Sechstes Kapitel

[502] Kurze Zeit nachdem Schwester Perpetua den ihrer Klugheit als sehr wichtig empfohlenen Brief des abwesenden Beichtigers glücklich bestellt hatte, trippelte sie, ein Arzneikörbchen am Arme und eine kleine Hornlaterne in der Hand, über die Rheinbrücke bei dem Dorfe Sils. Jenseits derselben besaß das Kloster einen Hof, dessen Pächter krank daniederlag. Die Heilkundige war heute für den vom Fieber geschwächten Mann durch eines seiner Kinder, das die Klosterschule besuchte, um Rat und Hilfe angerufen worden. Sie scheute den nächtlichen Gang nicht – so wenig, daß sie, nachdem der Sieche sich ihrer Tröstungen erfreut, statt das Angesicht wieder der Brücke und ihrem Kloster zuzuwenden, auf dunkeln, aber ihr wohlbekannten Straßen in der Richtung weitereilte, aus welcher ihr die Lichter des Schlosses Riedberg entgegenschimmerten.

Schon klopfte sie ans Tor, das der alte Lucas ihr brummend aufschloß, und bald darauf saß sie neben der edeln Herrin in einem altertümlich schmucklosen, aber lieblich erleuchteten Gemache vor einem herbstlichen Kaminfeuer und trocknete die vom Nachttaue durchnäßten Ränder ihres Klostergewandes, die schweigsame Lucretia mit erbaulichen Gesprächen ergötzend.

Das Schreiben des Paters, von dessen Überredungsgeist die Nonne eine hohe Meinung hatte, die flüchtige Erscheinung des Obersten vor der Klosterpforte, das glänzende Geldstück, das er der kleinen barfüßigen Botin gereicht, arbeiteten in ihrer frommen Einbildungskraft. Dies alles hatte sie, der Himmel weiß durch welche Gedankenverknüpfungen, bewogen, dem Fräulein unverzüglich einen nächtlichen Besuch abzustatten und diese Ereignisse haarklein zu erzählen. Der Oberst war, meinte sie, wie ein von Gewissensbissen gefolterter Kain um die Mauern der heiligen Zufluchtsstätte geirrt. Sie würde lobpreisen und anbeten, aber nicht erstaunen, wenn Gott hier ein großes Wunder vorbereitete, um diesen wütenden Feind des christkatholischen Glaubens, den Ketzern zum beschämenden Zeichen, in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückzuführen.

Da Lucretia nach ihrer stillen Weise nur mit einem traurigen Lächeln darauf antwortete, fuhr die fromme Schwester mit steigendem Eifer fort: »Bleibet, liebe Tochter, nicht kalt und ungläubig vor der glückseligen Aussicht auf die mögliche Bekehrung eines so gewaltigen Sünders! Betet lieber, daß dies Unerhörte[502] geschehe! Denn Euer Gebet, Fräulein Lucretia, die Ihr den blutigen Mann nach dem natürlichen Menschen hassen und verabscheuen müßt, wäre allerdings bei den Heiligen besonders wirksam und ihnen als ein schmerzliches Opfer vorzüglich angenehm. Noch kräftiger wäre es freilich, wenn Ihr dieses Gebet als verlobte Braut Gottes mit einem durch das dreifache Gelübde von allen weltlichen Erinnerungen gelösten Herzen darbringen könntet.«

