4. Die psychopathischen Folgen des sexuellen Elends
»Matt, elend und erschöpft« – Bewußtseinsspaltung – Ursachen der Hysterie – Die Forschungen von Breuer und Freud – Zersprengung der phychischen Einheit durch die Nötigung, Sexualaffekte »abzureagieren« – Die Sexualneurose.

[396] Ich komme zu dem düstersten Punkt meiner Abhandlung: zu den Folgen, die das sexuelle Elend, die alle die Verschrobenheiten auf sexuellem Gebiete auf das Psycho-Physische der Menschen, auf ihre Gesundheit, auch da, wo sie ihr Seelenleben betrifft, hervorbringt. Die Entraffung des Liebeslebens führt ohne Zweifel zu einem Energienentzug, der sich in seinen Wirkungen äußert wie ein Manko an der notwendigen Elektrizität, die der Körper braucht, um seine Tatkraft zu behalten. Es ist kein Zufall, daß jene Heilmethoden, die sich nicht auf Heilung bestimmter Krankheiten beziehen, sondern für jene Menschen bestimmt sind, die sich »matt, elend und erschöpft« fühlen, sich des stärksten Zuspruches erfreuen. In früheren Zeiten waren, wie Ehrenfels bemerkt, »religiöse Extase, Orgien der Grausamkeit« besonders beliebte »sexuelle Entlastungsmittel«. Sehr scharfsinnig weist Ehrenfels nach, wie tiefer denn je heute der Spalt zwischen sexuellem Tages- und Nachtbewußtsein klafft, dadurch, daß die Toleranz der Polygamie gegenüber geringer, ihre Übung aber um so häufiger geworden ist, daher die »Auflehnung des unteren gegen das obere Bewußtsein, welche charakteristisch[396] geworden ist für das geistige Gepräge unserer Zeit«. Das obere Bewußtsein ist das soziale und »sittliche« oder das Tagbewußtsein, das untere ein zumeist ausschweifend sexuelles. Dieses letztere zeitigt denn auch die »Lautgebung einer meist qualvoll geknebelten viehischen Persönlichkeit im Menschen«, in der Zote. Aber die schweren Folgen bestehen in jenen verhängnisvollen »Spaltungen des Bewußtseins«, welche das Grundphänomen der Hysterie bilden. Nach Breuer und Freud106 ist die Hysterie die Folge eines »schweren Traumas«, der »mühevollen Unterdrückung eines Affektes«. An diesem schweren Trauma, an dieser mühevollen Unterdrückung eines von der Natur gegebenen Affektes, leidet aber der größere Teil der Kulturmenschheit, so daß die Forscher zu dem Ergebnis kommen, daß: »nicht eigens hierzu disponierende, krankhafte Veranlagung der Mehrzahl der Lebenden angenommen werden kann, sondern vielmehr schädliche Einflüsse aufzusuchen sind, denen wir alle unterliegen. Solche schädlichen Einflüsse nun sind in der durch die Sitte uns aufgenötigten gewaltsamen Unterdrückung der natürlichen Sexualtriebe gegeben.« So die Forscher, unzweideutig und klar. Des weiteren wird auseinandergesetzt, daß diese natürlichen Triebe so vielfach zum »Abreagieren« gezwungen werden, daß die »pychische Einheit zersprengt wird«. Die sexuelle Psychose ist denn auch die allgemein verbreitete pathologische Folge unseres sexuellen Elends.

