Drittes Kapitel

[333] An einem Fenster von Malmort, durch welches der Talgrund mit seinen Türmen und Weilern als duftige Ferne hereinschimmerte, stand die Richterin mit Wulfrin und zeigte ihm die Größe ihres Besitzes. »Das beherrsche ich«, sagte sie, »und Palma nach mir. Dich aber, Wulfrin, habe ich schon ehevor dazu ausersehen – wie es auch deine brüderliche Pflicht ist – der Schwester, wenn ich stürbe, dieses weite Erbe zu sichern.«

»Planvoll, aber ferneliegend«, sagte er.

»Fern oder nahe. Du bist ihr natürlicher Beschützer. Ich kann mein Kind keinem Mächtigen dieses Landes vermählen, denn sie sind ein zuchtloses und sich selbst zerstörendes Geschlecht. Ich bände sie an den Schweif eines gepeitschten Rosses! Ringsherum keine Burg, an der nicht Mord klebte! Soll mir mein Kind in einem Hauszwist oder in einer Blutrache untergehen? Ja, fände ich für sie einen Guten und Starken wie du bist, dann wäre ich ruhig und könnte dich freigeben, du hättest weiter keine Pflicht an ihr zu erfüllen. Ich weiß ihr keinen Gatten als allein Gnadenreich, und der besitzt das Land, nach der Verheißung, als ein Sanftmütiger, kann es aber gegen die Gewalttätigen nicht behaupten, deren Zahl hier Legion ist. Erst seine Söhne werden kraft meines Blutes Männer sein. Bis diese kommen und wachsen, wirst du schon deine gepanzerte Hand[333] über Gnadenreich und Palma halten und die Herrschaft führen müssen. Denn ewig reitest du nicht mit dem Kaiser. Vielleicht auch, wer weiß, erhebt er dich zum Grafen über diesen Gau, oder dann erhältst du von mir eine Burg, jene« – sie wies auf einen Turm am Horizonte – »oder eine andere, nach deinem Gefallen. Oder du hausest hier auf meinem eigenen festen Malmort.« Sie legte ihm vertrauend die Hand auf die Schulter.

»Aber, Frau«, sagte er, »du lebst!« und sie erwiderte: »Solang ich lebe, herrsche ich.«

»Dann hat es keine Eile«, antwortete er. »Daß der Schwester nichts geschehen darf, versteht sich und gelobe ich dir. Doch jetzt muß ich reiten, heute! in einer Stunde!«

»Zum Kaiser? Du hast ihm bereits meinen ortserfahrenen Rudio geschickt mit der sichern Kundschaft, daß die Lombarden sich am Mons Maurus befestigen und dort noch ein blutiger Sturm wird gegen sie geführt werden müssen. Herr Karl sitzt in Mediolanum, wie wir wissen. So braucht es dir nicht zu eilen.«

»Ich lag schon zu lange hier, mich verlangt in den Bügel«, sagte der Höfling und die Richterin erwiderte nachgiebig: »Dann schenkst du mir noch diesen Tag. Ich sähe es gerne, wenn du Palma verlobtest. Warum Gnadenreich sich hier nicht blicken läßt? Er hält sich wohl in seinem Pratum eingeschlossen, der Lombarden halber, vorsichtig wie er ist, obschon, wie ich glaube, diese hier verstoben sind. Weißt du was? Geh und bring ihn. Oder wüßtest du deiner Schwester einen bessern Mann?«

»Nein, Frau, wenn sie ihn mag! Doch was habe ich dabei zu raten und zu tun? Das ist deine Sache und die des Pfaffen, der sie zusammengibt. Ich will den Rappen satteln gehen, den du mir geschenkt hast.«

Sie blickte ihn mit besorgten Augen an. »Was ist dir, Wulfrin? Du siehst bleich! Ist dir nicht wohl hier? Und mit Palma gehst du um wie mit einer Puppe, du stößest sie weg und dann hätschelst du sie wieder. Du verdirbst mir das Mädchen. Wo hast du solche Sitte gelernt?«

»Sie ist aufdringlich«, sagte er. »Ich liebe freie Ellbogen und kann es nicht leiden, daß man sich an mich hängt. Sie läuft mir nach, und wenn ich sie schicke, weint sie. Dann muß ich sie wieder trösten. Es ist unerträglich! Ich habe die Gewohnheit breiter Ebenen und großer Räume – auf diesem Felsstück ist alles zusammengeschoben. Das Gebirge drückt, der Hof beengt,[334] der Strom schüttert – an jeder Ecke, auf jeder Treppe dieselben Gesichter! Verwünschtes Malmort! Hier hältst du mich nicht. Hier lasse ich mich nicht einmauern. Mache dir keine Rechnung, Frau.«

»Du tust mir wehe«, sagte sie.