Schwester Perpetua sagte dies mit einem tiefen Seufzer und machte sich in Erwartung einer Antwort, die ausblieb, mit dem Feuer zu schaffen. Ach, ihr war nicht entgangen, daß der klösterliche Beruf Lucretias, an den sie unentwegt glaubte, dieser noch immer nicht klargeworden, ja seit die Verwaiste in ihr väterliches Haus eingezogen, ihr wieder mehr in die Ferne gerückt war. Sie stand allein unter dem in diesen kriegerischen Zeitläuften verwilderten Schloßgesinde und den verarmten, über die französische Bedrückung tägliche Klagen vor ihr Ohr bringenden Dorfleuten. Und diese Einsamkeit tat ihr offenbar nicht wohl. Da war Lucas, der rachsüchtige Graubart, der das schwarze Kreuz an der Mordmauer nicht erblassen ließ, und der das immer scharf gehaltene Todesbeil wie eine Reliquie in einer wurmstichigen Eichentruhe sorgfältig verwahrt hielt. Das Fräulein mußte, fürchtete die Schwester, immer tiefer in sich selbst und die ihr Gemüt von allen Seiten umrankenden, jeden neuen Lebenskeim erstickenden Erinnerungen versinken. Sie konnte den Riß nicht überwinden, der Altes und Neues für sie trennte. Sie lebte wenig in der Wirklichkeit, sondern verkehrte im Geiste mit ihrem toten Vater, von dessen Gemütsart sie viel geerbt hatte, und dem sie mit jedem Jahre in auffallender Weise auch in ihrem Aussehen ähnlicher wurde. Es war dieselbe Pracht der Gestalt, dieselbe stolze Haltung. Ihr Ohm, der Freiherr Rudolf, war in der Verbannung gestorben und sie hatte außer seinem niedrig gesinnten und eigennützigen Sohne keine nähern Sippen. Eine Verwandte ihrer Mutter lebte noch in Chur, und sie pflegte sie zu besuchen; aber diese Gräfin Travers war durch schwere Schicksale und ein überlanges Leben versteinert und wenn auch gut katholisch, kaum mehr als ein stumpfes Echo längst verschollener Tage. Daß Lucretia mit den Juvalta auf Fürstenau und dem auf den andern Nachbarschlössern sitzenden Adel keinen Umgang pflog, das freilich konnte ihr Perpetua unmöglich verdenken, denn jene alle waren Protestanten und gehörten zu der[503] französischen Partei. So war Lucretia völlig allein, warum denn verließ sie ihren düstern einsamen Pfad nicht? Warum trat sie nicht in die Gemeinschaft der demütigen Töchter des heiligen Dominikus?

Während die Schwester dergestalt diesen ihren Lieblingsgedankengang durcheilte, drehte Lucretia schweigend ihre Spindel und verfolgte einen andern.

Sie fragte ihr Herz, wie es denn möglich sei, daß Jürg in seiner wildesten blutigsten Zeit ihrem Gefühle und Verständnisse weniger fremd gewesen, als jetzt, da er in den Räten des Landes und im Heergefolge des französischen Herzogs unter die Geachteten und Angesehenen zählte.

Zweimal seit ihrer Heimkehr hatte sie Georg, wenn sie zu Besuch bei ihrer Muhme in Chur war, von ferne erblickt. Eines Abends stand sie neben dem Lehnstuhle der alten Dame und schaute durch das eiserne Laubwerk am Gitterkorbe des Fensters, während der Sonnenschein gradweise das Pflaster des Platzes verließ und nur noch auf dem sprudelnden Wasser des Marktbrunnens blitzte. Der Oberst schritt längs der gegenüberstehenden Häuserreihe auf und nieder an der Seite einer gravitätischen Magistratsperson, die jedes Wort, das von seinen Lippen fiel, mit begieriger Aufmerksamkeit anhörte und seine Aussprüche mit beistimmendem Kopfnicken begleitete. Es schien sich um einen schweren Rechtsfall zu handeln.

Ein andermal umgab den Obersten ein Kreis französischer Edelleute, mit denen er nach der Mittagstafel in schneller, lustiger Scherzrede sich erging. – Immer aber klang es so hell von seinem Munde und leuchtete es so geistvoll von seiner Stirn, daß er als einer jener seltenen Günstlinge des Glückes erschien, die sich alle Wege des Erfolges zu öffnen und zu ebnen wissen und die das Vergangene und Unabänderliche wie eine lästige Fessel abwerfen.

