IV. Kapitel

Die sexuelle Lüge

[100] »Eine sündiget nicht, die leugnen kann, daß sie sündigt;

Und zur Verrufenen macht nur die gestandenen Schuld.

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Was für ein Wahnsinn ist's, was die Nacht birgt, Tages bekennen

Und was du heimlich tust, offen gestehn als getan!«

(Ovid, »Die Kunst zu lieben«, 14. Elegie)


Die Gewohnheit der sexuellen Lüge – Lügenhafte moralische Imperative – Die Zwangslage der Jugend – Frühling im Zwinger – Erotische Freundschaft – Luther und die sexuelle Lüge – Der Mann und sein Idealbild – »Meine Frau« und »mein Mann« – Die Gestalt der Todgeweihten in der Literatur – Die »Ordner« unseres Geschlechtslebens – Die Folgen der verhinderten Sexualhygiene – Die Verwandlung des Sinnetriebs in Zote – Durchbrechung des Lügentrustes gefordert.

[101] Die Gewohnheit der Lüge auf den Gebieten des sexuellen Lebens übergreift jeden Vorsatz. Sie wird nicht nur absichtlich gehandhabt, sondern sie ist beinahe schon organisch geworden. Zugrunde gehend an der Verlogenheit seiner Einrichtungen, wahrt der Philister noch den Standpunkt, als ob die existierenden korrekten Möglichkeiten zur Regelung des sexuellen Lebens zulängliche wären. Es darf uns das nicht sonderlich verwundern, da wir ja wissen, daß es keine Massensuggestion gibt, die den Vielzuvielen nicht aufzudrängen wäre. Es verkrüppeln sich doch Menschen normale Gliedmaßen derart, daß sie untauglich werden zu ihrer natürlichen Bestimmung, wie zum Beispiel in China die Frauen die Füße, unter dem Einfluß irgendeiner Suggestion. Es machen Menschen Harakiri, schlitzen sich den Bauch auf und werfen das Leben weg, oftmals um einer blöden Phrase willen – wie auch bei unserem Duell nicht selten der Fall – unter dem Einfluß irgendeiner Lüge, die ihnen suggeriert wird. Wie sollte man sich verwundern, daß die zwei Punkte, auf denen die Existenz der Menschen ruht, »der Hunger und die Liebe«, von Lüge umstrickt sind, auf daß die Gestalt dieser Phänomene so undeutlich wie möglich bleibe. Die Lüge des Pharisäertums bemächtigt sich aller Formen des sexuellen Lebens. Sie verfälscht das Wesen der Ehe und ihrer Voraussetzungen, sie umzingelt die freie Sexualverbindung und belädt sie mit Forderungen, die ihrem Wesen nicht entsprechen.

Diese Lüge kriecht aus der Masse in die Einzelpersönlichkeit und selbst die Großen bleiben von ihr nicht frei. So sprach Bismarck öffentlich von der Lucca als von einer Frau, die, »obwohl Sängerin, doch eine achtbare Dame sei«. Körner (der Vater Theodors) sagt im Briefwechsel mit Schiller von Goethes Verbindung mit Christiane: »Goethe kann selbst das Geschöpf nicht[102] achten, das sich ihm unbedingt hingab!«13. »Treulos oder verfemt« war die Alternative, die ihm die Moralhenker ließen. Die Lüge geht wie eine falsche Münze von Hand zu Hand, das schlimmste aber ist, daß die Schicksale von Menschen auf Phantome gestellt werden, die nur dieser Lüge ihr Dasein danken. Diese Schicksale werden daher auf noch weniger als auf Sand gebaut.

Die bürgerliche Erziehung der Mädchen, die mit der Ehe, der guten Ehe, als einer Selbstverständlichkeit rechnet, ist ein solcher Bau auf eingebildeter Grundlage. Der wahre Sachverhalt entspricht nicht der Vorspiegelung. Die richtige, vollbefriedigende sexual-soziale Dauergemeinschaft, deren selbstverständliche Erwartung in jedem Mädchen großgezogen wird, bietet sich nur selten; aber die Erwartung des Mädchens ist darauf eingestellt, und erfüllt sie sich nicht, so wird die innere Freiheit dieser bedauernswerten Geschöpfe getötet und jeder frohe Lebensmut ihnen benommen. Jede Mutter erwartet das Wunder für ihre Tochter, fordert es förmlich von ihr und belädt die Ärmste mit dieser Erwartung und Forderung. Jahr um Jahr vergeht, das Wunder kommt nicht. Die Bereitwilligkeit zu Kompromissen wird immer größer, die Gier nach einem Zipfelchen Talmiwunder immer gieriger. In den Augen der Mutter, der Gesellschaft ist die Tochter, der das Wunder nicht begegnet, eine Zurückgewiesene, Minderwertige, Bemitleidenswürdige, deren Schicksal teilnehmende Seelen beseufzen. Die Voraussetzung war: in einem Manne soll sie alles finden, was Dichtergehirne als Ideal geschildert haben, nicht weniger wird von ihrem Schicksal erwartet!

Die geringe sexuelle Auswahlmöglichkeit hat ihren Hauptgrund in der seelischen und körperlichen Verbildung der meisten Menschen, die fast alle irgendein[103] abstoßendes Etwas, seelisch oder körperlich, oder irgendeinen empfindlichen Mangel, insbesondere seelisch, der unter dem Bilde »Mensch« nicht erträglich scheint, an sich haben. Unsere eigene Unvollkommenheit läßt uns die der anderen nicht weniger empfinden. Das Fazit ist, daß die meisten Menschen, anstatt daß sie voneinander Freude haben, sich voreinander »grausen«. Die Selbstverständlichkeit, mit der das Finden eines tüchtigen, schönen, intellektuellen, charaktervollen Komplementes allen Individuen beigebracht wird, und mit der bei den Mädchen die ganze Erziehung auf das Eintreffen dieser Voraussetzung eingerichtet wird, als ob es in Wahrheit wimmelte von solchen Menschen, ist eine der verhängnisvollsten Lügen. Eine Institution, die nur ein winziger Bruchteil der Menschen ohne Kompromisse erreicht und ohne Betrügereien durchhält, als ein normales Schicksal darzustellen, das jedem beschieden sein müsse, ist eine gefährliche Täuschung.