Die harte Rede reute ihn. »Frau, laß mich ziehen!« bat er. »Und daß du dich zufriedengebest, hole ich dir heute noch den Gnadenreich und wir verloben die Schwester. Wo haust er?«

»Ich danke dir, Wulfrin. Graciosus wohnt nicht ferne von hier, in Pratum.« Sie deutete nach einer zerrissenen Schlucht, über welcher eine grüne Alp hoch emporstieg. »Ich gebe dir einen Führer. Den Knaben hier.« Sie zeigte in den Hof hinunter, wo ein Hirtenbube sich damit beschäftigte eine Sense zu wetzen. Palma stand neben ihm und plauderte.

»Gabriel«, rief ihn die Richterin, »du führst deinen Herrn Wulfrin nach Pratum.«

»Den Höfling? Mit Freuden!« jauchzte der Bube.

»Er träumt davon«, erklärte die Richterin, »hinter dem Kaiser zu reiten. Besieh dir ihn.«

»Darf ich mit?« fragte Palma und hob das Haupt.

»Nein«, sagte die Richterin.

»Bruder!« bat sie und streckte die Hände.

»Schon wieder! Zum Teufel!« fluchte er. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »So komm, Närrchen!«

Da die dreie barhaupt und reisefertig in dem feuchten Tore standen, während ringsum die Sonne brannte, sagte die geleitende Richterin zu Wulfrin: »Ich anvertraue dir Palma: hüte sie!«

»Halleluja! Voran, Engel Gabriel!« jubelte das Mädchen.

Unten am Burgweg sagte der Hirtenbube: »Herr, es gibt zwei Wege nach Pratum. Der eine steigt durch die Schlucht, der andere über die Alp.« Er wies mit der Hand. »Wenn es dir und der jungen Herrin beliebt, so nehmen wir diesen. Oben schaut es sich weit und lustig und es könnte trübe werden gegen Abend. Es ist ein Gewitterchen in der Luft.«

»Ja, über die Alp, Wulfrin!« rief Palma. »Ich will dir dort meinen See zeigen«, und leichtgeschürzt schlug sie sich über eine lichte Matte, die bald zu steigen begann und immer steiler wurde.

Leicht wie auf Flügeln, mit frei atmender Brust ging das Mädchen bergan und blieb unter der sengenden Sonne frisch[335] und kühl wie eine springende Quelle. Der Berg hatte an dem Kinde seine Freude. Glänzende Falter umgaukelten ihr das Haupt und der Wind spielte mit ihrem Blondhaar.

Wulfrin schaute um nach Malmort, das grau schimmernd kaum aus der Morgenlandschaft hervortrat. »Wie geschah mir«, fragte er sich, »in jenem Gemäuer dort? Wie konnte mich dieses unschuldige Geschöpf beängstigen, dieses fröhliche Gespiel, diese behende Gems mit hellen Augen und flüchtigen Füßen?« Ihm wurde wohl und er mochte es gerne, daß der Knabe zu plaudern begann.

Gabriel erzählte von den Lombarden, welche er als Späher der Richterin beschlichen hatte. Sie seien überall und nirgends. Sie nisten in den Pässen, belauern die Boten und plündern die Säumer. Sie berauschen sich in dem geraubten heißen Weine von drüben, prahlen mit besiegten Waffen, fabeln von der Herstellung der eisernen Krone und leugnen oder lästern den Weltlauf. Sie beten den Teufel an, der das Regiment führe, »und doch«, endigte der Knabe, »sind sie gläubige Christen, denn sie stehlen aus unsern Kirchen alles heilige Gebein zusammen, soviel sie davon erwischen können. Es ist Zeit, daß der Herr Kaiser zum Rechten sehe und ihnen feste Bezirke und einen Richter gebe.«

Da nun Gabriel bei dem Kaiser angelangt war, dessen erneuerte Würde ihren Schimmer bis in dieses wilde Gebirge warf, begeisterten sich seine Augen und er rief: »Diesem und keinem andern will ich dienen! Ich heiße Gabriel und schlage gerne mit Fäusten, lieber hieße ich Michael und hiebe mit dem Schwerte! Recht muß dabei sein und der Kaiser hat immer Recht, denn er ist eins mit Gott Vater, Sohn und Geist. Er hat die Weltregierung übernommen und hütet, ein blitzendes Schwert in der Faust, den christlichen Frieden und das tausendjährige Reich.«

Nun mußte ihm Wulfrin den Kaiser beschreiben, die Spangen seiner Krone, den blauen langen Mantel, das tiefsinnige Antlitz, das kurzgeschorene Haupt, den hangenden Schnurrbart, »den wir Höflinge ihm nachahmen«, sagte er lachend.

