3. Die »melancholische Travestie«
Ihre Opfer – Ihre Gefahren – Die dreifache Korruption: die des Mannes, des Opfers und des sozialen Bewußtseins – Der Abgrund zwischen »Tag- und Nachtbewußtsein« – Die Schwächung der Sexualimpulse – Die Rache der mißhandelten Natur – Das Leiden des Mannes an der Travestie.

[187] Das Gräßliche dieser »melancholischen Travestie« ist: ein Wesen lebt ausschließlich dieser Sache, es hat als einen »spezialisierten Beruf«, den Geschlechtsakt! Diese Travestie ist aus der Monomanie der Kultur entstanden, die darin besteht, daß sie, wie überall, so auch in der Sexualbestimmung der Frauen Extreme aufrichtet. Die einen sollen gebären ins Grenzenlose, die anderen sollen entbehren ins Grenzenlose, und die dritten sollen gewähren ins Grenzenlose. Und man hat Wesen, die Menschenantlitz, Frauenantlitz tragen, hergenommen und hat sie zu lebenden Latrinen gemacht, zu einem »Reservoir«, in das die aufgespeicherte Libido des Mannes sich ergoß. Und diese Frauen sollen leben vom »Wohlgefallen« ungezählter Männer, ausgeliefert sind sie mit ihrer Existenz der Gunst derer, die sie zu bedienen haben. Wenn nichts anderes, diese Tatsache allein mußte eine Bewegung erzeugen, eine Bewegung des seiner Natur nach eigentlich ruhigen, passiven Prinzipes, eine Bewegung der Frauen, eine Frauenbewegung. Die Hetäre, die Amazone und die Emanzipierte, diese drei Frauentypen waren zu allen Zeiten im geheimnisvollsten engsten Zusammenhang. Auf diesen Zusammenhang werden wir noch an anderer Stelle zu sprechen kommen.

Das Gräßliche am Beruf der Dirne ist der Verlust ihrer menschlich besonderen Persönlichkeit.[187]

Diese Enteignung erstreckt sich vor allem auf das, was an ihrem Geschlecht der Gattung gebührt; sie ist die immer Unfruchtbare, die unfruchtbar Gewollte, und die Energien ihres Fortpflanzungsapparates sind einem gräßlichen »Dienst« hingeopfert. Und das Schaurige an diesem Dienst ist eben seine Fruchtlosigkeit, die Überflüssigkeit aller Ausgaben, aller Energienleistungen, dieses Moment, welches im Bewußtsein aller Völker als ein so tragisches Verhängnis empfunden wurde, daß der Mythos es zur Höllenstrafe erschuf. Die Tartarosdienste des Aufreißens und Wiederzuschüttens von Gruben, des Hinaufwälzens schwerer Blöcke über einen Berg, die dann von da wieder hinunterrollen, des Wasserschöpfens in ein rinnendes Faß, welches nimmer voll werden kann, wurden als die wahren Strafen der Hölle, als die wahren Schrecken der Verdammnis empfunden und leben als solche in den Höllensymbolen aller Völker. Verschwendete Energien, Kräfteverbrauch in Handlungen, die, der Natur ihrer Objekte nach, fruchtlos, resultatlos bleiben müssen, das ist die schwarze Verdammung, die die Seele des Menschen, sein Geistigstes, seinen immateriellsten Trieb treffen kann. Denn dieser Trieb will bei aller normalen Kreatur, daß aus einer Leistung etwas entstehe, etwas werde, etwas bleibe, und alle Kreatur hat diesen Trieb, etwas von sich abzulösen, irgendein Geschehen ihrerseits in Raum und Zeit hineinzusetzen, etwas zu hinterlassen, weiter zu geben. Die Dirne aber ist die Danaide, die zur fruchtlosen Vergeudung ihrer Energien Verdammte. Die Natur hat sich auch furchtbar gerächt und hat diese Vergeudung mit Krankheit geschlagen.