Ausgehend von den Grundlagen, die die Spezialforscher festgelegt haben, können wir in der Beobachtung dieser Erscheinungen selbständig weiterschreiten. Hysterisch ist man, wie jeder erkennen kann, wenn er eine genügende Anzahl hysterischer Personen aufmerksam beobachtet, wenn man aufgehört hat eins zu sein, sich als eine einheitliche Persönlichkeit zu fühlen, und das Bewußtsein seiner selbst[397] sich in zwei oder mehrere Teile, die miteinander in beständigem Konflikte liegen, spaltet. Nimmt dieser Konflikt zwischen diesen verschiedenen Teilen des eigenen Selbst einen unversöhnlichen Charakter an, so ergibt sich zum Schluß Wahnsinn. Diese Krise kündet sich an durch Grübeleien, Bezweifelungen seiner selbst und allen eigenen Tuns und Lassens, Reuegefühle und gewaltsame Änderungsversuche des eigenen Wesens, jähe Stimmungswechsel und schließlich die Gewohnheit, unter verzweifelten Gefühlen laut mit sich selbst zu sprechen. Schließlich hört man Entgegnungen von anderen Personen, an die man sich im Geiste – im verdunkelten Geiste – wendet, man führt heftige, leidenschaftliche und verzweiflungsvolle Debatten mit ihnen und sich. Ist man erst so weit, dann ist auch die maison de santé nicht mehr weit. – Jede fortgesetzte Verleugnung der eigentlichen Natur kann zu diesem Zustand führen, daher er nicht nur aus der geknebelten erotischen Natur stammen muß. Fortgesetzter Verkehr mit Menschen aus einer anderen geistigen Sphäre und »Anpassung« an sie, Unterdrückung und Verbergung der eigenen Art, Überbürdung mit irgendwelcher gleichgültigen und lästigen Arbeit, Überfüllung mit ungewünschten Eindrücken, die verhindern, daß jene, die sich entfalten wollen, überhaupt aus dem Unterbewußtsein heraus und zur Klärung gelangen, alles das kann diesen Zustand herbeiführen. Diese Verheerungen entstehen aber vor allem durch die gewalttätige Unterdrückung und Nichtbetätigung eines vollen Temperamentes, einer heißen, starken Energie. Dieses Temperament und diese Energie, diesen Lebenswillen zu haben, gilt aber, im Lichte der heuchlerischen Sitte, nahezu für unpassend; und daß man diesen Lebenswillen am Glanz der Augen, am Blühen der Lippen, an der Lebhaftigkeit des Sprechens merkt, macht verdächtig. Das Snobtum aus beiden Lagern, aus dem konventionell-reaktionären[398] und dem ästhetisierend-modernen – kokettiert heutzutage mehr denn je mit müden Allüren, matten Tönen, herben Linien und »preziösen« Gesinnungen, die sich mit Vorliebe an irgendwelche vergangenen Stile lehnen, weil sie des eigenen Seins so sehr entbehren. Das Temperament, die reiche Fülle der Impulse zu dämpfen, ja zu verleugnen, erzwingt die Sitte und das Mißtrauen der Gesellschaft. Eine trübe Schläfrigkeit ist denn auch die häufigste gesellschaftliche Note, der man begegnet. Der Mensch aber, Mann oder Weib, der, reich an lebenbejahenden Impulsen, dennoch an ihrer Betätigung dauernd verhindert wird und immer wieder in sich hineinwürgt, was hinausströmen und sich mit Verwandtem vermählen möchte, erstickt schließlich nahezu an sich selbst, und die herrliche Gottesgabe des Temperamentes wird sein Verhängnis. Es ist keine Kleinigkeit, den Schlag seines Herzens durch Druck und Schraube, die an mittelalterliche Torturen gemahnen, zu verlangsamen, sein Blut künstlich abzukälten, daß man in diesem Frost zu erfrieren vermeint, Freiheit, Kraft und Frohsinn der innersten Stimme zu brechen. Zu alledem aber zwingt die krisenhafte Lage im Geschlechtsleben, in der wir uns befinden.


Neben der sexuellen Psychose haben wir ihre unheimliche Zwillingsschwester, die Neurose. Die Entstehung der Neurose ist eine ähnliche wie die der Psychose. »Nur wenn in unserem Inneren zwei Ströme um die Herrschaft ringen, nur wenn bewußtes und unbewußtes Fühlen einander befehden, nur wenn ein großer Teil unserer Energien zur Unterdrückung und Hemmung verschwendet werden muß, kann sich Neurose entwickeln«107. Von der Neurose hat Professor Freud in Wien als besonderen Symptomkomplex die Angstneurose, die zumeist als[399] Herzneurose auftritt, abgetrennt. Sie entsteht am häufigsten aus den verschiedenen Formen der erzwungenen sexuellen Abstinenz oder aus unbefriedigenden erotischen Verhältnissen mit teilweiser oder vollkommener »sexueller Schonung«, durch welches sexuelle Spannungen angehäuft werden, ohne auf normale Art zur Abfuhr zu gelangen. Sexuelle Schonung!... »Schone meinen Busen nicht, schmiege dran dein Angesicht«, so singt die herrliche Malwa in Gorkis gleichnamiger Novelle. Ganz gewiß ist es eine tiefe Instinktweisheit, die den Dichter durch den Mund eines Mädchens aus dem Volke deren erotische Bereitwilligkeit durch die Worte ausdrücken läßt: Schone meinen Busen nicht ...