Schon vom frühesten Mädchenalter an den Töchtern das »Heiraten« als Ziel hinzustellen, heißt nur die Aufmerksamkeit auf ihr Triebleben vorzeitig wecken. Es müßte vielmehr gelehrt werden – nicht etwa auf Liebe zu verzichten, denn das wäre eine aussichtslose Verwarnung – sondern sie nicht als ein Schicksal aufzufassen, das ein Frauenleben zertrümmern kann. Es müßte diese Mädchen gelehrt werden, auch diesen Vorgang, auch das erotische Schicksal, kräftig und geschmeidig wie der Mann zu durchleben, nicht aber sich davon zerreiben zu lassen, bis zur tiefsten Demütigung, bis zur Brechung der eigenen Persönlichkeit. Vielmehr müßte man es als eine Art Schmach hinstellen, sich von einem solchen Schicksal zerbrechen zu lassen, anstatt, wie heute geschieht, Märtyrerkronen dafür zu vergeben. Die Fähigkeit, kraftvoll und elastisch auch die Gefahren der Liebe zu durchleben, sich von typisch menschlichen Schicksalen[104] nicht erdrücken zu lassen, müßte in den Frauen durch Erziehung geweckt werden. Sie müssen es lernen, auch die Liebe »leicht« zu nehmen (nicht im Sinne von leichtfertig, sondern im Sinne von elastisch, beflügelt) und sie müssen es verlernen, sich zermalmen zu lassen von diesen Vorgängen – ohne dabei sich und sie (diese Vorgänge der Liebe) zu erniedrigen.

Bevor es eine Frauenfrage gab – die aus dieser Krise emporwachsen mußte – war die Lüge noch verzwickter. Die Frau sollte nur auf die Heirat als auf die einzige Existenzmöglichkeit rechnen, andererseits so tun, als läge ihr nichts daran, um die Gebote der Züchtigkeit nicht zu verletzen! Was für ein verlogener Zier- und Gieraffe mußte da herauskommen! In Wahrheit brannte sie darauf, weil es ja doch ihr einzig mögliches Schicksal war, und dabei mußte sie die Spröde spielen, die vor dem Ereignis womöglich »floh«. Noch bis in die heutige Zeit reicht diese Lüge hinein und noch bis auf den heutigen Tag fallen die Männer am sichersten auf diese »Haltung« herein. Wie weit die Lüge gerade der Frau gegenüber ging, kann man am besten daran ermessen, wenn man die Vorschriften dessen, was sie nicht soll, nebeneinander hält: »Männerfang« betreiben soll sie nicht; gebären, ohne das Männchen eingefangen zu haben, soll sie auch nicht; das Gebären überhaupt aufgeben und als geschlechtslose Arbeitsbiene den Männern auf ihren Arbeitsstätten Konkurrenz machen, soll sie auch nicht. Was also, zum Teufel, soll sie?

Die Grausamkeit und Verlogenheit des Philistertums geht daraus hervor, daß es bei seinen abgegriffenen Meinungen bleibt, auch wenn es das Gegenteil noch so empfindlich spürt, wenn ihm die eigene Haut über die Ohren gezogen wird. So kenne ich Familien, die empört sind über die wirtschaftlichen Bestrebungen der Frauenbewegung, die aber für ihre eigenen Töchter nicht[105] schnell genug alles ergattern können, was die Frauenbewegung erkämpft, sie eifrig an alle Posten schieben, an denen für die Frau ein Bissen Brot zu erschnappen ist.

Das Liebesleben und Liebesbedürfnis des Weibes ist von der Lüge der konventionellen Moral wie von einem dicken Wall umgeben, was aber nicht verhindert, daß es sich trotzdem gerade so fühlbar macht, als wäre es anerkannt. Es ist eben und daran ist nichts zu ändern. Gerade für die Frau ist ein befriedigendes Liebesleben vielleicht noch notwendiger als für den Mann, denn sie ist der aufnehmende Teil; aus dem, was ihr von ihm kommt, baut sie ihre Energien. Der Mann, als der Ausgebende, kann sich durch ein letztes Rettungsventil, das ihm die Natur gelassen hat und das ihm zur Entladung seiner Spannungen verhilft, befreien. Das Weib aber, welchem die bloße »Ausgabe« nicht genügt, muß aufnehmen, und gerade darum ist ihr das Leben mit dem Manne noch notwendiger als umgekehrt ihm der Kontakt mit der Frau.