Die Korruption durch die Prostitution ist eine dreifache. Es ist die Korruption des Mannes, der sie benützt, die des Weibes, das ihr dient, und die des sozialen Bewußtseins, das sich mit dem Teufelskreis von Widersprüchen, in die es den ganzen Vorgang eingezwängt hat, abfindet. Von[188] den gefährlichen psychischen Folgen, die das Doppelleben auf der Tag- und Nachtseite für den Mann bedeutet, der auf diese Art zwei Vorstellungsmassen beständig auseinanderzuhalten hat, haben wir schon in jenem Abschnitt, der das Wesen der doppelten Moral betrachtet, gesprochen. Der Abgrund zwischen den beiden Geschlechtern, zwischen Mann und Weib, die einander auf dieser Tagseite gegenüberstehen, wird immer größer, weil dieses unheimliche Andere, dem der Mann frönt, seine Seele verschüttet und verdunkelt und seinen Körper besonders an jener Grenze, wo er am deutlichsten mit der Seele verhängt ist – in der Erotik – schwächlich und widerstrebend gemacht hat, dem ungebrochenen Zweck der Natur gegenüber. Ganz abgesehen von den wirklichen Seuchen, von den Geschlechtskrankheiten, von der physiologischen Schwächung, ist an jene andere Schwäche, an diese sonderbare Verdunkelung der seelischen Impulse, an diese Trübung des erotischen Bewußtseins zu denken, welche es immer schwerer macht, daß Mann und Weib einander wirklich verstehen, einander wirklich genießen, ohne einander zu mißbrauchen. Man bedenke, welche Ungeheuerlichkeit in den Zentren des erotischen Erlebens beim Vorgang der Prostitution vor sich geht, einerlei ob diese Zentren nun im Gehirn zu suchen sind, wie die einen vermuten, oder im »nervösen Gewebe« und in den Blutgefäßen. An der Grenze zwischen körperlichem und seelischem Vorgang lebt und wirkt das Gefühl, welches das Individuum zu allen Taten führt, die die Gattung tragen. Und gerade dieses Gefühl, von dem alles abhängt, Individuum und Gattung, es wird grausam verbildet. »Der Akt der Prostitution«, so erklärt Godfray40, »kann physiologisch vollständig sein, aber er ist es in keinem anderen Sinn. All die moralischen und intellektuellen Faktoren, die mit dem physischen Begehren zusammengehen, um[189] eine vollkommene Anziehung der Geschlechter zu bilden, fehlen. All die höheren Elemente der Liebe, Bewunderung, Respekt, Ehre und selbstaufopfernde Hingabe, sind der Prostitution so fremd wie dem egoistischen Akt der Selbstbefriedigung. Der prinzipielle Wert für die Sittlichkeit liegt beim Geschlechtsakt mehr in jenen Folgeerscheinungen als in dem Akt selbst.« – Der Fluch trifft also nicht nur jene unseligen Geschöpfe, sondern auch ihre Mißbraucher. Vor allem aber auch das dritte, das, was uns alle umgibt, das Gewissen der Gesellschaft, das soziale Bewußtsein. Grausamkeit und Moralheuchelei, bösartiges Pharisäertum können hier aus reicher Quelle schöpfen. Die Dirne unterdrücken, sie mit einem unlösbaren Fluch in den Abgrund stoßen, »nachdem man sich von ihr Freude und Genuß erschlichen und erbettelt hat«41, das ist der Vorgang, mit dem sich das öffentliche Gewissen »abfindet«. Um so mehr Hohn fordert die Ehre heraus, die auf der anderen Seite der begünstigten Schwester der Dirne, der gesicherten Ehefrau, erwiesen wird. Die Moral dreht sich in diesem Fall in einem Teufelskreis der Absurdität, rast wie ein toller Affe, der seinen Schwanz fangen will, um ihre eigene Achse. »Es ist nur zu bekannt, daß Männer oft zu Prostituierten gehen, um die Erregung zu befriedigen, in die sie durch die Liebkosungen ihrer Braut geraten sind. Da die seelische und physische Erregung unbefriedigter Zärtlichkeit bei Frauen oft nicht weniger stark ist als bei Männern, so wäre die Braut in diesem Falle gleichfalls berechtigt, Befriedigung bei einem anderen Mann zu suchen – und der Kreis ungesunder Absurditäten wäre so geschlossen«42. Die Braut also möchte ihn und sich befriedigen, darf es nicht und wird dafür geehrt. Die Dirne möchte ihn lieber nicht »befriedigen«, kann es eigentlich auch nicht, muß es aber und[190] wird dafür mißachtet. Er selbst, der Mann, ersehnt die Befriedigung bei jener, verzichtet aber und sucht sie bei dieser, die er dafür bespeit. – Wie man sieht, wirbelt der Affe flott um sich selbst. Eine »Schutztruppe für ehrbare Bürgerstöchter«, so nennt Robert Hessen die Prostitution43, und diese Schutztruppe selbst wird »denunziert, ausspioniert, verfolgt, abgefaßt, auf die Polizei geschleppt, kontrolliert, verrufen, gedemütigt, ohne Wohnungsrecht umhergestoßen, wucherischen Wirtinnen ausgeliefert, Zuhältern in die Arme getrieben«. Und von der Sittlichkeit, die dieses bewirkt, sagt derselbe Verfasser, »der Heiland würde vor ihr ausspeien«. Eine verlogene Moralheuchelei beherrscht in dieser Frage die öffentliche Meinung. Sehr richtig sagt Hessen, daß, anstatt den außerehelichen Verkehr unter den Gesichtswinkel einer aufgeklärten Hygiene zu nehmen, es der angesäuerten Moral gelungen ist, auch den Rest aller jener Geschlechtsformen, die nicht unter Dach und Fach der Ehe zu bringen sind, »näher an die Prostitution heranzurücken«. Und je höher diese Moral die gesicherte Gattin auf ihrem Tempelstuhl, auf dem sie sowieso schon ruht, erhebt, desto tiefer möchte sie jede andere Weiblichkeit, die der Kastrierung bei gesundem Leib widerstrebt, schleifen – bis hinein in jenen Abgrund, in den sie die ehemals heilige Zeremonie herabgestoßen hat. Aber die Natur rächt sich und spielt der alten Vettel, als welche sich diese offizielle Moralheuchelei präsentiert, einen Streich. Je weniger diese ehrbare Alte von dem »Sumpf« erfahren will, je mehr sie mit ethischen Flausen alles zudecken möchte, was von da zum Himmel stinkt, desto mehr müssen die ihren daran glauben. Und ich kann nichts Besseres tun, als hier die mannhaften Worte wiedergeben, die Robert Hessen für diesen Vorgang gefunden hat: »Die Syphilis, die in Ihren eigenen werten Familien die Zähne der Enkel schwärzt,[191] ihnen weiche Knochen und harte Drüsen beschert, den Jünglingen schon die Haare nimmt, der Fluß, der die Wangen Ihrer verheirateten Töchter bleicht, ihren Gang müd und schleppend werden, sie über Seitenstechen klagen läßt, so daß sie kaum noch Treppen steigen können – beide stammen aus demselben großen Jauchebecken, dessen Säuberung Ihnen leider keine Freude macht.«


