner Übung wieder Spielraum finden, wieviel jetzt hoffnungslos daniederliegende und zertretene Lebensfreude würde sich aufrichten und neue Blüten treiben. Durch den erlaubten und ermöglichten erotischen Kontakt würde auch eine Fülle von seelischer Vertraulichkeit frei, dort, wo heute nur öde, leere, konventionelle Formeln den gesellschaftlichen Verkehr beherrschen und ihn zu einem Kontakte machen, der in Wahrheit niemanden erleichtert, sondern, im Gegenteil, Spannungen und Bedrückungen hervorruft. Wie frei und traulich werden Menschen miteinander, wenn auch nur ein einziges Mal ihre Lippen einander berührt haben. Wie blüht und sprießt es da hundertfältig zwischen ihnen, selbst wenn sie früher kaum Worte fanden, die Konversation fortzuschleppen. In wieviel höherem Grade wäre dieses seelische Füreinander-Erblühen der Fall, wenn das erotische Erleben mit völlig gutem Gewissen und in ungetrübter Heiterkeit geschehen könnte. Welche Fülle des Daseins! Wie würde man da auch für sein soziales Schaffen elastisch beflügelt, während jetzt durch das geknebelte Geschlechtsgefühl der Organismus manchmal kaum imstande ist, sich weiterzufristen. Wie kann ein Mensch, dem der tiefe Gram darüber, daß er jedes Bedürfnis nach Zärtlichkeit in sich ersticken muß, daß er aus seinem vielleicht reichen Herzen eine Mördergrube machen muß, daß er seine leibliche und seelische Blüte verwelken lassen[395] muß, weder sich noch anderen zur Freude – an der Seele zehrt – wie kann solch ein Mensch die Pflichten und Lasten des Daseins elastisch tragen? Dieser tiefe Gram, der heute an Millionen Menschen zehrt, Männern und Frauen, dieser Gram des unbenützten Geschlechtes ist ein Hemmschuh im Kampf ums Dasein, eine Belastung, die nicht geeignet ist, zu immer höherer »Tauglichkeit« zu führen. Und was immer ich hier in diesem Buche sage an Dingen, die vielleicht so manchem Anstoß erregen – ich sage es im Namen dieses Grames von Millionen – im Namen eines Elends, das unsere Blüte bricht und uns hindert, Frucht zu tragen.

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Auf die Reformvorschläge, die Prof. Ehrenfels in der sexuellen Frage macht, werden wir, wie erwähnt, im zweiten Buch dieser Arbeit des näheren eingehen.

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Dr. Alexander Koch-Hesse.

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Ruth Brée.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 374-396.
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Die sexuelle Krise
Das Wesen Der Geschlechtlichkeit (1); Die Sexuelle Krise in Ihren Beziehungen Zus Socialen Frage & Zum Krieg, Zu Moral, Rasse & Religion & Insbesonder
Das Wesen Der Geschlechtlichkeit: Die Sexuelle Krise in Ihren Beziehungen Zus Socialen Frage Zum Krieg, Zu Moral, Rasse Religion Insbesondere Zur Monogamie (German Edition)

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