»Wie blickt der Kaiser?« fragte Palma und Wulfrin antwortete ohne Besinnen: »Milde.«

Die Kinder lauschten andächtig und bestaunten den Mann, der mit dem Herrn der Welt Umgang pflog; sobald aber die Höhe erreicht war, wo sich der Rasen breitete, war es mit der Andacht vorbei. Gabriel jauchzte gegen eine ernsthafte Felswand, die den Knabenjubel gütig spielend erwiderte, und Palma lief,[336] den Höfling an der Hand, einem gründunkelklaren Gewässer entgegen, das die Wand mit ihrem Riesenschatten noch immer vor der schon hohen Sonne verbarg. Sie umwandelten das mit Felsblöcken besäte Ufer bis zu einem bemoosten Vorsprung, der weiche Sitze bot. Hier zog sie ihn nieder, und wie sie so lagerten, sagte sie: »Nun ist das Märchen erfüllt von dem Bruder und der Schwester, die zusammen über Berg und Tal wandern. Alles ist schön in Erfüllung gegangen.«

»Haust hier unten auch eine?« neckte Wulfrin den Buben Gabriel blieb die Antwort schuldig, denn er mochte sich vor dem Höfling nicht bloßstellen.

»Dumme Geschichten«, lachte dieser, »es gibt keine Elben.«

»Nein«, sagte Gabriel bedenklich und kratzte sich das Ohr, »es gibt keine, nur darf man sie nicht mit wüsten Worten rufen oder gar ihnen Steine ins Wasser schmeißen. Aber, Herr, wo hast du dein Hifthorn? Du trugest es an der Seite, da du nach Malmort kamst.«

»Es ist in den Strom gestürzt«, fertigte ihn der Höfling ab.

»Das ist nicht gut«, meinte der Knabe.

»Heho, Gabriel!« rief es aus der Ferne und ein anderer Hirtenbube wurde sichtbar. »Ein Fohlen hat sich nach Alp Grun verlaufen, kohlschwarz mit einem weißen Blatt auf der Stirn. Ich wette, es gehört nach Malmort.«

Gabriel sprang mit einem Satz in die Höhe. »Heilige Mutter Gottes«, rief er, »das ist unsere Magra, der muß ich nach! Lieber Herr, entlasse mich. Du wirst dich schon zurechtfinden. Ein Mensch ist vernünftiger als ein Vieh. Dort«, er deutete rechts, »siehst du dort den roten Grat? Den suche, dahinter ist Pratum. Auch weiß die kleine Herrin Bescheid.« Und weg war er, ohne sich um Antwort zu kümmern.

»Palma«, lachte Wulfrin, »wenn da unten eine Elbin leuchtete?«

»Mich würde es nicht wundern«, sagte sie. »Oft, wenn ich hier liege, erhebe ich mich, steige sachte ans Ufer nieder und versuche das Wasser mit der Zehe. Und dann ist mir, als löse ich mich von mir selbst und ich schwimme und plätschere in der Flut. Aber siehe!«

Sie deutete auf ein majestätisches Schneegebirge, das ihnen gegenüber sich entwölkte. Seine verklärten Linien hoben sich auf dem lautern Himmel rein und zierlich, doch ohne Schärfe, als wollten sie ihn nicht ritzen und verwunden, und waren[337] beides, Ernst und Reiz, Kraft und Lieblichkeit, als hätten sie sich gebildet, ehe die Schöpfung in Mann und Weib, in Jugend und Alter auseinanderging.

»Jetzt prangt und jubelt der Schneeberg«, sagte Palma, »aber nachts, wenn es mondhell ist, zieht er bläulich Gewand an und redet heimlich und sehnlich. Da ich mich jüngst hier verspätete, machte sich der süße Schein mit mir zu schaffen, lockte mir Tränen und zog mir das Herz aus dem Leibe. Aber siehe!« wiederholte sie.

Eine Wolke schwebte über den weißen Gipfeln, ohne sie zu berühren, ein himmlisches Fest mit langsam sich wandelnden Gestalten. Hier hob sich ein Arm mit einem Becher, dort neigten Freunde oder Liebende sich einander zu und leise klang eine luftige Harfe. Palma legte den Finger an den Mund. »Still«, flüsterte sie, »das sind Selige!« Schweigend betrachtete das Paar die hohe Fahrt, aber die von irdischen Blicken belauschte himmlische Freude löste sich auf und zerfloß. »Bleibet! oder gehet nur!« rief Palma mit jubelnder Gebärde, »wir sind Selige wie ihr! Nicht wahr, Bruder?« und sie blickte mit trunkenen Augen bis in den Grund der seinigen.

Es kam die schwüle Mittagsstunde mit ihrem bestrickenden Zauber. Palma umfing den Bruder in Liebe und Unschuld. Sie schmeichelte seinem Gelocke wie die Luft und küßte ihn traumhaft wie der See zu ihren Füßen das Gestade. Wulfrin aber ging unter in der Natur und wurde eins mit dem Leben der Erde. Seine Brust schwoll. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Feuer loderte vor seinen Augen ...

Da rief eine kindliche Stimme: »Sieh doch, Wulfrin, wie sie sich in der Tiefe umarmen!«

Sein Blick glitt hinunter in die schattendunkle Flut, die Felsen und Ufer und das Geschwisterpaar verdoppelte. »Wer sind die zweie?« rief er.

»Wir, Bruder«, sagte Palma schüchtern und Wulfrin erschrak, daß er die Schwester in den Armen hielt. Von einem Schauder geschüttelt sprang er empor, und ohne sich nach Palma umzusehen, die ihm auf dem Fuße folgte, eilte er in die Sonne und dem nahen Grate zu, wo jetzt eine Figur mit einem breiten Hut und einem langen Stabe Wache zu halten schien.