Mit Professor Freuds grundlegenden Erkenntnissen über Neurosen, Psychosen und Psychoneurosen und ihrem Zusammenhang mit dem Geschlechtselend haben wir uns hier natürlich zu befassen. Die Frage, ob die heutige Menschheit »degeneriert« sei oder nicht, wird häufig umstritten, und man ereifert sich mit der Aufzählung von großen Maßen, Schädelumfängen usw. Ich glaube, es genügt, zu konstatieren, daß der größte Teil der Kulturmenschheit an diesen Seelenerkrankungen leidet, um diese Kulturmenschheit als degeneriert erscheinen zu lassen. Professor Freud führt aus, daß Neurosen und Psychosen sich notwendig einstellen müssen bei mangelnder sexueller Befriedigung, und zwar gerade bei ganz gesund veranlagten Individuen, die mit keiner psychopathischen Disposition etwa von Natur aus behaftet sein müssen. Die konsequente Verhinderung der Zeugung sowohl wie des Sexuallebens überhaupt macht die Menschen, Mann und Weib, krank; alle Gesellschaftskreise siechen an dieser abnormen Lebensweise. Gesunde potente Individuen werden von diesen Zuständen bei unnatürlicher Lebensweise befallen, während anästhetische frigide, also von Natur aus sexuell irgendwie defekte Individuen verschont bleiben. Nicht[400] die krankhafte, sondern im Gegenteil die normale Disposition führt also bei unnatürlicher sexueller Entbehrung zur Erwerbung dieser Psychose. Freud spricht es direkt aus: »Die Angst ist überhaupt eine von ihrer Verwendung abgelenkte Libido«108. Alle verschiedenen Formen der Neurasthenie, der Hysterie, die Mischformen der Hystero-Neurasthenie und besonders die deutliche »Angst- und Zwangsneurose«, sie stammen zumeist aus schädlichen Arten des sexuellen Verkehrs, besonders aus »frustraner Erregung« ohne deren genügende Befriedigung, aus sexuellen Spannungen, die weder somatisch noch psychisch genügend gelöst werden, aus erzwungener vollständiger oder teilweiser Abstinenz, kurz aus sexueller Entbehrung aller Art bei gesundem (!!!) das heißt normal bedürftig veranlagtem Geschlechtsempfinden. »Sie allein (die sexuellen Momente) werden in keinem Fall von Neurasthenie vermißt, sie allein vermögen es, die Neurose ohne weitere Beihilfe zu erzeugen«. Das Wesentlichste der Freudschen Lehre scheint mir die klipp und klar abgegebene Erklärung, daß gerade von Haus aus gesunde, nicht etwa »krankhaft veranlagte« Individuen diesen Übeln verfallen. Zu diesem Resultat kommt der Nervenarzt sowohl wie der Zoologe, den wir an früherer Stelle zitierten und der das Auftreten von Hysterie und Psychose bei gesund veranlagten Tieren, die vom Geschlechtsleben ferngehalten werden, nachwies. Es ist doch auch klar und selbstverständlich, daß nur ein von Haus aus normaler Organismus auf widernatürliche Entziehungen und Beeinflussungen durch Erkrankung reagieren wird, während der von Haus aus abnorme unnatürliche Lebensbedingungen vielleicht gar nicht als solche empfindet. Frigide, anästhetische Frauen werden gewiß nicht durch[401] Abstinenz oder durch ein perverses Geschlechtsleben psychisch erkranken, wie normale es unbedingt müssen. Gerade diese Tatsache, die hier durch die Forscher deutlich hervorgehoben wird, setzt die widerwärtige Heuchelei, welche von »krankhafter Sinnlichkeit« zu sprechen wagt, wo es sich um die allernormalsten menschlichen Geschlechtsbedürfnisse handelt, ins rechte Licht. »Krankhaft« ist, wie uns die Forschung beweist, ein Organismus, sei er männlichen