[I]

Diesesmal, liebster Freund, erhalten Sie von meiner letzten Reise kein Geschenk mineralogischen Inhalts und Gewichts, sondern es ist eine andere Seltenheit womit ich Sie unterhalten will, die nicht so leicht sich auf den Landstraßen aufsammlen läßt. Es ist die Geschichte eines Mannes der die sonderbare Entschließung gefaßt, und die blendende Szene von Ansehn und Gewalt gegen das Leben des Landmanns vertauscht, und zwar freiwillig vertauscht hatte. Schon ehe ich Heilbronn verließ hörte ich von ihm reden, und zwar aus so verschiedenen Gesichtspunkten von seinem Charakter urteilen, daß ich bald merkte es müßte mehr als eine Alltagsgeschichte sein. Allgemein aber war doch die Sage, daß er ehedessen, Minister gewesen, das Vertrauen des Fürsten in einem sehr hohen Grade besessen, und nun auf dem Lande als Bauer lebte. Jeder kolorierte das Ding wie er's gut fand. Dem einen war's unbegreiflich. Der andere fand's lächerlich. Die Damen fanden's abscheulich. Die Herren, die sich die weisesten dünkten, sahen es als eine Sucht an, auf eine neue Art brillieren zu wollen, den Sonderbaren zu spielen, und nach Mönchenweise die Welt zu verlassen, weil sie uns verlassen hatte. Das Scheußlichste, was man am meisten ausstieß, war, daß er allen Umgang mit der honetten Welt aufgehoben hatte, selbst Bauernarbeit tat, sein Gesinde am Tisch essen ließ, usw. – Diese letzten Züge waren nun freilich ein wenig frappant. –

Weil ich diesmal fest entschlossen war, nicht durch das Gläschen aller dieser Herrn und Damen zu sehen, sondern mein Paar Augen selbst zu brauchen, so erkundigte ich mich eben wie weit es von meiner Straße nach Ulm bis an sein Dorf abwärts sein möchte, und sprach meinem Braunen zu. Ich kam den andern Tag, vormittags um neun Uhr an, und gab einen Brief des Herrn von Meyer, aus Heilbronn, an den Pfarrer des Orts ab, der sein Freund sein sollte. »Das hat Ihnen ein guter Geist eingegeben«, sagte der Pfarrer mit Lächeln, als er sah, warum ich an ihn rekommandiert war, »daß Sie erst bei mir anfragen, und nicht geradezu auf das Gut des Herrn Oheim losgeritten sind. Er hat seit langer Zeit so viel indiskrete Besuche erlitten, daß er seinen Unmut darüber zuweilen nicht hat bergen können. Die Leute haben's übelgenommen, wenn sie ihn inkommodierten. Alle kamen zu schauen, und er wollte nicht, oder hatte nichts für sie[1212] aufzuweisen. Es war also gerade als wenn man sie vor der Türe eines Raritätenkastens abgewiesen hätte. Er hat natürlicherweise immer zu tun, und kein Mensch wollte begreifen, daß man ihn von etwas abhielte. – Sein Sie indessen ruhig. Wir wollen beide zusehen, daß wir's heute besser machen.«

Sobald wir aus dem Dorfe waren, wies mir der Pfarrer das Haus, das eine gute Viertelstunde weit ablag. Als wir noch 100 Schritt von der Haustür waren, bat mich der Pfarrer ihm nur langsam zu folgen, und er ging voraus. Ich eilte nicht, und als ich ankam, fand ich meinen Begleiter im Hofe, neben einem langen Manne stehen, den ich von hinten her sogleich für den Herrn des Hauses ansah. Er wandte sich von ohngefähr um, kam auf mich zu, grüßte mich freundlich und gab mir die Hand. Ich fand hier, wie bei so vielen andern Gelegenheiten des Lebens, fürs schicklichste, nichts zu sagen. Denn war mein Besuch überlästig, so kammen alle Entschuldigungen zu spat, die ich hervorstottern mochte, und war er's nicht, so hatte er schon längst in meinem Gesicht gelesen, daß meine Neugierde von der gutherzigen Art war. Außerdem war ich von dem geraden Anstand des Mannes frappiert. Die edelste Bildung, in der simpelsten Darstellung enthüllt! Sein Haar war nach Bauern- oder Wiedertäuferart ganz gerade abgeschnitten; seine Kleidung ein grauer Frack und Hut, gelbe lederne Beinkleider, leinene Strümpfe und Schuhe mit Rahmen.