»Grüß Gott! grüß Gott!« bewillkommte Gnadenreich die Geschwister, ohne einen Schritt vom Platze zu tun. Er streckte ihnen nur die Hände entgegen. »Ich habe es dem Ohm feierlich[338] geloben müssen«, erklärte er, »solange die Lombardengefahr dauert, die Grenze meiner Weiden hütend zu umwandeln, aber nicht zu überschreiten, denn Pratum ist ein Lehen des Bistums und die Kirche hält Frieden. Sei willkommen, Wulfrin, und Palma nicht minder!« Seine Blicke liefen rasch zwischen dem Höfling und dem Mädchen: beide schienen ihm befangen. Er wurde es auch, denn er glaubte die Ursache ihres Weges zu wissen, und da sie schwiegen, begann er ein großes Geplauder.

»Sie haben dem guten Ohm böse mitgespielt«, erzählte er. »Wir saßen zu dreien in der Stube beim Nachtische, denn die Richterin war nach Chur gekommen, um den Bischof gegen die Lombarden in die Waffen zu treiben, was er ihr als ein Kind des Friedens verweigern mußte. Frau Stemma und der Ohm stritten sich bei den Nüssen, wie sie zuweilen tun, über die Gute der Menschennatur. Nun hatten sich kürzlich zwei arge Geschichten ereignet. Jucunda, die junge Frau des Montafuners, welche Bischof Felix gefirmelt hatte –«

»Mit mir. Sie war sein Liebling«, rief Palma, die wieder dicht neben dem Höfling schritt.

»Still!« sagte dieser ungebärdig und das Mädchen lief nach einer Blume.

»– wurde von ihrem Manne mit einem Edelknecht ertappt und durch das Burgfenster geworfen. Wenige Tage später schlug der Schamser mitten im Stiftshofe dem Bergüner nach kurzem Wortwechsel den Schädel ein und doch hatten sie eben auf die priesterliche Zusprache des Ohms sich geküßt und miteinander den Leib des Herrn empfangen. Solches hielt ihm Frau Stemma vor, doch der Ohm erwiderte: ›Das sind Wallungen und augenblickliche Verfinsterungen der Vernunft, aber die Natur ist gut und wird durch die Gnade noch besser.‹ Der Ohm ist ein bißchen Pelagianer, hi, hi!«

»Pelagianer?« fragte der Höfling zerstreut, denn sein Blick rief Palma, die ihm gleich wieder zusprang. »Ist das nicht eine Gattung griechischer Krieger?«

»Nicht doch, Wulfrin, es ist eine Gattung Ketzer. Also: Frau Stemma und der Ohm stritten über das Böse. Da sieht der Bischof, der kurzsichtig ist, auf Felicitas – diesen Namen hat er der nahen Höhe gegeben, wo ihm ein Sommerhaus steht – eine Flamme. ›Wir feiern den Abzug der Lombarden‹, lächelte er. Frau Stemma blickt hin und bemerkt in ihrer ruhigen Weise:[339]

›Ich meine, sie sind es selber‹, und richtig tanzten sie auf dem Hügel wie Dämonen um den Brand.

Da lärmt es auf dem Platz. Ein Bösewicht fällt mit der Türe ins Haus und redet: ›Bischof, tue nach dem Evangelium und gib mir den Rock, nachdem du seine Taschen mit Byzantinern gefüllt hast, denn deine Mäntel haben wir in der Sakristei drüben schon gestohlen!‹ Der Ohm erstarrt. Jetzt tritt der Lombarde auf Stemma zu, welche im Halbdunkel saß. ›Die Frau da‹, höhnt er, ›hat einen Heiligenschein um das Haupt, her mit dem Stirnband!‹ Da erhebt sich Frau Stemma und durchbohrt den Menschen mit ihren fürchterlichen Augen: ›Unterstehe dich! Ja so‹, sagt er, ›die Richterin!‹ und biegt das Knie. Da der arme Ohm endlich aufatmete, nach erbrochenen Kisten und Kasten, rief ihn der Höllenkerl wieder vom Domplatze her ans Fenster. Er ritt mit nackten Fersen den schönsten Stiftsgaul, dem er eine purpurne Altardecke übergelegt – sich selbst hatte er ein Meßgewand umgehangen – und zog dem Kirchenschimmel mit dem entwendeten Krummstab von Chur einen solchen über den blanken Hinterbacken, daß er bolzgerade stieg und der Stab in Trümmer flog. ›Bischof, segne mich!‹ schrie der Lombarde. Der Ohm in seiner Frömmigkeit besiegte sich. ›Ziehe hin in Frieden, mein Sohn!‹ sprach er und hob die Hände.