oder weiblichen Geschlechts, nur dann, wenn er das Bedürfnis nach vollkommener Auslösung normaler geschlechtlicher Spannungen nicht hat! So heißt es bei Freud ganz ausdrücklich: »Ich bemerke hier als wichtig für das Verständnis der Angstneurose, daß eine irgend bemerkenswerte Ausbildung derselben nur bei potent gebliebenen Männern und bei nicht anästhetischen Frauen zustande kommt. Bei Neurasthenikern, die durch Masturbation bereits schwere Schädigung ihrer Potenz erworben haben, fällt die Angstneurose im Falle der Abstinenz recht dürftig aus und beschränkt sich meist auf Hypochonderie und leichten chronischen Schwindel. Die Frauen sind ja in ihrer Mehrheit als potent zu nehmen; eine wirklich impotente, d.h. wirklich anästhetische Frau ist gleichfalls der Angstneurose wenig zugänglich und erträgt die angeführten Schädlichkeiten auffällig gut.« Und weiter: »Die reinsten Fälle von Angstneurose sind auch meist die ausgeprägtesten. Sie finden sich bei potenten jugendlichen Individuen, bei einheitlicher Ätiologie und nicht zu langem Bestande des Krankseins.« Ja selbst: » Wo man aber Grund hat, die Neurose für eine erworbene zu halten, da findet man bei sorgfältigem, dahin zielendem Examen als ätiologisch wirksame Momente eine Reihe von Schädlichkeiten und Einflüssen aus dem Sexualleben.« – Die Heilanstalten, angefangen vom harmlosen Privatsanatorium bis zur »Nebenabteilung« der Irrenanstalt, sind denn auch überfüllt mit solchen Leidenden, die[402] kränker sind, als sie selbst wissen, bis sie an der Abnahme ihrer Leistungsfähigkeit und an schweren, peinvollen Gemütszuständen merken, daß etwas nicht in Ordnung ist. Da jede Art von Neurasthenie auf Stoffwechselstörungen beruht, von denen natürlich auch in hohem Grade die Keimzellen mitaffiziert werden, so vererben diese Leidenden, die zu Millionen in der Gesellschaft herumgehen, ihren elenden Körper- und Seelenzustand auch auf ihre Nachkommen. »Nach meiner Erfahrung ist es höchst wünschenswert, daß die ärztlichen Leiter solcher Anstalten sich genügend klarmachen, daß sie es nicht mit Opfern der Zivilisation oder der Heredität, sondern – sit venia verbo – mit Sexualitätskrüppeln zu tun haben«109. Und weiter: »Mit dem Momente der ›Überarbeitung‹, das die Ärzte so gern ihren Patienten als Ursache ihrer Neurose gelten lassen, wird übermäßig viel Mißbrauch getrieben. Es ist ganz richtig, daß jeder, der sich durch sexuelle Schädlichkeiten zur Neurasthenie disponiert hat, die intellektuelle Arbeit und die psychischen Mühen des Lebens schlecht verträgt, aber niemals wird jemand durch Arbeit oder durch Aufregung allein neurotisch. Geistige Arbeit ist eher ein Schutzmittel gegen neurasthenische Erkrankung; gerade die ausdauerndsten intellektuellen Arbeiter bleiben von der Neurasthenie verschont, und was die Neurastheniker als ›krankmachende Überarbeitung‹ anklagen, das verdient in der Regel weder der Qualität noch dem Ausmaße nach als ›geistige Arbeit‹ anerkannt zu werden. Die Ärzte werden sich wohl gewöhnen müssen, dem Beamten, der sich in seinem Bureau ›überangestrengt‹, oder der Hausfrau, der ihr Hauswesen zu schwer geworden ist, die Aufklärung zu geben, daß sie nicht erkrankt sind, weil sie versucht haben, ihre für ein zivilisiertes Hirn eigentlich leichten Pflichten zu erfüllen, sondern weil sie währenddessen[403] ihr Sexualleben gröblich vernachlässigt und verdorben haben.«...