»Sie besuchen indessen meine Frau und Tochter«, sagte er zu mir: »ich muß auf das Feld, und die Saat selbst bestellen. Ich habe meinen Knecht kürzlich verheiratet, und dieser kann noch nicht, wie ich's wünschte, mit dem Säen umgehen. In anderthalb Stunden bin ich bei Ihnen.« Mit diesen Worten nahm er von dem Knecht den Sack um die Schultern und hieß ihn nachkommen.

Ich folgte dem Pfarrer in den Saal, wie er's nannte. Dies war eine große herrliche Küche, wo an einem Ende, nach ausländischer Art, das Feuer auf der Erde brannte und die Töpfe herumstanden. Weil die Jahrszeit schon etwas feucht war, so hielte sich Frau Oheim und ihre Tochter hier am Feuer auf, und warteten ihrer Arbeit. Sie schnitzten eben Äpfel als wir in die Tür traten. Ohne aufzusehen, grüßte sie uns freundlich und die Tochter rief: »Sie müssen uns helfen, Herr Pfarrer, daß wir heute früh noch fertig werden.« Wir setzten uns zu den Frauenzimmern, und die Bekanntschaft war so gut und geschwind gemacht,[1213] als wenn wir uns schon seit langer Zeit gesehen hätten. Nach einiger Anweisung ging mir die Arbeit auch vonstatten. Die Mutter sah mich von Zeit zu Zeit an, als wenn sie etwas an mir examinierte. Endlich sagte sie: »Es scheint, Sie gefallen sich bei uns, sind Sie nicht auch ein Landmann, mein Herr?« »Noch bin ich's nicht«, gab ich zur Antwort, »allein ich hoff's noch zu werden. Ich bin leider noch ein Kaufmann, und die liebe Sonne wird mir nicht eher zuteil, als wenn ich geschäftehalber auf Reisen gehe. Es ist ein Glück für mich, daß mein Kompagnon so ungern die Stadt, und sein Kollegium, Kränzchen, Zirkel, verläßt, und mich dafür in die Schweiz schickt. Ich gehe alle Jahr unsers Linnenhandels halber nach Langenthal, und besuche auch zuweilen die kleinen Kantons.« – »Da sind Sie ja ein recht glücklicher Mann«, rufte die Tochter, »daß Sie alle Jahre einmal nach der Schweiz gehen dürfen. Unser Papa erzählt uns den Winter durch so viel Gutes von diesem glücklichen Lande, daß ich alles drum geben wollte, wenn ich's einmal gesehen hätte. Aber sagen Sie mir, sind die Mädchen würklich so schön in der Schweiz, wie der Papa haben will?« – »Das sind sie gewiß«, sprach ich – »und man darf auch allzeit sicher vermuten, daß das Blut in einem Lande schön ist, wo die Sitten rein sind – und durchgehends wird der Reisende durch diesen Anblick in der Schweiz gelabt – wenn ich die große Städte vorbeireite, und nur das Land besuchen will. Sie dürfen da nicht lange suchen, um das Modell zur Sophie in Rousseaus ›Emile‹ zu finden.«

Das junge Frauenzimmer stutzte. »Meine Tochter kennet Rousseaus ›Emile‹ sowenig wie Schokolade und Kaffee. Wir haben zwar alles dies im Hause, allein weil unsrer Kinder Gaumen von Jugend an dafür bewahrt worden ist, so ist er jetzo zu gesund darzu, um davon zu kosten.« – Und so war der Diskurs auf einmal abgebrochen. Man ermunterte mich zum Frühstück, und versprach mir zum voraus, ich würde mir den Appetit damit nicht verderben, weil die Mittagskost sehr mäßig sein würde. – Weil ich von Rousseaus »Emile« gesprochen hatte, so bestund Frau Oheim sehr ernstlich darauf, daß ich Schokolade annehmen müßte. Und ich hingegen verlangte Erdäpfel. Endlich trat die Tochter ins Mittel und sagte, »ich bringe Ihnen Butter, mein Herr, und ich will doch gerne hören, ob die Butter in der Schweiz unsre Schwabenbutter schänden soll.«