›Dich, Bischof‹, jauchzte der Lombarde, ›hole der Teufel!‹

›Und dich hole er gleichfalls!‹ gab der Ohm zurück. Ich hätte es eigentlich nicht erzählen sollen«, endete Gnadenreich halb reuig, »es hat den Ohm schrecklich erbost.«

Palma hatte gelacht, auch der Höfling verzog den Mund und Gnadenreich wurde immer gesprächiger und zutulicher.

»Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen, Wulfrin«, sagte er. »Ich verließ Rom bald nach dir, aber was habe ich nicht dort noch erlebt! Welche Bekanntschaften habe ich gemacht! Ich ging dein Büchlein im Palaste holen und traf ihn selbst, der es geschrieben. Welch ein Kopf! Fast zu schwer für den kleinen Körper! Was da alles drinnesteckt! Kaum ein Viertelstündchen kostete ich den berühmten Mann, aber in dieser winzigen Spanne Zeit hat er mich für mein Lebtag in allem Guten befestigt. Dann pochte es ganz bescheiden und leise und wer tritt ein? – ich bitte dich, Wulfrin! – der Kaiser. Ich verging vor Ehrfurcht. Er aber war gnädig und ergötzte sich, denke dir! an deiner Geschichte, Wulfrin, die er sich von mir erzählen ließ –«[340]

Jetzt verstand Graciosus sein eigenes Wort nicht mehr, denn sie gerieten zwischen die Herden und das grüne Pratum wurde voller Geblöke und Gebrülle. Einer der magern und wolfähnlichen Berghunde beschnoberte den Höfling, sprang dann aber liebkosend an ihm auf und beleckte ihn, wenn Graciosus dem Tiere seine Ungezogenheit nicht verwiesen hätte. Palma aber wurde von den Hirtenmädchen umringt und mit Verwunderung angestarrt. Die junge Herrin von Malmort war leutselig und frug alle nach ihren Namen und Herden.

»Ich bin gewiß kein Plauderer«, sagte Graciosus, nachdem er Raum geschafft hatte, »aber du begreifst, wenn der Kaiser befiehlt – haarklein mußte ich berichten von Horn und Becher und zumal die erstaunliche Frau Stemma machte dem hohen Herrn zu schaffen.«

Der Höfling blickte verdrießlich.

»Welch ein Mann!« lobpries Gnadenreich. »Der Inhalt und die Höhe des Jahrhunderts! Wer bewundert ihn genug? Und doch, aber doch – Wulfrin, ich habe von den Höflingen, deren Umgang ich nicht ganz meiden konnte, etwas vernommen, das mich tief betrübt, etwas von einer gewissen Regine ... weißt du es?«

»Das ist seine Kebsin«, fuhr Wulfrin ehrlich heraus.

»Schlimm, sehr schlimm! Ein Flecken in der Sonne! Kein vollkommenes Beispiel! Und die Karlstöchter?«

»Alle Wetter und Stürme«, brauste Wulfrin auf, »wer hat mich zum Hüter der Karlstöchter bestellt?«

»Die Karlstöchter!« rief mitten aus den Herden Palma, die in der Entfernung die schallende Rede Wulfrins verstanden hatte. »Sie heißen: Hiltrud, Rotrud, Rothaid, Gisella, Bertha, Adaltrud und Himiltrud. Gnadenreich hat eine Tabelle davon verfertigt.« Die rätischen Mädchen wiederholten die ihnen fremdklingenden Namen und zogen unter jubelndem Gelächter die junge Herrin mit sich fort.

Gnadenreich verlangsamte den Schritt. Traulich suchte er die Hand des Höflings. »Die Ehe ist heilig«, sagte er, »und das sollte der Kaiser nicht vergessen, da er so hoch steht. Du hast erraten, Wulfrin, daß ich außer ihr geboren bin. Deshalb habe ich eine große Meinung von ihr und eine wahre Leidenschaft, in der meinigen ein Muster von Tugend zu sein. Ein gutes Mädchen führe nicht schlecht mit mir. Du kennst meine Neigung, an der ich festhalte, wenn mir auch Palma zuweilen[341] Sorge macht. Jetzt sind wir allein – sie scheint heute lenksam – das könnte die Stunde sein – wenn es dein Wille wäre –«

»Sei nur getrost, Gnadenreich«, ermutigte Wulfrin, »die Sache ist abgemacht.«

Hätte einer der Gewalttätigen, welche auf den rätischen Felsen nisteten, begehrlich nach Palma gegriffen, Wulfrin möchte ihm ins Angesicht getrotzt und das Schwert aus der Scheide gerissen haben, aber Graciosus war zu harmlos, als daß er ihm hätte zürnen können. Und er selbst fühlte sich mit einem Male von einem dunkeln Schrecken getrieben, die Schwester zu vermählen.

»Abgemacht?« fragte Graciosus, »du willst sagen: zwischen dir und der Richterin? Doch wie meinst du – ist Palma nicht am Ende zu wild und groß für mich?«

»Sei nicht blöde und fackle nicht länger! Willst du sie?«

Die Schreitenden hatten eine Hügelwelle überstiegen und erblickten jetzt diejenige wieder, von der sie redeten. Sie hatte sich von den Hirtinnen getrennt und stand vor einem der tiefen und schnellströmenden Bäche, welche die Hochmatten durchschneiden. Neben ihr irrte ein blökendes Lämmchen, das die Herde verloren hatte, und am Uferrand sitzend löste sich eine kropfige Bettlerin blutige Lumpen von ihrem wunden Fuße und wusch ihn mit dem frischen Wasser. Rasch entledigte sich das Mädchen der Schuhe, stellte dieselben mit einem mitleidigen Blick neben die Kretine, hob das Lamm in die Arme, watete mit ihm durch die Strömung und ließ es seiner Herde nachlaufen.

Da kam über Gnadenreich eine Erleuchtung. »Ich wage es! Ich nehme sie!« rief er aus. »Sie ist gut und barmherzig mit jeglicher Kreatur!«

»So gehe voraus und richte das Brautmahl! Ich werde für dich werben. Das ist doch dein Kastell?« In einiger Entfernung stieg aus einem Bezirke von Hürden und Ställen ein neugebauter Rundturm, über welchem gerade der Föhn einen ungeheuerlichen Wolkendrachen emportrieb. Gnadenreich bog seitwärts die Brücke suchend, während der Höfling den reißenden Bach in einem Satze übersprang.

Wulfrin erreichte die Schwester. »Du läufst barfuß, Bräutchen?«

»Ich bin kein Bräutchen, und was nützen mir die Schuhe, wenn ich nicht mit dir durch die Welt laufen darf?«[342]

»Du bist nicht die Törin, das im Ernste zu reden, und die Frau auf Pratum darf nicht unbeschuht gehen.«

»Gnadenreich hat nicht den Mund gegen mich geöffnet.«

»Er wirbt durch den meinigen Nimm ihn rat ich dir, wenn du keinen andern liebst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nur dich, Wulfrin.«

»Das zählt nicht.«

Sie hob die klaren Augen zu ihm auf. »Geschieht dir damit ein so großer Gefallen?«

Er nickte.

»So tue ich es dir zuliebe.«

»Du bist ein gutes Kind.« Er streichelte ihr die Wange. »Ich werde euch schützen, daß euch nichts Feindliches widerfahre, und bei eurem ersten Buben Gevatter stehen.«

Sie errötete nicht, sondern die Augen füllten sich mit Tränen. »Nun denn«, sagte sie, »aber wir wollen langsam gehen, daß es eine Stunde dauert, bis wir Pratum erreichen.« Der Turm stand vor ihnen. Dem Höfling aber wurde es offenbar, jetzt da er die Schwester weggab, daß sie ihm das Liebste auf der Erde sei.

»Hier thronen wir wie die Engel«, sagte Graciosus, nachdem er seine Gäste die Wendeltreppe empor durch die Gelasse seines Turmes und auf die Zinne geführt hatte, wo das Mahl bereitet war. Der Tisch trug neben den Broten eine Schüssel Milch mit dem geschnitzten Löffel und einen Krug voll schwarzdunkeln Weines, ein bischöfliches Geschirr, denn es war mit der Mitra und den zwei Krummstäben bezeichnet. Die dreie saßen auf einer Bank, das Mädchen in der Mitte. Die ringsum laufende Brüstung reichte so hoch, daß sich kaum darüber wegblicken ließ. Nur der Himmel war sichtbar, und an diesem häuften sich unheimliche schwefelgelbe Wolken.

»Die Milch für mich, für dich der Wein, Wulfrin«, sagte Graciosus. »Der verreiste noch glücklich aus dem bischöflichen Keller, ehe ihn die Lombarden leerten. Aber mit wem hält es Fräulein Palma?« »Mit dir«, meinte der Höfling.

Graciosus sprach das Tischgebet. »Nun gleich auch den andern Spruch, frisch heraus, Gnadenreich!« ermunterte Wulfrin.

Da geschah es, daß der Bischofsneffe, so redegewandt er war, sich auf nichts besinnen konnte von alle dem Zärtlichen und Verständigen, was er sich für diesen entscheidenden Augenblick langeher ausgesonnen hatte. Ratlos blickte er in die warmen[343] braunen Augen. Jetzt gedachte er des Lämmchens und der bloßen Füße und kam in eine fromme Stimmung. »Palma novella«, bekannte er, »ich liebe dich von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.«

Das war hübsch. Das Mädchen wurde gerührt und reichte ihm die Hand. Auch Wulfrin mißfiel diese Werbung nicht. »Nun aber wollen wir ein bißchen lustig sein!« rief er aus. »Das bringe ich euch!« Er hob den Krug und trank. Graciosus schöpfte einen Löffel Milch und bot ihn dem Munde seiner Braut. Es war nicht der einzige auf Pratum, aber Gnadenreich wollte eine sinnbildliche Handlung begehen.

Sie öffnete schon die roten Lippen, da sagte sie: »Heute widersteht mir die Milch. Gib du mir zu trinken, Wulfrin.« Er reichte ihr den Krug und sie schlürfte so hastig, daß er ihr denselben wieder aus den Händen nahm. Darauf schien sie ermüdet, denn sie ließ den Kopf auf die Schulter und allmählich in die Arme sinken und nickte ein. Die Föhnluft wurde zum Ersticken heiß. Wulfrin und Graciosus verstummten ebenfalls und dieser half sich, indem er seine Milch auslöffelte und nach ländlicher Sitte zuletzt die Schüssel mit beiden Händen an den Mund hob. Wulfrin betrachtete den jungen Nacken. Er enthielt sich nicht und berührte ihn mit den Lippen. Sie erwachte.

»Aber wir sitzen auf dem Turm wie die drei Verzauberten«, sagte sie. »Geh, Gnadenreich, hole uns das Buch, wo der Bruder abgebildet ist, das aus dem Stifte – weißt du – welches du bei deinem letzten Besuche der Mutter, der ich über die Schulter blickte, gezeigt hast.« Gnadenreich willfahrte ihr, aber sichtlich ungerne.

Palma suchte und fand das Blatt. Über dem lateinischen Texte war mit saubern Strichen und hellen Farben abgebildet, wie ein Behelmter den Arm abwehrend gegen ein Mädchen ausstreckt, das ihn zu verfolgen schien. Mit dem Krieger deuchte er sich nichts gemein zu haben als den Helm, doch je länger er das gemalte Mädchen beschaute, desto mehr begann es mit seinen braunen Augen und goldenen Haaren Palma zu gleichen. Um die Figur aber stand geschrieben: »Byblis.«

»Erzähle und deute, Gnadenreich«, bat Palma. Graciosus blieb stumm. »Nun, so will ich erklären. Das hier ist der Bruder auf Malmort, wie er anfangs war und mich wegstößt.«

»Das ist nichts für dich, Palma!« wehrte Graciosus ängstlich, »laß!« und er entzog das Buch ihren Händen.[344]

»Ihr seid beide langweilig!« schmollte sie. »Ich gehe lieber. Drüben am Hange sah ich blühende Rosen in dichten Büschen stehen. Ich will mir einen Kranz winden«, und sie entsprang.

Ein blendender Blitz fuhr über Pratum weg und dem Höfling wie Feuer durch die Adern. »Warum hast du ihr das Buch weggenommen?« fragte er gereizt.

»Weil es für Mädchen nicht taugt«, rechtfertigte sich Gnadenreich.

»Warum nicht?«

»Die Schwester im Buche liebt den Bruder.«

»Natürlich liebt sie ihn. Was ist da zu suchen?«

Graciosus antwortete mit einer Miene des Abscheus: »Sie liebt ihn sündig! sie begehrt ihn.«

Wulfrin entfärbte sich und wurde totenbleich. »Schweig, Schurke!« schrie er mit entstellten Zügen, »oder ich schleudere dich über die Mauer!«

»Um Gottes willen«, stammelte Graciosus, »was ist dir? Bist du verhext? Wirst du wahnsinnig?« Er war von Wulfrin und dem Buche weggesprungen, in welches dieser mit entsetzten Blicken hineinstarrte. »Ich beschwöre dich, Wulfrin, nimm Vernunft an und laß dir sagen: das hat ein heidnischer Poet er sonnen, leichtfertig und lügnerisch hat er erfunden, was nicht sein darf, was nicht sein kann, was unter Christen und Heiden ein Greuel wäre!«

»Und du liesest so gemeine Bücher und ergötzest dich an dem Bösen, Schuft?«

»Ich lese mit christlichen Augen«, verteidigte sich Gnadenreich beleidigt, »zu meiner Warnung und Bewahrung, daß ich den Versucher kenne und nicht unversehens in die Sünde gleite!«

Die Hände des Höflings zitterten und krampften sich über dem Blatte.

»Bei allen Heiligen, Wulfrin, zerstöre das Buch nicht! Es ist das teuerste des Stiftes!«

»Ins Feuer mit ihm!« schrie der Höfling, und weil kein Herd da war als der lodernde des offenen Himmels, riß er das Blatt in Fetzen und warf sie hoch auf in den wirbelnden Sturm.

Es trat eine Stille ein. Graciosus betrachtete stöhnend das verstümmelte Buch, während Wulfrin mit verschlungenen Armen und unheimlichen Augen brütete. So beschlich ihn die zurückkommende Palma und setzte ihm den leichten von ihr gewundenen Kranz auf das belastete Haupt.[345]

Er fuhr zusammen, da er das Geflechte spürte, zerrte es sich ab, riß es entzwei und warf es mit einem Fluche dem vom Laufe erhitzten Mädchen zu Füßen.

Da flammten ihr die Augen und sie streckte sich in die Höhe: »Du Abscheulicher! Tust du mir so?« Zornige Tränen drangen ihr hervor. »Nun nehme ich auch den Gnadenreich nicht, dir zuleide!«

»Palma«, befahl er, »gleich kehrst du nach Hause! Über die Alp! Wende dich nicht um! Ich gehe durch die Schlucht! Läufst du mir über den Weg, so werfe ich dich in den Strom!«

Sie sah ihn jammervoll an. Seine Todesblässe, das gesträubte Haar, das unglückliche Antlitz erfüllten sie mit Angst und Mitleid. Sie machte eine Bewegung gegen ihn, als wollte sie ihm mit beiden Händen die pochenden Schläfen halten. »Hinweg!« rief er und riß das Schwert aus der Scheide.