Die sexuelle Zwangslage der Jugend hat ihre Wortführer gefunden, neuerdings in Wedekind, der die rettungslose Bedrängnis des erwachenden Menschenfrühlings in einer Reihe unentrinnbar notwendiger Szenen darstellt. Vor ihm hat Strindberg die zehn Jahre der ersten Jugend des Mannes als die des wütendsten Verzweiflungskampfes gegen die eigene Natur geschildert. Solange die Katastrophen der sozialen, moralischen und physischen Vernichtung über dem Liebesleben der Jugend stehen, kann auch die Lüge in ihrem Verkehr nicht vermieden, muß der Frühling im Zwinger gehalten werden. Es kommt dann im Verkehr junger Leute zu diesem gräßlichen, gewaltsamen Vermeiden von Herzenszärtlichkeiten, und nicht nur in der ersten Jugend, auch in der zweiten noch, wird diese Schraube angesetzt; überall da, wo an Ehe nicht gedacht werden kann und wo man einander zu sehr »achtet«, um ohne Absicht[106] auf lebenslänglichen Kontakt auch nur die geringsten erotischen Auslösungen einander zu verschaffen. Wie fern ist diese »Haltung« der wahren friedsamen Keuschheit des Gemütes, der heiteren, wunschlosen Unbefangenheit, die sich freilich nur dann einstellen kann, wenn Menschen so leben, wie die Natur es gebietet. Diese formvollendete Zurückhaltung, zu der jugendliche Menschen, die doch nach Liebkosungen verhungern, genötigt sind, ist die bitterste aller aufgezwungenen Lügen. Dabei ist sie notwendig, da, abgesehen von allen Gefahren, auch Geschmack und Takt der Heutigen für jene Formen der Erotik, die sich aus der Kameradschaft ergeben und die eine kultiviertere Zukunft zu hoher Blüte bringen wird, noch nicht geschult sind. Nur mit der »großen Liebe« wissen sie etwas anzufangen, nur wenn eine sofortige Verknäuelung aller Interessen erfolgt. Daß es eine Erotik geben kann, eine wunderzarte und doch befriedigende, die auf dem Boden der Freundschaft erwächst, das ist eine Vorstellung, zu deren Ausführung heute noch das Menschenmaterial nicht vorhanden ist. Erotische Freundschaft! Wie viele Glücksmöglichkeiten, die heute noch ungenützt und brach liegen, birgt diese Konstellation, und wie würde sich die Lüge schnaubend eines Liebeslebens bemächtigen, das es wagt, sich auf »Freundschaft« aufbauen zu wollen. Und doch werden erst dann die Menschen nicht mehr vor der Wahl stehen, entweder die ganz »große Liebe«, bei der auch noch die Ehe möglich ist, zu finden – oder des erotischen Hungertodes zu sterben. Dann auch wird unsere Bühne, die des Lebens sowohl wie die des Theaters, nicht mehr von jenen Helden oder Heldinnen wimmeln, »die am Schlusse eines Stückes heiraten oder zugrunde gehen müssen, weil ihre Beziehungen zueinander durch die Ehegesetze verwickelt worden sind«14.[107]

Wie Luther zu der sexuellen Lüge, die die Vorspiegelung einer Keuschheit fordert, die bei gesunden und dabei ungeschlechtlich lebenden Menschen nicht bestehen kann, sich verhält, geht aus folgenden Sprüchen hervor15:

»Keuschheyt hat wol anfechtung, aber solch tegliche brunst und wueten ist eyn gewiß tzeichen, das Gott nicht gegeben hat noch geben will die edle gabe der keuschheyt, die da mit willen on nott gehalten werde.« –

»Was ist mir Jungfrauschaft vonnöten, weil ich fühle, daß ich sie nicht habe und Gott mich sonderlich nicht dazu beruft, und weiß doch, daß er mich zur Ehe geschaffen hat?« –

»Die Meide wehren sich freilich, wenn man spricht, sie hätten gern Männer, und lügen doch.« –

»Wir sind alle geschaffen, daß wir tun wie unsere Eltern, Kinder zeugen und nähren; das ist uns von Gott aufgelegt, geboten und eingepflanzt. Das beweisen die Gliedmaßen des Leibes und tägliches Fühlen und aller Welt Exempel.« –

»Wo die Natur geht, wie sie von Gott eingepflanzt ist, ist es nicht möglich, außer der Ehe keusch zu bleiben; denn Fleisch und Blut bleibt Fleisch und Blut, und geht die natürliche Neigung und Reizung ungewehrt und unverhindert, wie jedermann sieht und fühlt.« –


Insbesondere der Mann steckt tief in der sexuellen Lüge. Er hat sich ein Idealbild von der Frau konstruiert, welches er in der Praxis am allerwenigsten verträgt. Die »bedingungslose« Hingabe des Weibes spielt in diesem Bilde eine große Rolle. Nichts aber verträgt der Mann, zumindest der moderne Mann weniger als gerade diese unbedingte Hingabe. Angst und bange wird ihm, wenn sie in der Praxis auftritt, und nichts wird auch absolut sicherer mißbraucht als sie. Unter den Frauen, die wir heute in guten und dauernden Beziehungen zu Männern sehen, sind zumeist solche, denen die Fähigkeit zur wirklichen innersten und äußersten Hingabe, d.h. zur unbedingten Überlieferung des eigenen Selbst an den Mann, mangelt –[108] teils »organisch« mangelt, d.h. ihrer Natur nach – die entweder so beschaffen ist, daß sie nicht so leicht zum Schmelzen gebracht werden kann oder aber direkt ins Frigide hinüberspielt – teils daß sie aus innerer bewußter Berechnung heraus, dieser Neigung zur Hingabe nicht Raum geben. Und wenn sich der Mann über den Mangel an weiblicher Hingabe beklagt, so muß doch mit Erstaunen beobachtet werden, daß ihn nichts sicherer fesselt als dieses Unvermögen zur Hingabe (oder deren bewußte Unterlassung), und nichts schneller seinen Überdruß hervorruft als die wirklich unbegrenzte Generosität der weiblichen Seele. Die Männer behaupten, die Prostitution lebe von »der Kälte der Ehefrauen«, andererseits schätzt man diese Kälte als »Reinheit, Keuschheit«, züchtet sie durch Wahl der betreffenden Frauen und hegt gegen den feurigen Typus Frau instinktiv ein Mißtrauen. Der gewöhnliche Mann kennt in seinem Bewußtsein nur zwei Typen: die Ehefrau und die Hetäre. Unbewußt sucht er vielleicht einen dritten Typus: die monogame Geliebte. Die Idee von der weiblichen Hingabe gehört aber, wie mir scheint, zu den eingeborenen Vorstellungen und kann sich bis zur Monomanie steigern; ab und zu findet diese Monomanie eine klassische Gestaltung. So in Shakespeares Zähmung der Widerspenstigen, in Kleists Käthchen von Heilbronn – das trotz seiner »Auflösung« im »Hohen Herrn« von ihm erst erhört wird, als sich herausstellt, daß es aus den »Lenden des Kaisers« stamme – in Nansens »Maria«, die immer unbedingt zur Stelle ist, wenn der Gebieter winkt und zum Schluß durch Heirat belohnt wird, und in verschiedentlichen Balladen von Wedekind, in deren einer – ich habe den Titel vergessen – das Weib den Mann bedient, während er mit einer Buhlerin sich auf dem Lager vergnügt. Auch noch verschiedene andere Idole hat die mehr oder minder bewußte Lüge gezeitigt, die in Wahrheit nicht vertragen werden,[109] einander widersprechen und aufheben. Hedwig Dohm hat in einem köstlichen kleinen Lustspiel16 dargestellt, wie einem Manne zumute wird, als sich seine Frau plötzlich merkwürdig verwandelt, und zwar gerade nach jenem Ideal sich bildet, das er für das Wesen erster Weiblichkeit festgelegt hat. Die Kralle und die Dämonie und die »holde Unbewußtheit«, die bis zur Zerstörung der sozialen Bedingungen der Ehe führt, all das Gemengsel von Attributen, die der Mann dem Weibe aufzwingen will, wird da dargestellt. Und der Mann ist nicht wenig froh, als sich die Wandlung seiner Frau nach seinem Rezepte als ein Scherz erweist und sie in ihre viel einfachere, aber ganzere Gestalt sich zurückverwandelt.