Auch der Mann leidet an dieser Travestie. Es liegt für den feinfühligen Mann viel Demütigung in der Benützung der Prostitution, die längst aufgehört hat, für ihn eine Freudenorgie zu bedeuten. Tiefe Depression, ja Verzweiflung folgen oftmals dieser Nötigung, die Travestie für das »Ding« selbst hinnehmen zu müssen. Wundervoll wurde dieses Problem in einer Novelle von Hugo Salus herausgearbeitet, die in den »Novellen des Lyrikers« enthalten ist. Es wird da ein junger Mensch geschildert, der in einer der Selbstvernichtung sehr nahen Stimmung in den Prager Gassen umherirrt in Erinnerung an die letzte Nacht, die sein erstes Erlebnis beim »Weibe« brachte. Indem er auf dem Platz steht, auf dem sich die alte Prager Aposteluhr befindet, und hinaufblickt, wie sie die Stunden schlägt und die Apostel herausmarschieren und der Totenschädel auf der Uhr seinen Rachen öffnet – fliegt eine Schwalbe in diesen Schädel, der klappt zu, und das Vögelchen ist drinnen gefangen. Nun macht der junge Fant den Umstand, ob das Leben ihn »wieder haben« solle, davon abhängig, ob in der nächsten Stunde, wenn der Rachen des Todes sich wieder öffnet, die Schwalbe wieder heil herausfliegen werde, und, da dies geschieht, preist er den lieben Gott als einen klugen Mann, denn wenn er nicht so klug wäre, dann hätte er einen Meineidigen mehr auf der Welt herumgehen. Trotz der heiteren Wendung in dieser Geschichte beweist sie doch, wie[192] schwer auch der Mann daran trägt, keinen anderen Ausweg für sein natürliches Begehren zu haben, als die Prostitution, und, statt ein liebendes und geliebtes Geschöpf in die Arme schließen zu können, ein gedungenes Werkzeug zur Befriedigung übermächtiger Impulse benützen zu müssen.

40

»Sciences of sex«.

41

Zephat, in der Zeitschrift »Geschlecht und Gesellschaft«.

42

Havelock Ellis.

43

»Reinlichkeit oder Sittlichkeit?« Verlag Albert Langen.

Quelle:
Grete Meisel-Hess: Die sexuelle Krise. Jena 1909, S. 187-193.
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