2. Völkergeschichtliches zur Moralfrage
Doppelmoral als Schutzwall – Die Folgen der männlichen Sexualmoral – Die Folge der notwendigen doppelten Vorstellungsgruppen auf die psychische Einheitlichkeit und die Charakterbildung des Mannes – Die geschlechtliche Anarchie – Die Jüdin von Toledo – Candace und Augustus – Doppelmoral als Basis der Literatur – Das Problem in der Antike – Die 1300 Verse des Menander.

[81] Eine vernünftige Kultur ist die, die in ihren Vorschriften, Sitten und Moden den wirklichen Bedürfnissen der Menschen und den von der Natur gegebenen Voraussetzungen sich anpaßt; nur dadurch wird ein ästhetisches Ebenmaß des gesamten Gesellschaftskörpers erzielt. Durch Verzerrungen der Natur kann das niemals der Fall sein. Solche Moralen bedeuten denn so wenig Kultur, als die Sitten der Wilden, die ja ebenfalls als Moden und Vorschriften sich äußern, Kultur sind. Bei einzelnen wilden Völkern ist es »Sitte«, sich die Zähne schwarz zu färben oder auszuschlagen, die Ohrläppchen bis zum Nacken herabzuziehen, die Haut zu tätowieren, die Augenbrauen auszurupfen, die Lippen blau zu färben. Auch bei uns gibt es Kultureinrichtungen, die diesen Sitten nicht unähnlich sind; besonders das Blaufärben von Dingen, die rot sind, ist beliebt.

Daß keinerlei Moral ein Ewigkeitsmoment birgt, sondern Zeit und Volksanschauungen unterliegt, zeigt ihre vielfältige Gestalt bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Kulturepochen. So wollte man das Schamgefühl als einen Urinstinkt der Menschheit erkennen und durch die Bekleidungsversuche der Wilden beweisen. Heute weiß man, daß die Kleidung der Wilden durchaus ornamentalen Zwecken dient. Die Kinderehen in Indien, für uns der Inbegriff der Scheußlichkeit, die die Kinder elend und zu Krüppeln machen, gelten in ihrem Lande als Gebot der Moral. Bei den Balanti in Senegambien können die Mädchen keinen Mann finden, wenn sie nicht vorher von ihrem König geschändet worden sind, und dieser läßt sich oft sehr beträchtliche Geschenke geben, um die guten Mädchen heiratsfähig zu machen. Von den Bisajos wird uns erzählt: »Des officiers publics[81] sont payés pour ôter la virginité aux filles.« Bei den Malabar ist dies das Amt der Bramanen. Bei einem alten arabischen Stamm sinkt das Mädchen nicht wenig in den Augen des Gatten, wenn er sie bei der Eheschließung noch jungfräulich findet. »Wenn du es wert wärest, so würden dich Männer geliebt haben und du hättest einen gewählt, der dir deine Jungfräulichkeit nahm«, folgert er und verstößt sie. »Ein Empfinden derart ist es, das bei manchen Völkern ein Mädchen dazu bringt, die Geschenke ihrer Liebhaber als Ausstattung für die Hochzeit zu bewahren, da sie wohl weiß, daß ihr Wert dadurch nur erhöht wird.«8

Die Orientalen betrachten zum größten Teil das Weib heute noch als »unrein«, zumindest an gewissen Tagen. Mohammed verbietet, das Weib an Tagen der Menstruation »von der Taille bis zu den Füßen zu berühren,« aber dieses Verbot, welches ja nur den Unterkörper unberührbar macht, schließt eine sehr hygienische Maßnahme ein, da die Sexualität der Frau an diesen Tagen besonders erregbar ist, sie aber gerade da der größten Schonung bedarf. Bei den Japanern durften noch bis vor wenigen Jahren Frauen einen gewissen heiligen Berg wegen ihrer »Unreinheit« nicht besteigen. Je weiter östlich, je strenger die Forderung der Monogamie des Weibes. In der Türkei wird als Strafe für den Ehebruch die Ertränkung der Frau im Sack oder ihr Hinabsturz vom Turm vorgenommen. Ja bei dem geringsten Verdacht ihrer Untreue läßt man sie wissen, daß der Bosporus nicht weit ist. Bei einzelnen wilden Stämmen müssen die Witwen alle Gebeine des verstorbenen Gatten für immer mit sich herumtragen. »Sie trauert so, daß man sie vor Schmutz nicht erkennen kann«, ist eine grönländische vielsagende Redewendung.[82]