Ich weiß es jetzt – gestand sie sich – dieser Freund von jedermann ist nicht der Jürg mehr, den ich liebte – nicht der scheu verwegene Knabe mit den dunkeln verschwiegenen Augen, der mein Beschützer war – nicht der zornig Dahinbrausende, der mein Glück wie ein die Ufer zerreißender Wildbach in Trümmer warf – nicht der Mann, gegen den ich in meinen Racheträumen die Hand erhob – nicht der Traute, den ich nach Jahren des Jammers auf dem Bernhardin wiederzuerkennen glaubte und in die Arme schloß – nein! es ist ein weltgewandter Höfling,[504] ein berechnender Staatsmann aus ihm geworden ... Er will sich von mir scheiden und loskaufen, darum gab er mir mein Riedberg wieder. Er scheut mich wie einen Vorwurf, er flieht mein Antlitz wie das einer Toten! – Und sie vergaß, daß sie selbst ihn drohend beschworen, die Schwelle ihres Hauses nimmermehr zu überschreiten. –

»Heilige Mutter Gottes, was ist das für ein Lärm!« fuhr jetzt Schwester Perpetua auf, denn im Schloßzwinger erscholl ein rasendes Gebell der Hofhunde. Man hörte das Schelten der sie beschwichtigenden Knechte, dazwischen wiederholte Schläge gegen das Tor und, als Lucretia das Fenster öffnete, eine mit langsamer Bedenklichkeit geführte Unterhandlung zwischen Lucas und der gebieterischen Stimme eines Einlaß Begehrenden.

Nun erschien der Alte selber mit der bestürztesten Miene, deren seine felsenharten Züge fähig waren. »Es verlangt einer allein mit Euch zu reden, Fräulein« ... sagte er, »der Oberst Jenatsch, den Gott strafe!« – setzte er leiser und mit innerer Empörung hinzu.

Lucretia stand groß und bleich. Sie hatte die Stimme vor dem Hoftore am ersten Laute erkannt.

»Laß ihn nicht warten! Führe ihn hieher!« befahl sie dem Alten, der sie fragend ansah und nur zögernd gehorchte.

Die Nonne hatte sich erhoben und eine still beobachtende Stellung in der tiefen Fensternische eingenommen. Dort lag auf der Bank ihr Nachtmantel; sie strich ihn zurecht, aber legte ihn nicht um.

Rasche Schritte näherten sich und Georg Jenatsch stand vor Lucretia mit entschlossenem freudigen Antlitze und grüßte sie als Bekannte, doch mit großer Ehrerbietung.

Schwester Perpetua betrachtete mit einem Ausdrucke frommer Einfalt, aber den schärfsten Blicken ihrer halbgeschlossenen Augen die beiden großen Gestalten – und sie wunderte sich.

Kein Kainszeichen war auf der hohen offenen Stirn des Obersten zu entdecken, und – merkwürdig – die Planta stand neben ihm mit strahlenden Augen, kühn und trotzig, wie einst Herr Pompejus geblickt, und schien zur Höhe ihres gewaltigen Feindes emporzuwachsen.

Das von Perpetua sehnlich erwartete Gespräch jedoch begann nicht. Die Schloßherrin richtete das Wort an Lucas, der mit drohender Miene an der Türe stehen geblieben war: »Die fromme Schwester begehrt nach Haus. Die Nacht ist dunkel und der[505] Weg weit. Begleite sie mindestens bis jenseits der baufälligen Rheinbrücke.« Und damit nahm das Fräulein von Perpetua herzlichen Abschied.

So stand die Schwester, ehe sie sich dessen versah, am Hoftore, Lucas aber entzündete eine Pechfackel und schritt mit der rauchenden Leuchte vor ihr her in die Nacht hinaus. »Jetzt schickt sie mich weg«, murrte er hörbar, als wollte er es der frommen Schwester klagen, »und es wäre gerade der rechte Ort und Augenblick!«

Als Jenatsch mit dem Fräulein allein war und ihm gegenüber am Feuer saß, begann er mit kurzen klaren Worten:

»Ihr seid gerechtermaßen erstaunt, Lucretia, daß ich das Haus Eures Vaters betrete. Doch ich weiß, Ihr traut mir zu, daß ich nicht gekommen bin, Euch zu verwirren mit Wünschen, die ich in meinem geheimsten Herzen gefangenhalte – sonst hättet Ihr mich nicht in den wiederhergestellten Burgfrieden von Riedberg eingelassen. – Und doch komme ich, etwas von Euch zu verlangen – einen großen Dienst, den Ihr mir leisten werdet, wenn Ihr unser Land so liebhabt, wie ich von Euch glaube und wie ich selbst es liebe; denn an meiner Statt müßt Ihr handeln. – Ich schließe ein Bündnis mit Spanien. Dies ist unsere einzige Rettung. Richelieu verrät uns und der gute Herzog ist sein Spielzeug – ein schönes Scheinbild, womit der Gewissenlose uns täuscht und blendet. Aber wer knüpft das rettende Tau? – Ich selbst kann hier nicht fort, weil ich unser Volk zum Bewußtsein der über ihm schwebenden Gefahr aufwecken und den Herzog, den ich als Pfand behalte, mit Beweisen meiner Ergebenheit einschläfern muß ... Ihr staunt, daß ich, Spaniens Feind, zu diesem Gifte greife! . . . Wundert Euch nicht. Wenn ich nicht meine Vergangenheit zerstöre und mein altes Ich von mir werfe, so kann ich nicht meines Landes Erlöser sein und Bünden ist verloren. Serbelloni erwartet mich selbst, oder einen, dem ich traue, wie mir selber – wenn ich, sagt er, einen solchen kenne. – Ich traue nur Euch.«

Lucretia richtete den Blick mit zweifelnder Frage auf das von der Flamme beleuchtete, altbekannte Antlitz und las darin die höchste Spannung der Tatkraft und einen tödlichen Ernst.

»Ihr wißt, Jenatsch«, sagte sie, »welcher Partei mein Vater angehörte, wie und warum er starb. Ihr wißt, wie ich ihm glaubte und ihn liebte. Ich konnte mich nie mit Gedanken befreunden die nicht die seinigen waren. So ist das französische Wesen –[506] trotz der väterlichen Güte des Herzogs gegen mich Heimatlose – mir immer fern und fremd geblieben. Ich habe mich nie darin zurechtgefunden. Ihr aber seid von Spanien durch viele Blutschuld von alters her getrennt. Ihr, Jürg, verdankt dem guten Herzog das Leben und Euern Ruhm! Er hat Euch mit Vertrauen überschüttet und Ihr kennt seinen herzlichen Willen gegen unsre Heimat – habt Ihr ihn denn nicht lieb? . . . Könnet Ihr – ich will glauben der Heimat zum Besten – immer nach Neuem greifen und ohne daß Ihr daran untergehet das alte Wesen wie eine Schlangenhaut abstreifen?«

»Was ist dir der Herzog, Lucretia!« rief er. »Wie magst du um einen Fremdling sorgen! Bist du noch so weichlichen Herzens nach allem, was du gelitten, nach allem, was ich selbst an dir und deinem Hause gefrevelt habe? . . . Schau um dich ... in allen unsern Tälern Trümmer und Brandstätten! Soll hier nie Friede werden, nie Freiheit und Gesetz hieher zurückkehren? Der Herzog kann uns nicht herausziehen. Er will sein frommhochzeitlich Kleid nicht beflecken. Doch auch ich habe eine Rede Gottes für mich. Ich wölbe mir die Himmel – spricht der Herr – den Spielraum der Erde aber überließ ich den Menschenkindern ... Siehst du nicht, Lucretia, wie wir alle in diesen Bürgerkriegen Gebornen ein freches, schuldiges Geschlecht sind! . . . und ein unseliges. Dort hat der Bruder den Bruder erschlagen und hier liegt trennend eine Leiche zwischen zweien, die sich lieben und angehören. Darum laß uns nicht kleiner sein als unser Los! Ich stehe am Steuer und lenke Bündens Schifflein durch die Klippen mit schon längst blutüberströmten Händen. – Nimm ein Ruder und hilf mir! Zweifle nur jetzt nicht an mir, hilf mir Lucretia!« drang er in sie.