»Überdenkt man alle die feineren und gröberen Schädigungen, die von der angeblich immer mehr um sich greifenden Neurasthenie ausgehen, so erkennt man geradezu ein Volksinteresse darin, daß die Männer mit voller Potenz in den Sexualverkehr eintreten. In Sachen der Prophylaxis aber ist der einzelne ziemlich ohnmächtig. Die Gesamtheit muß ein Interesse an dem Gegenstand gewinnen und ihre Zustimmung zur Schöpfung von gemeingültigen Einrichtungen geben. Vorläufig sind wir von einem solchen Zustande, der Abhilfe versprechen würde, noch weit entfernt, und darum kann man mit Recht auch unsere Zivilisation für die Verbreitung der Neurasthenie verantwortlich machen. Es müßte sich vieles ändern ... Vor allem aber muß in der öffentlichen Meinung Raum geschaffen werden für die Diskussion der Probleme des Sexuallebens; man muß von diesen reden können, ohne für einen Ruhestörer oder für einen Spekulanten auf niedrige Instinkte erklärt zu werden. Und somit verbliebe auch hier genügende Arbeit für ein nächstes Jahrhundert, in dem unsere Zivilisation es verstehen soll, sich mit den Ansprüchen unserer Sexualität zu vertragen.«

Ich habe hier mit dem Zitieren weiter ausholen müssen, als es sonst meine Gepflogenheit ist, aber es scheint mir unumgänglich nötig, die Forscher hier zu Wort kommen zu lassen, ziehen doch die Ergebnisse ihrer Forschungen die ärztlichen Resultate des Elends, das unser Stoff ist. Auch eine Frau möge hier zu Worte kommen. Adele Schreiber sagt in einem einschlägigen Artikel in der Zeitschrift »Mutterschutz«110: »Viele meinen, es genüge festzustellen, Enthaltsamkeit sei nicht gesundheitsschädlich; sie vergessen dabei, daß dies nicht entscheidend ist, sondern[404] der Verbrauch von Seelen- und Körperenergie, von Denkkraft und Lebensfreude, der oftmals nötig wird, um das stärkste Verlangen der Natur niederzuhalten. Besonders wo starke seelische Momente dieses Verlangen zu einer Empfindung steigern, die sich in alle Lebensäußerungen mischt, genügt das Entsagenmüssen und -sollen, um aus einem schaffensfrohen einen lebensmüden Menschen, aus einem Himmelsstürmer einen welken, mißmutigen Schatten, aus einer lichtspendenden, sonnigen Natur ein verstimmtes trübseliges Menschenkind zu machen.« – »Daß die Freude das Blut verbessere«, soll von Ärzten vielfach nachgewiesen sein, überdies können wir das aus eigener Erfahrung beobachten, ebenso wie jener Zustand, den man als »bleiern« zu bezeichnen pflegt, als Folgeerscheinung des Entbehrens auftritt. Bleiern, schwer, träg, apathisch, mißmutig, weltverachtend, mit einem Wort schwer lebensüberdrüssig wird ein gesund veranlagter Mensch durch fortgesetzte Entbehrung genereller Notwendigkeiten. Nicht umsonst wendet die Sprache die Ausdrücke »niedergeschlagen, niedergedrückt« an, um den Zustand der allgemeinen Herabdrückung aller Energien und des Sich-Geschlagen-Fühlens zu kennzeichnen. Die deutlichsten Worte für die Nötigung sexueller Erfüllung und die Folgen der Verhinderung dieser Erfüllung hat der holländische Arzt und Rassentheoretiker I. Rutgers gefunden111[415] . »Mit dem Herannahen der Pubertätsjahre, bei einigen schon bedeutend früher, wird die sexuelle Reizempfindung, der Drang, der Nervenreiz, die Gefäßspannung, als eine wollüstige Überraschung empfunden. Je mehr durch zufällige oder weniger zufällige äußere Veranlassungen dieser Reiz, der Drang sich steigert, desto mehr ist die jugendliche Person entzückt. Es ist ein Gefühl intensiven Lebens. Denn die Gefäßerweiterung, um nur dies eine Symptom im Auge zu behalten,[405] befällt bekanntermaßen nicht nur beschränkte, lokale Gefäßbezirke, sondern das ganze Hautgefäßsystem wird in Mitleidenschaft gezogen; sogar das Antlitz strahlt im Morgenrot der Jugend ... So wie die Keuschheit ethisch die Grundlage von Bescheidenheit, Humanität, Verfeinerung geworden ist, so war von jeher die Wollust der Trieb, der das Individuum außer sich führte; nicht wie beim barbarischen Krieg auf gewaltsame und für andere tödliche Weise, sondern auf freundliche und für andere lebenweckende Art. Alle ideale Hingebung, alle ritterlichen Tugenden entstammen diesem Triebe.« Die Definition der Wollust als des Triebes, der das Indivividuum »außer sich führt«, scheint mir besonders glücklich, denn außer sich sein, das will heißen – wörtlich – in Ekstase sein. Alle heroischen Taten aber werden aus der Ekstase geboren, aus der höchsten Anspannung der lebenbejahenden Impulse, die das Individuum »außer sich« führen, – aus dem Staub heraus, – in jene Regionen, in denen es sein immateriellstes Selbst als Feuer und Geist empfindet. Diesen Zustand aber führt im höchsten Grade das befriedigte Geschlechtsgefühl herbei, das Glück der normalen von der Natur gewollten Vereinigung der Liebe. »Das Glück der Begattung ist ja kein Wahn, keine Sünde, sondern ein physiologisches Bedürfnis. Ein Bedürfnis, nicht notwendig, um das Leben nicht zu verlieren, sondern notwendig, um alle Energie zur Entfaltung zu bringen. Es ist eben diese letzte Tatsache, die am meisten verkannt wird, und zwar aus Unkenntnis ... Gerade an der Epoche des Lebens, wo für unsere fünf Sinne der Reiz der Neuigkeit allmählich zu erblassen anfängt, da stellt sich ein neues Organ ein, das sexuelle Leben, das alles neu belebt. Da gilt es eine neue Jugend, einen neuen Frühling. Welcher Impuls für das Herz, für die Respiration, für das Gefäßsystem!... Diese ganze Welt von ungestümen Reizen, diese Steigerung aller Lebensprozesse, tut mehr als[406] alle Ergostate, Bäder und Massage. Und erst wenn auch dieses Feuer erloschen ist, tritt das Alter ein ... Keinem Arzt kann es auch unbekannt sein, daß, wie alle deprimierenden Gemütsaffekte, so auch diejenigen deprimierenden Gemütsaffekte, die notwendig von einem allzulange innegehaltenen gezwungenen Zölibat hervorgerufen werden, ebensogut wie Hunger und Kälte, zu allen konstitutionellen Leiden, und endlich zu den chronischen Infektionskrankheiten prädisponieren. Und es gibt sogar keinen Laien, der nicht wüßte, wie sehr solche deprimierenden Gemütsaffekte regelrecht zu den schwersten Nervenkrankheiten führen können ... Jedem Menschen in der Blüte der Jahre seinen bescheidenen Anteil an diesem physiologischen Gipfel des Lebens zu gewähren, ist die Aufgabe aller sexuellen Reform, eine Pflicht für alle hochgesinnten Persönlichkeiten, insbesondere für die Mitglieder des Bundes für Mutterschutz.«

So der Arzt und Philosoph Rutgers. Ein Wort des großen amerikanischen Apostels Walt Whitman beschließe die Reihe, die wir hier angeführt haben: »So du hundert Meter gehst ohne Liebe, gehst du in deinem eigenen Sterbehemd zu deinem eigenen Begräbnis.«...

106

Studien zur Hysterie.

107

Dr. Wilh. Staeckl.

108

»Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen«, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre, Verlag Deuticke, Leipzig und Wien.

109

Freud: »Neurosenlehre« a.d. Jahren 1893/1906.

110

Jetzt erscheint diese Zeitschrift unter dem Titel »Die neue Generation«, herausgegeben von Dr. Helene Stöcker, Berlin.

111

»Die neue Generation«, früher »Mutterschutz«.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 396-407,415-416.
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