In China ist es zwar gesetzlich erlaubt, gilt aber als unanständig, wenn ein Weib sich wieder vermählt. Über das wilde Volk der Kabylen berichten Haneteau und Lestourneux: »Die Sitten dulden keinerlei geschlechtliche Nachgiebigkeit außerhalb der Ehe ... das außerehelich geborene Kind sowie die Mutter werden getötet.« Bei anderen Stämmen werden sowohl die verführten Mädchen als die Verführer mit dem Tode bestraft. Wir sehen überall da die sexuelle Doppelmoral als Schutzmauer um das Weib errichtet, wo deren Erhaltung ausschließlich vom Manne abhängt und keinerlei gesellschaftliche Vorkehrungen zur Aufzucht der Generation und zur Pflege der Schwangeren und der Wöchnerinnen bestehen. Diese Moral, hinter der das Weib »geschützt« werden muß, präsentiert sich wie ein Wall, der zur Abwehr gegen den physisch Stärkeren, den Mann, errichtet wurde. Auch hier ist daher der Schluß gestattet, daß diese Moral nichts weniger als eine Kulturblüte darstellt, sondern im Gegenteil ein Rudiment, aus Abwehrinstinkten gegen die eindringende Übermacht entstanden, und daß eine hohe Kultur dieses Walles nicht bedürfen, sondern den Schutz des Weibes und des Kindes durch andere Vorkehrungen erzielen wird, welche die Frau ihrer menschlichen Freiheit nicht berauben.

Zumeist aus wirtschaftlichen Absichten werden die suggestiven Mittel der Moral, Sitte und Religion angewandt, um die Menschen bereitwillig zu machen, sich irgendwie um ihres Lebens Rechte betrügen zu lassen.

»Ich möchte fast glauben, daß es eine nationalökonomische List war, die den indischen Frauen die Überzeugung in das Herz wachsen ließ, daß sie nach dem Tode ihrer Versorger sich aus dem Leben zu empfehlen hätten«9. Weil man sie nicht ernähren wollte! Eine famose[83] Idee, in der Tat! – Wie dieser Vorgang der Witwenverbrennung sich abspielte, darüber gibt ein französischer Reisender den folgenden Bericht: »Wenn die Flammen um den Leichnam des Mannes auf dem Scheiterhaufen knisterten und flackernd emporstiegen, erschien die Witwe beim Klange wonnerauschender Musik im scharlachnen Kleide, mit Blumen und Betelblättern bekleidet. Bleich, halb wahnsinnig, betrunken von Safran-Branntwein, halb bewußtlos an die Brust eines Bramanen angelehnt, ging sie schwankenden Schrittes dreimal um die im Scheiterhaufen befindliche Öffnung. Beim dritten Male stieß der Priester sie hinein, und mit herzzerreißendem Schrei verschwand sie im prasselnden Scheiterhaufen«10. Und alles im Namen der Moral!


Es gibt Tugenden, die nichts sind als ein Mangel an Bewußtheit, ein Mangel an Anspruch auf die natürlichsten Menschenrechte, insbesondere die weibliche »Tugend« wurde aus dieser Bewußtlosigkeit gezüchtet.