Unter die Suggestionen der Ehe gehört nicht selten die Lüge über Wesen und Wert der eigenen Ehe. Weil an den widerstrebenden, hindernden sozialen Verhältnissen die meisten freien erotischen Beziehungen sehr oft scheitern, während das legitime »Band« die Leute – oft sehr gegen ihren Willen zusammenhält – bilden sich diese zum Schlusse ein, hier sei doch das einzig »Wahre« gewesen. Man muß hören, wie ein Mann unter Umständen sagt »meine Frau«. Und ist sie erst einmal »seine Frau«, dann ist alles gut, was früher bezweifelt und bekrittelt wurde. Auch die Familie entdeckt plötzlich alle Vorzüge an ihr. Auch auf die Frauen hat der Ausdruck »mein Mann« eine ganz besondere Wirkung. Oft klammern sie sich noch an diesen Ausdruck, selbst wenn er schon gar nicht mehr berechtigt ist, wie wir sehr oft bei geschiedenen Frauen beobachten können, die auch dann noch sagen: »mein Mann«, wenn der sich längst verflüchtigt hat.

Auch daß jeder Mann, der in das Leben einer Frau tritt, mehr oder weniger verlangt, der »Erste« zu sein, zumindest ihre eigentliche »wahre« Liebe, ist eine solche Geschlechtslüge und eine Vermessenheit dazu. Auch wenn sie dem[110] betreffenden Mann durchaus nicht ein Schicksal bedeutet, verlangt er es für sie zu sein. Sie soll den erhabenen Augenblick, da sie ihm begegnen und er sich ihr huldvollst neigen würde, vorausgeahnt und jedes andere Liebeserlebnis um dieses unbekannten Augenblickes willen verschmäht haben. Alles andere, was sie vorher in der Liebe empfand, muß nichtig gewesen sein – oder er zweifelt die Echtheit ihres Gefühls für ihn immer wieder an, selbst wenn er alle Beweise der Tiefe ihrer Liebe empfing. Ich kannte eine Frau, die an einem Manne mehr hing als an ihrem Leben. Er zerstörte diese Hingegebenheit durch ein einziges Wort: »Ich bin ja doch Nummer drei in deinem Leben,« sagte er eines Tages. Sie konnte ihm nichts anderes erwidern als: »Es ist ein bloßer Zufall, daß du nicht Nummer dreißig bist, auch das hätte sein können. Dafür bin ich ja in deinem Leben Nummer eins, nicht wahr?« Von Stunde an, wo diese häßlichen Worte zwischen ihnen gefallen waren, war es aus mit ihrer Freudigkeit; er hatte ihr grenzenloses Vertrauen zerstört und verschreckt.

Hinter dieser Pression steht das Krämertum der Liebe. Ich meine jene Gesinnung, welche auf der Ansicht ruht, die Liebesfähigkeit des menschlichen Herzens sei eine Stulle, eine Semmel oder sonst irgend etwas durch Konsumtion zu Verringerndes. Wenn man davon gegessen hat – ist weniger da. Das gesunde, reiche menschliche Herz und seine Kraft zur Liebe ist aber kein Butterbrot. »Liebe ist Kraft, die sich in sich selbst vermehrt, je mehr man von ihr abgibt« – so las ich einst unter einem Bilde Moritz von Egidys.

»Nicht die Liebe oder die Leidenschaft an und für sich ist maßgebend, sondern wie der Mensch aus ihr hervorgeht. Der, der sich verbraucht und aus der Begierde in einen neuen Genuß fällt, um dumpf zu neuer Begierde zu erwachen – der richtet sich selbst. Weh der Frau, die ihr[111] Herz hingibt an ein anderes, das keine Kraft mehr zur Liebe hat, die in der Vollkraft ihres Empfindens einen Mann trifft, der ausgelebt hat. Sie will ihren Lebensacker pflügen auf Ödland und bauen in Ruinen, in denen das Fieber wohnt17

Auch die Forderung, daß der Mann bei der Eheschließung ungefähr um zehn Jahre älter sein soll als die Frau, beruht auf Lüge. Diese Forderung wurde auf dem kapitalistischen Markt erpreßt; nicht aus biologischen Gründen, wie vorgegeben wird, sondern aus wirtschaftlichen Gründen braucht er gewöhnlich diese zehn Jahre Vorsprung, weil es von voller biologischer Reife an noch mindestens so lange dauert, bevor er sich die wirtschaftliche Ehefähigkeit erarbeitet. In Wahrheit ist die Frau, ihrer passiven Beteiligung am Geschlechtsakt wegen, viel länger in der Lage, Weib zu sein, als der Gatte Mann sein kann, Gleichaltrigkeit oder eine geringe Altersdifferenz daher durchaus normal und auch um der Kinder willen erwünscht, die unversorgt zurückbleiben, wenn der Vater sie nicht in jugendlichen Jahren erzeugte und so lange für sie arbeiten kann, bis sie selbständig sind.