In dem Augenblick kam der kleine Oheim, ein allerliebster Knabe von ohngefähr 5 Jahren, mit einem seiner Kameraden[1214] zur Küche hereingeritten, und stellte seine Pferde in die Ecke im Stall. Er hatte seine Schmitze an der Peitsche verloren, kam auf den Pfarrer zu, und verlangte, er sollte ihm eine andere Schmitze aus dem Bindfaden, den er aus der Tasche zog, zurechtbinden. Der Pfarrer, der seine Arbeit mit Schnitzen nicht aus der Hand lassen wollte, wies ihn an mich. »Der kann's nit!« sagte der Junge ganz ruhig, und als der Pfarrer darauf bestund, daß ich's besser verstünde, wie er, so sah er mich von Kopf bis zu Fuß an, und sagte noch einmal ganz ernsthaft: »Der kann's nit!« Ich ging darauf nach ihm hin, ergriff ihn bei der Hand, und führte ihn nach meinem Stuhl. Als er so zwischen meinen Knien stand, fragte ich ihn, wie lang er seine Schmitze haben wollte, wo ich sie anbinden sollte, kurz, ich brachte es dahin, daß er mich den Anfang machen ließ, allein doch immer gab er sehr sorgfältig acht, wie ich mich dazu stellte. »Sie haben wohl auch Kinder, weil Sie sich so gut mit dem Jungen abgeben können?« fragte mich Frau Oheim. »Die darf ich nicht haben, weil ich noch keine Frau habe«, war meine Antwort. »Das ist sehr kommod«, versetzte Frau Oheim, »wenn man oft auf Reisen ist, nicht wahr? Und außerdem hat's auch seine angenehme Seiten; man ist als ein lediger Mann überall besser aufgenommen.« »Darüber hab ich noch nicht Zeit gehabt zu reflektieren«, war meine Antwort. »Denn mit Willen bin ich gewiß so lang nicht im Hagestolzenstande geblieben.«

»Und wer hindert Sie denn herauszutreten, wenn's Ihr ernstlicher Wille ist?«

»Meine Umstände. Denn es will was sagen, wenn ein Handel wie der unsrige, der mehr auf Industrie als auf Fonds beruht, zwo Familien ernähren soll.«

»So muß Ihr Handel«, versetzte Frau Oheim, mit Lächeln, »weniger wert sein als ein tüchtiger Kohlgarten in Ihren Vorstädten, der Vater und Schwiegersohn oft reichlich mit ihren beiden Familien ernährt.« – »Ja, wenn wir mit unserm Gewerbe in den Stand der Kohlgärtner zurücktreten, und unsre Weiber und Kinder mit Buttermilch nähren könnten. – Glauben Sie wohl, daß mein Kompagnon, der eine etwas stärkere Familie hat, seiner Frau in meiner Gegenwart, die Anerbietung tat, ihr alle Abend einen Speziesdukaten zu geben, wenn sie ihn von allen Ausgaben freisprechen wollte, und es die Frau ausschlug? Und zwar hier Hausmiete und Holz nicht mitgerechnet.« –

»Ich begreife was Sie da sagen«, versetzte Frau Oheim ganz[1215] ernsthaft. »Ich weiß auch noch die Zeiten, wo wir mit Tausenden nicht leben konnten. Und jetzo leben wir mit wenigen Einkünften im Überfluß. Es kommt, wie die Alten sagten, alles auf eine gute Einrichtung an. Aber wär's denn unmöglich, diese bei Ihnen zu treffen? Sie leben ja in keinem öffentlichen Amt, sind freie Bürger, Privatleute!«

»Die Bemerkungen des Nachbars halten uns in so strenger Ordnung, als je einen Bedienten einer fürstl. Residenz die Klasse seines Amts. Wer's anders macht als andere Leute, kommt nicht fort, macht sich ridikül, verliert seinen Kredit. Klein und mäßig zu leben, ist beinahe in den jetzigen Zeiten so gefährlich, als es bei unsern Vätern war, Aufwand zu machen. Wer sich nur einen Artikel des bei uns eingeführten Luxus versagen wollte, kommt sogleich in Verdacht, daß es liebe Not sei, und daß seine Umstände nicht die besten sein, sonst würde er so was nicht tun.«

Hier ward die Konversation durch die Ankunft des Herrn Oheim unterbrochen, der vom Felde kam, und sich zu uns ans Feuer setzte. »Gebt uns zu essen Kin der«, rufte er, »mich hungert. Sonst war dies ein Glück«, indem er sich zu mir wandte, »das mir nur zuteil ward, wenn ich mit auf die Parforcejagd geritten war; jetzt hab ich's alle Tage ungerufen.«