Da wandte sie sich. Er blickte über die Brüstung und sah, wie sie in wildem Laufe durch die Alp eilte. Auch er verließ das Kastell und schlug, von dem nahen Tosen des Stromes geführt, den Weg gegen die Schlucht ein, die furchtbarste in Rätien. Gnadenreich gab ihm kein Geleit.

Da er in den Schlund hinabstieg, wo der Strom wütete, und er im Gestrüppe den Pfad suchte, störte sein Fuß oder der ihm vorleuchtende Wetterstrahl häßliches Nachtgevögel auf und eine pfeifende Fledermaus verwirrte sich in seinem Haare. Er betrat eine Hölle. Über der rasenden Flut drehten und krümmten sich ungeheure Gestalten, die der flammende Himmel auseinanderriß und die sich in der Finsternis wieder umarmten. Da war nichts mehr von den lichten Gesetzen und den schönen Maßen der Erde. Das war eine Welt der Willkür, des Trotzes, der Auflehnung. Gestreckte Arme schleuderten Felsstücke gegen den Himmel. Hier wuchs ein drohendes Haupt aus der Wand, dort hing ein gewaltiger Leib über dem Abgrund. Mitten im weißen Gischt lag ein Riese, ließ sich den ganzen Sturz und Stoß auf die Brust prallen und brüllte vor Wonne. Wulfrin aber schritt ohne Furcht, denn er fühlte sich wohl unter diesen Gesetzlosen. Auch ihn ergriff die Lust der Empörung, er glitt auf eine wilde Platte, ließ die Füße überhangen in die Tiefe, die nach ihm rief und spritzte, und sang und jauchzte mit dem Abgrund.

Da traf der starre Blick seines zurückgeworfenen Hauptes auf ein Weib in einer Kutte, das am Wege saß. »Nonne, was hast du gefrevelt?« fragte er. Sie erwiderte: »Ich bin die Faustine[346] und habe den Mann vergiftet. Und du, Herr, was ist deine Tat?«

Lachend antwortete er: »Ich begehre die Schwester!«

Da entsetzte sich die Mörderin, schlug ein Kreuz über das andere und lief so geschwind sie konnte. Auch er erstaunte und erschrak vor dem lauten Worte seines Geheimnisses. Es jagte ihn auf und er floh vor sich selbst. Schweres Rollen erschütterte den Grund, als öffne er sich, ihn zu verschlingen. Von senkrechter Wand herab schlug ein mächtiger Block vor ihm nieder und sprang mit einem zweiten Satz in die aufspritzende Flut.

Der Himmel schwieg eine Weile und Wulfrin tappte in dunkler Nacht. Da erhellte sich wiederum die Schlucht und auf einer über den Abgrund gestürzten Tanne sah er die Schwester mit nackten und sichern Füßen gegen sich wandeln und jetzt lag sie vor ihm und berührte seine Kniee.

»Was habe ich dir getan«, weinte sie, »warum fliehst, warum verwünschest du mich? Bruder, Bruder, was habe ich an dir gesündigt? Ich kann es nicht finden! Siehe, ich muß dir folgen, es ist stärker als ich! Ich lief drüben, da sah ich den Steg. Töte mich lieber! Ich kann nicht leben, wenn du mich hassest! Tue, wie du gedroht hast!«

Er stieß einen Schrei aus, ergriff, schleuderte sie, sah sie im Gewitterlicht gegen den Felsen fahren, taumeln, tasten und ihre Kniee unter ihr weichen. Er neigte sich über die Zusammengesunkene. Sie regte sich nicht und an der Stirn klebte Blut. Da hob er sie auf mächtigen Armen an seine Brust und schritt ohne zu wissen wohin, das Liebe umfangend, dem Tale zu.

Er hatte die Klus hinter sich, da sauste es an ihm vorüber und er erblickte einen Knaben, der ein scheues Roß zu bändigen suchte. »He, Gabriel«, rief er ihm nach, »sage der Richterin, sie rüste den Saal und richte das Mahl! Tausend Fackeln entzündet! Malmort strahle! Ich halte Hochzeit mit der Schwester!« Der Sturm verschlang die rasenden Worte. Malmort mit seinen Türmen stand schwarz auf dem noch wetterleuchtenden Nachthimmel.

Mit seiner Last den Burgpfad emporsteigend, sah er oben Lichter hin und her rennen. Dann begegnete er der geängstigten Mutter, die ihm halben Weges entgegengeeilt war. »Wulfrin«, flehte sie mit ausgestreckten Armen, »wo hast du Palma?« »Da nimm sie«, sagte er und bot ihr die Leblose.[347]

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 333-348.
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