Auch daß die Polygamie dem Manne gemäßer sein soll als dem Weibe die Polyandrie, ist wieder so eine Lüge. Das Gegenteil scheint eher wahr. Denn der Mann muß alle Kraft einsetzen, eine Frau zu befriedigen, während die Frau ohne (physiologische) Mühe mehrere Männer ertragen kann. (Schopenhauer hat in seinem Vorschlag der Tetragamie diese Tatsache ganz besonders hervorgehoben.)

Eine andere sexuelle Lüge. Dem Weib, das Achtung beansprucht, wird aufgedrängt, aufgezwungen, daß sie sich nur hingeben kann, wenn die »große Liebe«, die, die in den Himmel oder in die Hölle führt, da ist. Daß sie sich auch hingeben kann aus einer schönen, heiteren,[112] zarten, zärtlichen Stimmung des Gemütes, ohne dadurch dem Himmel oder der Hölle zu verfallen, will die Lüge nicht gelten lassen. Durch diese aufgedrungene Vorstellung bringt man sie aber wirklich dazu, sich mit ganzer Seele in die Beziehung zu einem Manne zu vergraben, sich hineinzuwühlen in dieses Erlebnis, um dann gewöhnlich desto grausamer daraus geschleift zu werden. Man hat sie dadurch in völlige Abhängigkeit gebracht von den erotischen Launen des Mannes, die wechselnder und unbeständiger sind als alles andere, was sonst flüchtig genannt werden kann, ohne daß ihm etwa ein Vorwurf daraus zu machen wäre. Ist doch seine Sexualität eine Funktion (zum Unterschied von der des Weibes, die ein Zustand ist) und abhängig von einem Vorgang, dessen Zustandekommen sich seinem Willen entzieht. Warum aber soll die Entscheidung über Tod und Leben, über Himmel und Hölle, über vollständigen Bankerott oder die Möglichkeit eines Weiterbestehens für die Frau von diesem Vorgang abhängen? Warum soll sie wie die indische Witwe sich selbst verbrennen, wenn er nicht mehr »will?« Warum soll sie, wenn es sein Versagen war, das den Schluß des Verhältnisses herbeiführte, nun jedes weitere Bedürfnis nach Liebe verleugnen? So sehr begreiflich es ist, daß, wenn ein Verhältnis erhaben war und erhaben endete, etwa durch den Tod eines der Beteiligten, man jede weitere Gattungsgemeinschaft verschmäht (obwohl auch in diesem Fall die Bedürfnisse der Natur oft zwingender sind als die mahnende Erinnerung), so sehr begreiflich ist es auch, daß man den Zusammenbruch einer Gemeinschaft, die nicht die volle Befriedigung bot, nicht als ein Todesurteil des eigenen Gattungszweckes hinnimmt.

Von »krankhafter Sinnlichkeit« wird in bezug auf die Frau, die nicht indische Witwe sein will, von manchen Männern gesprochen, die niemals auch nur ein Jahr, ja[113] nicht einmal ein Vierteljahr in geschlechtlicher Abstinenz leben könnten. Aber wenn sie von einem jungen gesunden Weibe erfahren, daß es erotische Bedürfnisse hat, so betrachten sie es nicht selten als ein Weib von »krankhafter Sinnlichkeit«. Daß es im Gegenteil ein Zeichen von Krankheit, ein Zeichen eines Defektes ist, diese Bedürfnisse im entsprechenden Alter nicht zu haben, kommt diesen Herren sonderbarerweise nicht zum Bewußtsein, so sehr sitzt ihnen die sexuelle Lüge im Blute.

Auch suchen diese Art Menschen nach tiefsinnigen Gründen, warum diese oder jene Frau einen »Geliebten genommen« habe, was ihren »Fall« veranlaßt hätte. Naheliegender wäre es, nach den Gründen zu forschen, aus denen sie keinen nimmt. Diese Gründe sind vor allem in der Angst vor all den Qualen und Unebenheiten des wilden Verhältnisses zu suchen, hauptsächlich aber in dem wenig Verlockenden der Persönlichkeiten selbst, das es einer Frau sehr leicht macht, »tugendhaft« zu bleiben.