Mutter und Tochter deckten sogleich den Tisch, und das Essen ward vom Feuer gehoben, und angerichtet. Mir war dies ein seltner Anblick von so schönen und reinlichen Händen bedient zu sein. Die blanken Teller und Schüsseln waren bald von der Wand genommen, kurz, es ging alles so fix als wenn's kommandiert wäre. Der Pfarrer ging nach Hause, weil er gleich nach Tische ein Kind erwartete, das man ihm zur Taufe aus einem benachbarten Orte bringen sollte. »Sie bleiben bei uns«, sagte Herr Oheim, »und dörfen nicht fürchten, daß Sie uns inkommodieren. Sie nehmen den Platz meines Sohns ein, der aufs Land gegangen ist, und heute abend erst zurückkommen wird.« Und nun kam der Knecht und die Mägde zum Essen herein. »Sie fürchten sich doch nicht, mit dem Gesinde zu essen«, sagte der Herr vom Hause; »es sind wenigstens so gute Menschen wie wir, und wenn sie für uns arbeiten, so denk ich, sie können auch mit uns essen.« Herr Oheim sprach mit wenigen Worten, aber mit wahrer Erhebung des Herzens das Tischgebet, und alles war so neu für mich, daß ich bis zu Tränen gerührt war. Darauf setzte sich der Herr und die Frau oben an den Tisch. Madame nahm den Kleinen neben[1216] sich. Ich hatte auf der einen Seite die Tochter und auf der andern Seite den Knecht. Die Mägde saßen unten.

Bei Tische fiel kein Wort lateinischen Inhalts, das nicht für die ganze Gesellschaft gewesen wäre, nichts aus dem bürgerlichen wissenschaftlichen Leben, auch nicht eine einzige allgemeine Reflexion über den Landbau. Der Knecht, ein junger roter Pursche mischte sich ins Gespräch, und versicherte seinen Herrn ganz dreiste, daß er im Säen seinen Zirkel von der Brust weg treffen wollte, so gut wie einer, wenn man's ihm nur anvertraute. Alles freute sich auf den Abend wenn der Sohn nach Hause kommen würde. »Ich habe nieine alte Pferde letzthin abgeschafft«, sagte Herr Oheim, »und heute ist mein Sohn aufs Land um andere zu kaufen. Es hat sie niemand gesehen als er, und ich bin sehr begierig wie sie ausfallen werden. Es sind zwei Fuchsstuten, die der Mann, dem sie gehören, selbst gezogen hat. Ich kenne ihn als einen vortrefflichen Landwirt, und also verspreche ich mir nichts Übels. Er hat ein paar traurige Fälle in seiner Familie, die ihn nötigen die Pferde abzuschaffen, um Geld zu machen. Sollten sie mir auch nicht behagen und ich muß sie wieder weggeben, so ist die Lektion für meinen Sohn soviel wert, als was am Hauptgeld verloren wird. Und schlagen sie ein, so ist das Eigentum, das mein Sohn durch seinen guten Einkauf darüber erhält, mir und der Familie ein wahres Kapital, das sich reichlich verzinsen wird.« »Herr Heinrich wird aber jetzo recht stolz sein mit seinen Fuchsstuten«, fiel der Knecht ein, »und ich werde nur mit den Ochsen fahren dürfen. Zum Putzen und Striegeln ist einer gut genug. Wenn er mir sie aber auch nicht in Acker gibet, so muß ich sie doch zu den Fuhren haben, und wenn ich in die Stadt zu Markte soll; denn da kann er doch nicht mit. Ich will doch sehen, ob er 's Füllen mitbringt; denn das, sagte er, das müßte mit in den Kauf, und die 24 Karolin wären umsonst nicht so blank.« – »Das Füllen, das Füllen«, rief der Kleine, »ach wann's nur ein Schimmelchen ist, daß ich drauf reiten kann. Nicht wahr, Papa, ich darf heute mit Philippen bis an den Wald, und dem Bruder entgegengehen.«

Quelle:
Sturm und Drang. Band 2, München 1971, S. 1212-1217.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. (Les Bijoux indiscrets)

Die geschwätzigen Kleinode oder die Verräter. (Les Bijoux indiscrets)

Die frivole Erzählung schildert die skandalösen Bekenntnisse der Damen am Hofe des gelangweilten Sultans Mangogul, der sie mit seinem Zauberring zur unfreiwilligen Preisgabe ihrer Liebesabenteuer nötigt.

180 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon