Ein paar Worte über das Folgende

Es giebt eine Zeit in unserm Leben, wo unser Gefühl in seiner ersten vollen Blüthe steht, wo das trunkne Herz, selbst in seinen Verirrungen noch unschuldig, nach jedem Schattenbilde der Phantasie[1] hascht, wo wir in holden Träumen schwelgen, an Erfahrung Kinder, an Genuß Götter sind, wo selbst der Kummer noch süß ist. Wir denken, wir fühlen da wohl manches, was eine größere Reife des Geistes uns späterhin in ganz anderm Lichte erscheinen läßt; aber auch der Irrthum ist Uebung unsrer Kräfte, und wuchert für das künftige[2] Erkenntniß der Wahrheit. Diese Zeit, die die verschiedenen Verhältnisse der Dinge außer uns bei dem Einem verlängern und bei dem Andern abkürzen, nennen wir den Frühling unsers Lebens, und selbst der weisere Mensch schaut oft, wenn sie verschwunden, mit dem Blikke der Sehnsucht auf sie zurük. – Doch sie verschwindet [3] bald! – Der helle Stral der Vernunft wekt uns aus dem lieblichen Schlummer, wir fühlen, daß uns ein höheres Gesez vonnöthen ist, und das Bedürfniß, nach deutlichbestimmten Gründen zu handeln, regt sich immer lauter und lauter in uns.

Ob es mir gelungen ist, die Aeußerungen eines reinen Gefühls[4] , unter gewissen äußern Verhältnissen, befriedigend darzustellen, dies bleibt dem Urtheil jedes Einzelnen überlassen. Die höhern Forderungen einer reifern Vernunft zu entwikkeln, das lag nicht in meinem Plane.

Uebrigens soll das eben Gesagte die Aufmerksamkeit weder von dem folgenden ab- noch auf dasselbe hinziehen,[5] ziehen, sondern blos ganz einfach den Gesichtspunkt andeuten, woraus dieser erste kleine Versuch betrachtet zu seyn wünscht.


Die Verfasserinn.


Quelle:
Sophie Friederike Mereau: Das Blüthenalter der Empfindung, Gotha 1794, S. 3.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das Blüthenalter der Empfindung
Das Blüthenalter der Empfindung