Die Lüge wohnt in der konventionellen Voraussetzung. Die aber ist über uns und versklavt uns stärker, als es die Gesetze tun. Am schlimmsten wirkt die törichte Heuchelei, die darin besteht, die Meinung zu erzeugen, daß die Lösung eines erotischen Verhältnisses und eine neuerliche Verbindung nicht etwas ganz Natürliches sei. Wenn solche Vorgänge auch schmerzlich sind, so sind sie doch in Anbetracht der Schwierigkeit der »richtigen« Verbindung sehr begreiflich. Die Gesellschaft übt durch ihre Kontrolle auf die Dauer der Verhältnisse eine Pression aus, deren Folgen nur selten günstig sind. Wenn nun so ein Verhältnis in Trümmer geht, so schreibt die Sitte vor – »Gebrochenheit«. Daß eine Frau ein anderes Verhältnis knüpft, anstatt sich der Vereinsamung und damit der Verzweiflung hinzugeben, ist in den Augen dieser Sitte unerhört, obwohl, wenn dem Manne dasselbe passiert, es[114] selbstverständlich ist, daß er neue Beziehungen sucht, ja sich in sie stürzt. Infolgedessen »hängt« sie, wenn sie schon einen »Schiffbruch« hinter sich hat, wie man diesen höchstbegreiflichen Irrtum zu nennen pflegt, angstvoll an einer neuen Beziehung, will sie um jeden Preis, »halten«. Das ist aber falsch und töricht. Man soll nichts mit Gewalt haben wollen, nur wenn sich etwas von selbst hält, taugt es etwas. »Seine Vergangenheit in jeder Minute abschütteln zu können und das Leben aufnehmen, als begänne es heute«, sei das Kriterium der Großen, sagt Goethe18, aber die »öffentliche Meinung« richtet die Frau, wenn sie ihr eine Reihe von Verhältnissen nachweist, obwohl der Frau, die diese Reihe zu durchleben gezwungen ist, gewöhnlich nicht wohl dabei ist. Die Dauer eines Verhältnisses mit dem vollen, bewußten, sonnenklaren Willen beider und ohne entwürdigende Kompromisse – das ist das »Wunderbare«, das Ideal, das jeder Liebende im Auge hat. Warum aber soll die Gesellschaft annehmen, daß allen Paaren dieses Wunderbare beschieden sei? Eine Bekannte erzählte mir, der Mann, mit dem sie verbunden sei, habe, da sie ihm von einer Verbindung erzählte, die sie vor fünfzehn Monaten gelöst hatte, und zwar gerade im Monat Mai, gefragt (da er im Herbst mit ihr verbunden war), ob das in diesem Mai gewesen sei? Zufällig war es im vergangenen Mai gewesen. In der bloßen Vorstellung, daß es in diesem Mai gewesen sein könne, also vor kaum fünf Monaten, habe er sich aber entrüstet. Warum sie ein »Witwenjahr« hätte halten sollen, wenn sie auf Grund einer Enttäuschung mit einem Menschen fertig wurde, ist nicht einzusehen. Drei Tage nach diesem débacle hätte sie, wenn sie die innere Nötigung dazu empfunden hätte, ein neues Verhältnis eingehen können, anstatt fünfzehn Monate über diesem débacle zu brüten. Eine russische Studentin ermordete sich neulich, weil es schon[115] zum drittenmal war, daß eine intime Beziehung mit einem Mann sich zerbrach – und doch ist bei der gewöhnlichen Anlage des Durchschnittsmannes nichts natürlicher als das. Wäre sie unabhängig gewesen, innerlich und äußerlich, so würde sie gelernt haben, einen solchen Bruch aufzufassen als das, was er ist, ohne darob »Würmerspeise« zu werden; insbesondere, wenn nicht ein großer Glaube mit so einem Verhältnis verbunden war, wie hier der Fall.

Die gesellschaftliche Ächtung trifft, in unserer vorgeblich so freisinnigen Zeit sogar, wenn auch nicht direkt, so doch durch indirektes Nasenrümpfen eine Frau, die überhaupt nicht im »Hafen« ist; als ob das so einfach wäre, da hinein zu gelangen. Man verlangt – als Moral! – man soll glücklich sein! Das heißt, alle inneren und äußeren Verhältnisse einer Verbindung sollen stimmen, oder es soll aller Sehnsucht entsagt werden. Das Glück als Objekt einer gesellschaftlichen Erpressung – das ist die fine fleur unserer sexuellen Moral.

Mit der erhöhten seelischen und ästhetischen Entwicklung sind wir ohnedies anspruchsvoller geworden. Wir fühlen uns meist vereinsamt, finden selten die wirklich traut erscheinende Gemeinschaft mit einem Menschen des anderen Geschlechts. Wenn man sie aber nun doch findet, dann soll man auch noch wegen wirtschaftlicher oder sozialer Konstellationen sich wegwenden, »entsagen?« Unterdrücken, was danach schreit, sich zu entfalten? Leidenschaften sind nicht da, um unterdrückt zu werden, sondern – wenn sie niemanden schädigen – um gelebt und genossen zu werden wie ein seltenes Fest, und um eine edle Frucht entstehen zu lassen. Ob diese beiden, die diese Leidenschaft füreinander überfällt, wirklich für »ewig« füreinander taugen, muß und kann sich erst im Laufe der Beziehung herausstellen. Der Zustand selbst – der Zustand der erwiderten Liebesleidenschaft für ein[116] anderes Wesen ist das Glück schlechtweg und will als solches ausgekostet werden bis in die Tiefe. Ob es ein Wahn, ein Irrtum ist oder nicht, solange der Glaube daran währt, ist die Seligkeit da. Seligkeiten aber soll man auskosten, nicht im Entstehen erwürgen. Entpuppt sich das, was das Glück ausmachte, als Enttäuschung, dann tut Fassung, Kraft, vielleicht Härte not und vor allem die innere und äußere Freiheit, die Verbindung zu lösen, seiner Wege zu gehen oder den anderen laufen zu lassen, wohin er mag – ohne daß die Gesellschaft mit ihrer Kontrolle dahinter steht und konstatiert, daß da eine Lösung stattgefunden hat und abzählt, das »wievielte« Mal das bei dieser oder jener Person schon der Fall war und sie in der Achtung sinkt, wenn es schon wieder nicht für »ewig« war. Durch diese Pression werden so viele lügenhafte, innerlich faule Beziehungen, Ehen zumeist, aufrecht erhalten, weil die Beteiligten sich der Lösung schämen. So bleiben sie korrekt beisammen und lügen eine Befriedigung vor, die nicht existiert, während sie ohne die Pression der Gesellschaft längst voneinander los wären. Diese moralische Pression muß entfallen, schon aus dem Grunde, weil man doch sagen muß, daß die Enttäuschung an einem Menschen schon schwer genug für den, den sie traf, zu tragen ist und die Lösung meist immer ein großes Weh bedeutet. Wozu diese Sache noch erschweren durch die soziale Beschämung? Was zwei Menschen zusammen haben, was sie verbindet und was sie scheidet, geht niemand etwas an, um so weniger, weil nie ein anderer begreifen kann, was Menschen zueinander zieht und was sie auseinder treibt.

Durch das Leben und über die Bühne und durch die Literatur sehen wir immer wieder die Gestalt jener Frau gehen, die ein »verfehltes« Leben darstellt, weil sie sich in einem Manne täuschte. Sie geht daran zugrunde, und unter den Pressionen der Gesellschaft muß sie es. Aber[117] es könnte auch anders sein. Sie könnte auch herausschreiten aus solchem Erleben, stolzer und stärker als früher, sicherer und freier. Da ist die »Flora«; eine wunderbare Gestalt aus dem Roman »Der brennende Busch« von der großen italienischen Dichterin Clarisse Tartufari. In die schmutzige Tiber hinein führt ihr Weg, da der Geliebte sich als ein Mensch des gemeinen Tages entpuppt. Und doch müßte es für diese holde Flora noch Glück in der Welt geben, wären nicht die zarten Flügel ihrer Seele von Anfang an beladen worden durch eine überschwere Voraussetzung. Da ist »Anna Karenina«, die auf den Schienen endet. Und nicht die Liebe bringt sie dahin, denn ich glaube nicht zu irren, wenn ich annehme, daß Anna Karenina, zermürbt in ihrem Verhältnis mit Wronsky, ihn nicht mehr liebt, lange bevor sie in den Tod geht. Aber im Begriff, diese Knechtschaft abzuschütteln, sagt sie – und sie sagt es in lautem Selbstgespräch: »Dolly wird sich einbilden, ich wolle jetzt den Zweiten verlassen!« Sie hätte den »Zweiten« verlassen – das wäre unerhört! – Nicht die Liebe ist es, die Anna Karenina und Flora und Tausende ihrer Schwestern in den Tod treibt, sondern die lügenhafte Voraussetzung, die man hinter die Erlebnisse der Liebe postiert hat und die von da aus ihre Opfer treibt und peitscht.

Dabei ist die Gesellschaft niemals von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Dinge, wie sie sind, etwa nicht sein müßten. Sie foppt sich selbst durchaus nicht. Geschehen darf – zur Not – alles. Aber es soll – geleugnet werden, einer soll beharrlich dem anderen Enten aufbinden, die falsche Münze soll stillschweigend akzeptiert werden und von Hand zu Hand gehen.


»Was für ein Wahnsinn ist's, was die Nacht birgt, Tages bekennen

Und, was du heimlich tust, offen gestehn als getan!« – – –


Durch die Literatur ist diese Lüge hindurchgekrochen, d.h. durch die öffentlich anerkannte Literatur. Erst in[118] unseren Tagen ist die Darstellung des Liebeslebens, wie es wirklich ist, auch offiziell in die Literatur aufgenommen worden. Noch Flaubert schreibt über Lamartines Liebeserzählungen, daß in ihnen »die geschlechtliche Vereinigung systematisch wie die Funktion der Verdauungsorgane ins Dunkel gebannt ist«. Das ist es. Genau auf dieses Niveau wurden diese Vorgänge gedrückt – auf dem die Funktion der Verdauungsorgane steht. Hier wurden sie denn aber auch in einer Weise, die diesen Organen entsprach, umgewandelt und kamen als Exkremente – Zote und Geilheit – zutage.

Die heuchlerische Abkehr der Öffentlichkeit von der Besprechung geschlechtlicher Dinge wird manchmal besonders deutlich. In den Prozessen Harden-Moltke-Eulenburg galt der stärkste Ansturm der öffentlichen Entrüstung nicht dem Umstand, daß all die wenig anständigen Dinge, die zur Sprache kamen, geschehen waren, sondern daß sie in dem Prozeß besprochen wurden. Daß »auch Damen« den Verhandlungen, soweit sie nicht geheim waren, beigewohnt hatten, wurde noch mit besonderer Entrüstung vermerkt, und es wurde prognostiziert, daß sich nächstens Damen mit Herren über »solche« Dinge noch unterhalten würden. Ja, gehen denn »solche« Dinge die Damen nichts an? Hängt denn ihr Schicksal von dem Vorhandensein solcher Phänomene, wie sie diese Prozesse als bestehend festgelegt haben, nicht ab? Wie wenig echt die Entrüstung über die »Öffentlichkeit« des Verfahrens war, zeigte sich, als später die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde. Da war die Empörung noch größer, und der Ärger, nichts zu erfahren, durchbrach die früher vorgegebene Entrüstung über die »Aufwühlung« dieser Geschehnisse.