Schildert man uns die Tugenden eines Mannes, so zeigt man ihn im Ringen, in der Tat. Aber die, welche man an einem Weibe bewundert, gehen immer von einem unbeweglichen Vorbild aus, von einer schönen Marmorstatue in einem Museum. Es ist ein inhaltloses Bild, aus schlafenden Lastern, trägen Leidenschaften, schlummernden Ruhmestiteln, passiven Bewegungen und negativen Kräften gewoben. Es ist keusch, weil es keine Sinne hat, gut, weil es keinem Menschen Schaden tut, gerecht, weil es nicht handelt, geduldig und ergeben, weil es jeglicher Tatkraft entbehrt, duldsam, weil keiner es beleidigt, und versöhnlich, weil es nicht die Kraft hat, zu widerstehen, mitleidig, weil es sich ausplündern läßt oder[84] weil sein Mitleid ihm nichts nimmt, treu und aufrichtig, demütig und ergeben, weil alle diese Tugenden im Leeren leben und auf einer Leiche blühen können. Doch was wird daraus, wenn das Bild Leben bekommt und sein Museum verläßt, wenn es ins Leben tritt, in dem alles, was nicht teilnimmt an der ringsum flutenden Bewegung, zum kläglichen oder gefährlichen herrenlosen Gute wird? Ist es auch eine Tugend, einer schlechtgewählten oder moralisch erloschenen Liebe die Treue zu halten, einem beschränkten oder ungerechten Herrn ergeben zu bleiben? Ist Unschädlichsein schon Gutsein und Nichtlügen schon Aufrichtig sein? Es gibt eine Moral für die Leute am Ufer der großen Ströme, und eine Moral für die, welche stromauf fahren11. Es gibt eine Moral des Schlafes und der Tat, eine Moral des Schattens und des Lichtes, und die Tugenden der ersteren, die sozusagen Hochtugenden sind, müssen sich erheben, sich ausweiten und Volltugenden werden, um der zweiten Moral anzugehören. Stoff und Linien bleiben vielleicht die gleichen, aber die Werte sind von äußerstem Gegensatz. Geduld, Sanftmut, Ergebenheit, Vertrauen, Entsagung und Verzichtleistung, Hingabe und Aufopferung, lauter Früchte der untätigen Tugend, sind, sobald man sie in das rauhe Leben hinausbringt, nichts als Schwäche, Unterwürfigkeit, Unbewußtheit, Trägheit, Selbstvernachlässigung, Dummheit oder Feigheit12.

Die Überschreitung der der Frau versagten Menschenrechte ist dafür dem Manne in seiner Sexualmoral gestattet. Sie ermöglicht ihm den Mißbrauch der weiblichen Sexualität, ohne ihm Schranken aufzuerlegen. Aber diese übergroße Freiheit hat sich am Manne, an der Frau und an der Gesellschaft gerächt. Sie hat den Mann, der alle Genüsse, die ihm »erlaubt« sind, durchjagt, stumpf[85] gemacht, sie hat seine Triebkraft geschwächt und hat den Ekel in Vorgänge der geschlechtlichen Liebe hineingetragen. Die Vermischung, die einstmals eine religiöse Handlung war, ist zum gräßlichsten »Vergnügen« geworden, deren »Priesterinnen« in Jammer enden. Der Mann führt ein doppeltes Leben, eines im Tageslicht, an der Seite der Frauen, die ihm die Gesellschaft zuführt und in dem Kreise dieser Gesellschaft, und ein anderes dort, wo er alles über Bord wirft, was er sonst als Requisit seiner bürgerlichen Persönlichkeit mit sich führt. Hier bin ich Tier, hier darf ich's sein.

Nur ganz selten einmal erhält ein Mensch von der »Tagseite«, also eine Frau der Gesellschaft, Einblick in das, was auf jener Nachtseite vorgeht. Irgendein ungeheuerliches Erlebnis läßt sie plötzlich einen Blick da hineinwerfen. Sie geht vielleicht eines Nachts nach Hause aus dem Theater, ihrer Wohnung zu. Nahe ihrem Hause, in einer einsamen Straße, stürzt ein junger Mensch, der sie verfolgte, auf sie zu, versperrt ihr den Weg und wimmert mit nicht wiederzugebenden Worten seine Wünsche. Es ist offenbar ein Mensch, den der sexuelle Hunger halb toll gemacht hat. Aber doch ein Mensch der »Gesellschaft«, nicht etwa ein Verbrecher. Die Frau eilt, gejagt von Entsetzen, die Straße hinab und verbringt die Nacht in Fieberschauern und Halluzinationen.