Die Fiktion, daß das Geschlechtsleben der Menschen, wie es durch Gesetze und Moral vorgeschrieben ist, ein befriedigendes sei, wird mit einer Beharrlichkeit aufrecht[119] erhalten, die eigentlich erstaunlich ist. »Trotzdem die meisten ›Paare‹ – Paare der Ehe! – in dumpfer Verwirrung leben, oder in irgendeiner Zwangsmonogamie, oder in heimlicher Polygamie, trotzdem man die Leute kreuz und quer ausspringen sieht aus dem Spiele, trotzdem überall alles rennet, rettet, flüchtet, trotz dieser heillosen Panik in den Ehehäfen, trotzdem werden die Pharisäer dort, wo sich diese Erscheinung einer Übergangsepoche ohne Heimlichkeiten an einem Menschenschicksal dokumentiert, das Richtschwert schwingen, zur Abschlachtung.« Und dabei lebt alles, aber rundweg alles, was auch nur einigermaßen Gelegenheit hat, auf diesen »verbotenen« Wegen. Welch ein Aufatmen ginge durch die Welt, wenn der erdrückende Ballast dieser Universallüge wegfiele. Das Schlimme ist, daß aber gerade die Leute, die irgendwie in ihrem Triebleben unvollkommen und geschwächt sind, an jenen Plätzen sitzen, wo die »Ordnungen« vorgeschrieben werden (von den bewußten Heuchlern gar nicht zu reden). »Wir sollen unser Geschlechtsleben ordnen lassen von Leuten, die gar keine Ahnung von der ganzen Geschichte haben«, sagt Robert Hessen in einer seiner Schriften. Aus dieser Lüge, die von heimlichen Sündern oder Halbeunuchen in den Kodex unserer Moral verpflanzt wurde, sind die Gefahren erwachsen, welche nicht nur das Glück der einzelnen, sondern das Heil der Rasse gefährden. Aus verlogener Prüderie hat man die Menschen ohne Aufklärung gelassen über die wichtigsten Vorgänge des geschlechtlichen Lebens. Schon in der Schule müßten Schilderungen dieser Vorgänge gegeben werden, um vor allem auch vor den Gefahren der Geschlechtsseuchen zu bewahren. Auf diesen Weg sind wir ja, Gott sei dank, in unserem Jahrzehnt glücklich gekommen. Ich kannte ein Dienstmädchen, ein junges genußsüchtiges Ding, das langsam, aber sicher in die Prostitution sank – bei völliger Unschuld. Als ich ihr das erstemal von den Folgen des unbeschränkten[120] Geschlechtsverkehrs auf die Gesundheit erzählte, sah ich sie wie vernichtet vor Entsetzen, Angst und Schauder. Sie hatte keine Ahnung gehabt von dem Bestehen dieser Krankheiten.

Durch die Bedrängung der illegitimen sexuellen Verhältnisse werden aber die an ihnen Beteiligten in Umstände gedrängt, wo eine rationelle sexuelle Hygiene gar nicht mehr möglich ist. Unter Brückenbogen und in schmutzige Schlupfwinkel, in Erpresserhände und auf Infektionsherde aller Art werden diese Vorgänge hingezwungen.

Die Sexualhygiene war einst, darüber können wir uns nicht täuschen, das Amt der »Priesterinnen« der Liebe, solange die Beiwohnung zu den religiösen Kulten zählte. Unsere »Priesterinnen« entsprechen der heutigen weniger religiösen Auffassung dieser Beiwohnung.

Keine sexuellen Regungen zu haben, ist überhaupt Vorbedingung der bürgerlichen Anständigkeit. Der Brennpunkt der Existenz wird als der nebensächlichste ausgegeben. Diese psychische Vergewaltigung zeitigte ihre Früchte; in schandbarer Verhehlung ist die mißhandelte Erotik wiedergekehrt: als Zote. Der blühende Sinnentrieb – abgestutzt, begraben und mit Mist bedeckt – kehrt in dieser Transfiguration wieder.

Die Resolutionen, die wir aus der Prüfung dieser Erscheinungen zu ziehen haben, sind folgende:

Lüge ist, daß die Gesellschaft das Geschlechts- und Liebesleben der Menschen durch die Ehe allein befriedigend reguliere.Wahr hingegen ist, daß die größere Hälfte der Menschen in der Ehe nicht Befriedigung findet, zum Teil auch gar nicht zur Ehe gelangt.

Lüge ist, daß die Menschen im Punkte des sexuellen Lebens sich so befinden und verhalten, wie sie es offiziell (gesellschaftlich) einander vorspiegeln: als ob dieser Punkt ein untergeordneter Faktor ihrer Existenz wäre, und als[121] ob das, was in diesem Punkte »anständig« genannt wird, mit den wahren Bedürfnissen ihres Lebens sich deckte. Wahr hingegen ist, daß dieser Punkt der Brennpunkt jeder in ihren Instinkten nicht verkümmerten, gesunden menschlichen Natur ist, daß von seiner vollen Befriedigung das volle Gleichgewicht auch der seelischen Persönlichkeit abhängt, daß das Leben, welches die Gesellschaft – zu einem Trust der Lüge vereint – »anständig« nennt, die Menschen meist nicht befriedigt, daß sie alle zusammen nicht so leben, wie sie es einander alle zusammen vorspiegeln, oder doch nur »der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe«. Da dieser »eigene Trieb« ein universeller ist, ist nicht einzusehen, warum die sexuelle Massenlüge gegenseitig aufrechterhalten werden soll. Man einige sich auf die Wahrheit, das ist: Anerkennung der vollen Berechtigung des Wunsches eines jeden Menschen nach Liebe und freie Möglichkeit, diesen Wunsch zu befriedigen, auf welche Art immer es jedem einzelnen paßt, soferne er dadurch nicht als Schädling (insbesondere im Hinblick auf die Gesundheit der Rasse) auftritt.

Anerkennung also des Liebeslebens als des Zentralen einer jeden Menschenexistenz und somit der Gesellschaft selbst – gewährleisteter Respekt und Unantastbarkeit aller unschädlichen Formen des erotischen Lebens, zu deren Gebrauch die gesellschaftlichen Umstände und die subjektive Veranlagung die einzelnen veranlassen – muß gefordert werden.[122]

13

Mitgeteilt bei Georg Hirth: »Wege der Liebe.«

14

Shaw, Vorrede zu »Mensch und Übermensch.«

15

Mitgeteilt von Dr. A. Saager in »Die neue Generation«, 4. Jahrg., Heft 8.

16

Ein echtes Weib. – Aufgeführt 1906 im Berliner Lyceumklub.

17

Agnes Harder: »Liebe«.

18

Band I, Sprüche.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 100-123.
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