Nicht unbestraft, nicht folgelos kann es bleiben, daß der Mann zweierlei Existenzen führt, daß er nach der einen Seite alle seine Kräfte den weiten Dimensionen des bürgerlichen Daseinskampfes anpassen muß, auf der anderen Seite seine biologischen Kräfte vergeudet und dabei psychisch fortwährend zwei Gruppen von Vorstellungen, zwei Arten von Daseinsmöglichkeiten auseinanderzuhalten hat. Er gelangt immer seltener zu hoher Leistungsfähigkeit, sowohl biologisch als sozial, noch weniger gelangt er zu der psychischen Einheitlichkeit,[86] welche zur Charakterbildung unerläßlich ist. Die meisten Männer haben denn auch einen deutlichen pathologischen »Knax«, irgendeine dunkle Ungeheuerlichkeit bricht bei näherer Intimität aus ihnen heraus, etwas gänzlich Unerwartetes, wie ein Reflex aus dieser »Nachtwelt« – im Tageslicht der Sitte gräßlich beleuchtet – offenbart sich. Die geschlechtliche Anarchie, die die Männermoral erlaubt und ermöglicht, und der nur die wenigsten widerstehen, hat sie gezeichnet.


Aber noch in einem anderen Sinne hat die doppelte Moral den Mann korrumpiert, sie hat das Heuchler- und Pharisäergewissen in ihm gezüchtet. Sie hat ihn gelehrt, das Weib gerade dafür zu verachten, zu schänden und zu verfolgen, daß es ihm gewährt, was er von ihm begehrt. Fast jeder Mann ist bereit, als Bruder Karl aufzutreten und Mariechen in das Herz zu stoßen. Manchmal heißt er Valentin und wütet gegen Gretchen, manchmal König Alphons und verrät die zerstückelte Leiche derer, die er genoß. Die Szene in der »Jüdin von Toledo«, in der der König vor der zerfleischten Leiche der Geliebten steht und höchst moralische Betrachtungen an diesen Anblick knüpft, ist ein (nicht mit Willen des pharisäischen Dichters so gemeintes) klassisches Symbol für das Phänomen »Mann« in der Moral. Übrigens hat diese Szene schon ihr Vorbild in der Antike, in der Betrachtung des Körpers der entseelten Candace durch Augustus. Die »Läuterung« des Helden vollzieht sich durch Abkehr von dem Körper, den er so gut zu genießen verstand, da er lebte, und durch »Rückkehr« zur ehelich angetrauten Gattin. In nahezu jedem Mann steckt ein Stück von diesem Alphons. Fast jeder ist zu diesem schmachvollen Verrat der Geliebten bereit – wenn er satt ist. Und die sittliche Weltordnung ist um so befriedigter,[87] je zerfleischter ihr Leichnam. Diese moralische »Läuterung« des Mannes hat aber die Voraussetzung, daß er vor der sittlichen Aburteilung der hetärisch-aphroditischen, unehelich Geliebten alles das, was er verurteilt, an ihr und anderen genoß und genießen durfte. Er wird erst Moralist, wenn er erotisch müde, wenn er satt ist. Das Weib aber soll bei gesundem, triebstarkem Leib eine Moral aufbringen, die wieder nur für die »Besitzenden« gute Früchte trägt, die Nicht-Besitzenden aber verurteilt, leer, ganz leer auszugehen.

Der auf die Ehemoral geeichte Spießer haßt das Weib, zu dem er sich hingezogen fühlt, ohne »ernste Absichten«. Er haßt sie unbewußt, solange er sie genießt, bewußt, wenn er satt ist. Sie hat ihn »gereizt« – das kann er ihr nicht verzeihen. »Die Männer sind wohl eines Treubruches fähig – aber ihr Herd, ihre Frau sind ihnen heilig. Jene Frauen verachten sie im Grunde doch, und das Familienleben wird durchaus nie von ihnen berührt.« Und weiter: »Zwischen der Familie und jenen Geschöpfen besteht eine unübersteigbare Schranke.« So sagt in Tolstois Roman Anna Karenina, die dann selbst solch ein »Geschöpf« wird. Solch ein Geschöpf ist dem Mann jede Frau, die sich ihm ergibt ohne die Garantie ihrer Sicherung. »Gefallene Weiber,« d.h. Frauen, die sich ohne Ehe hingeben, nennt Ljevin in »Anna Karenina« »Geschmeiß«, vor dem ihm »ekelt wie vor Spinnen«.

Überall, wo diese doppelte Moral die Basis gesellschaftlicher Wertung ist, ist sie auch das Um und Auf der Literatur, deren Probleme auf ihr wie auf einer selbstverständlichen Voraussetzung fußen. So wird in einem Roman von Mathilde Serao, »Nach der Verzeihung«, eine Szene geschildert, in der das junge Paar auf der Hochzeitsreise ist. Der folgende Dialog entspinnt sich. Er (ermüdet): »Ich bin nicht mehr der[88] Jüngste.« Sie: »Du bist 32.« Er: »Aber ich habe über meine Jahre gelebt.« Sie (ruhig): »Das ist richtig.«

Und sie/»Sie«! Sie darf natürlich nicht »gelebt« haben, muß tot gewesen sein und ihr Leben erst von »Ihm« eingehaucht bekommen.

In unzähligen Romanen schwebt das Verhängnis in Gestalt eines früheren Liebesverhältnisses der Heldin über ihrem Haupte, um sie schließlich, wenn es offenbar wird, zu vernichten und ihr den Weg zu dem erhofften Glück zu versperren. Nicht selten erkennt sie sich dann selbst reumütig als »Abenteurerin«, nicht wert der Hand des Edlen, die er ihr im Roman manchmal trotzdem großmütig bietet. Am ärgsten zehrt bei den Franzosen ihre ganze Literatur von dem Problem, ob die Heldin »gefallen« ist oder ob sie ihre »Ehre« noch intakt hat. Mit wundervollem künstlerischen Befremden verweist Maeterlinck in seinem Aufsatz über das moderne Drama auf die Nichtigkeit solcher Probleme. – In einer Novelle von Prévost erzählt eine junge Frau in Ichform ihr Schicksal, sie berichtet, daß sie sich dem jetzigen Vater ihres Kindes hingab und um seinetwillen das Elternhaus verließ. Mit beinahe Heiterkeit erregender Naivität legt ihr der Verfasser folgende Redensart in den Mund: »Nach meinem Fall bezog ich in der rue X Y eine kleine Wohnung.« Auch sie selbst weiß also diesen Vorgang nicht anders zu bezeichnen als ihren »Fall«. Die Franzosen operieren mit dem festen Begriff »die« Frau. Für sie ist la femme ein ein für allemal feststehender Typus, und die französischen Schriftsteller bemühen sich nicht, die bis zum Ekel erstarrte Schablone zu individualisieren. Und das Leben, das sich der Literatur nachbildet, kommt über diesen einen Typus, der in ihr festgelegt ist, tatsächlich nicht hinaus. Der Prozeß der »schönen Milenin« (Waddington gegen Balmazeda, Brüssel) zeigt die gefährliche Verlogenheit dieser[89] moralischen Voraussetzungen. Der ganze Konflikt drehte sich darum: kann er sie heiraten, wird er sie heiraten, muß er sie heiraten, da sie sich ihm hingab? Und da er nicht der »Erste« war – kann er nicht. In keinem anderen Lande ist die pathetische Verlogenheit, die die Ehre einer Frau mit ihrer »Unberührtheit« identifiziert, so groß als in Frankreich und den Ländern französischer Kultur, in denen aber der Mann, wie um seine eigene Moral zu parodieren, mehr als in allen anderen Ländern alles aufbietet, dieser »Unberührtheit« nachzustellen und für sich selbst die weitgehendste Toleranz beansprucht. Sein pathetisches »Tue-la« resp. »Tue-le« (den Verführer) wird um so grotesker, je mehr er andererseits die liebenswürdige »Galanterie« des Ehebruches und der »Liaison« betont haben will. Auch die gnädige Versöhnungsmoral der Gefallenen gegenüber findet sich häufig in dieser Literatur. Das Geheiratetwerden soll der Gefallenen die Ehre wiedergeben – während sie, nach gesundem menschlichen Empfinden, sie durch einen Fußtritt, den sie so einem Gnadenspender versetzte, weit eher wiederbekäme.

Die bösartigsten Spießerinstinkte werden durch diese Moral begünstigt. Sie ist ein Produkt des männlichen Bedürfnisses und gezeichnet durch das Phänomen der contradictio in adjecto, das ihr anhaftet: denn die dem Manne erlaubte »Freiheit« und ihre Genüsse kann er nur haben durch das, was er den »Fall« des Weibes genannt hat. Nur über ihre Schande geht der Weg für ihn zur Befriedigung jener angeblich durch seine Natur geforderten Bedürfnisse.


Robert Hessen verweist in einem Artikel auf die Szene der Iliade, wo Achill den Schmerz über den Verlust der Briseis in den Armen der Sklavin Diomede »betäubt«.[90] Hessen meint mit Recht, daß die Schilderung des gleichen Vorfalls bei einem Weib dem Dichter Pfuirufe eingetragen hätte. Interessante Funde aus der Weltliteratur zeigen freilich, daß schon unter den Alten diese doppelte Moral ihre Kritiker und Verurteiler gefunden hat. Vor zwei Jahren entdeckte der französische Gelehrte Gustav Lefebvre in einem ägyptischen Dorf 34 Papyrusblätter mit 1300 Versen aus vier Komödien des Menander, des attischen Komödiendichters, aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. In diesen Szenen wird das Problem der doppelten Moral verarbeitet und verurteilt. Ein Mann, der seine Gattin verstoßen wollte, weil er von der Existenz ihres unehelichen Kindes erfuhr, fühlt sich »der Sünde bloß« und wütet voll Reue gegen sich selbst. Der Sklave Onesimos erzählt von ihm:


»Mein Herr ist verrückt! Wahrhaftig um Gott! Total verrückt«...

Er schreit in einem fort: »Ich Lump, ich Schurk', ich Schuft,

Ich Frevler, selber hab' ich ein unehelich Kind,

Und ihr, die mich so rührend um Verzeihung bat,

Der Armen ließ ich keine Gnade angedeihen,

Hart blieb ich, ohne Mitleid, ein Barbar!«


Und dann hören wir den verzweifelten Helden selbst:


»Da habt ihr den Tugendhelden! Dem die Sittlichkeit

Über alles ging, der nur auf seinen Ruf bedacht,

Das Gut und Böse abwog mit bedächt'gem Geist.

Von jeder Sünde frei, an Wandel tadellos.

- Jetzt straft mich Gott, wie ich's verdient – da steh' ich nun,

Ein schwacher Mensch! Und warst so groß und tatst so groß,

War deine Frau nicht frei von jeder eignen Schuld,

Ein Unglücksopfer nur! Und doch vergabst du nicht.

Und bist jetzt selbst im gleichen Fall durch eigne Schuld!

Wie sanft sie damals war, die stille Dulderin!

Wie rauh und grausam du!«


F. Litten schreibt zu diesem Fund im »Tag« (Nr. 231): »Dies ist vielleicht die interessanteste Stelle des ganzen Papyrus. Man denke: Im 4. Jahrhundert v. Chr. Geburt wird das Problem der Zweigeschlechtermoral aufgeworfen und von einem jungen Mann der eleganten[91] Welt als widersinnig gegeißelt. Gebrandmarkt diese nichtswürdige Moral mit dem doppelten Boden.«

8

Zit. bei Schurtz, mitgeteilt bei Havelock Ellis »Ursprung der Prostitution«.

9

Hedwig Dohm: »Die wissenschaftliche Emanzipation der Frau«, Berlin 1874.

10

Hedwig Dohm: »Die wissenschaftliche Emanzipation der Frau«, Berlin 1874.

11

Unterstreichung von der Verfasserin.

12

Maeterlinck: »Der doppelte Garten«. (Ein Frauenbildnis.) Verlag Eugen Diederichs, Jena.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 81-92.
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