»Und was willst du, daß ich tun soll?« sagte die Bündnerin und ihre Augen begannen unternehmend zu leuchten.

»Gehe nach Mailand«, fiel er rasch und freudig ein, »dort findest du den Pancraz, der dich beim Gubernatore einführen wird. Serbelloni kennt dich von früher her als die, welche du bist. Unterhandle mit ihm über die Bedingungen, die ich dir niederschreiben will. Hast du mir etwas zu berichten, so tue es durch den Pater, dessen Beistand dir in allen Fällen gewiß ist.«

»Ist es dein Ernst«, fragte sie erstaunt, »wenn du mich als deine Unterhändlerin nach Italien schickst? Wie will ich mich im Labyrinthe der Politik zurechtfinden?«

»Ich verlange nichts von dir«, ermutigte er, »als was du kannst[507] und ich dir auch sonst zutraue: daß du mein Geheimnis bewahrest, und müßtest du es mit dem Leben schützen, und daß du in der Unterhandlung von meinen Bedingungen nicht um eine Linie abweichest. Im übrigen wird dich der brave Pancraz vortrefflich beraten. Gib mir Tinte und Feder, ich will dir die Punkte aufzeichnen, die du festzuhalten hast.«

Lucretia erhob sich und schritt zu der mit astreichem Nußbaumholze bekleideten Rückwand des Turmzimmers. Dort ließ sie die Platte ihres in das Getäfel kunstreich eingefügten Schreibtisches auf die gabelförmige Eisenstütze nieder und der Oberst schrieb, während ihm das Fräulein aufmerksam über die Schulter blickte:


»Donna Lucretia Planta, meine Bevollmächtigte, wird mit der Exzellenz des Herzogs Serbelloni für mich auf Grund folgender Bedingungen unterhandeln:

Der Gubernatore stellt einen Heerhaufen von über zehntausend Mann bei Fort Fuentes an den Eingang des Veltlins.

Er trifft das Abkommen mit dem Hofe in Innsbruck, daß ein kaiserlicher Heerhaufe von derselben Stärke gegen die bündnerische Nordgrenze bei Finstermünz und am Luziensteig vorrücke.

Die Führer beider Heere gehorchen dem Obersten Jenatsch und betreten den Bündnerboden nicht ohne dieses Obersten schriftlichen Befehl.

Der Oberst Jenatsch verpflichtet sich gegenüber Spanien in weniger als Jahresfrist den Abzug aller in Bünden stehenden französischen Truppen bis auf den letzten Mann zu bewirken.

Dafür verspricht die Krone Spanien, die völlige Unabhängigkeit der drei Bünde in ihren alten Grenzen anzuerkennen und zu gewährleisten.«


Noch einmal überschaute Jenatsch die trocknenden Federzüge, dann setzte er seinen vollen Namen unter das Schriftstück.

Während er vor der ihm entgegentretenden Gestalt einer ungeheuern Tat insgeheim erbebte, wie vor einem heraufbeschworenen Dämon, der ihm helfen oder ihn verderben konnte, war das Fräulein mit ihren Blicken den seinigen über das Blatt gefolgt und hatte sich mit einem Unternehmen, dessen praktische Seite ihr einleuchtete, schneller als zu erwarten war vertraut gemacht. Es schien ihr, daß es sich um einen raschen, klar geplanten, vielleicht unblutigen Handstreich handelte, und das war ihr lieber,[508] als wenn ihrer einfachen Natur zugemutet worden wäre, die Fäden eines verwickelten Intrigennetzes in die Hand zu nehmen und zusammenzuknüpfen.

In dem Augenblicke als Jenatsch die Vollmacht zusammenfaltete und dem Fräulein übergab, zeigte sich der alte Kastellan, der seine Rückkehr möglichst beschleunigt hatte, auf der Schwelle und der Oberst befahl ihm, seinen Rappen vorzuführen.

»Diesen grauen Bären vergiß mir nicht auf die Fahrt mitzunehmen, Lucretia, seine Treue ist alt und seine Tatzen sind noch gefährlich«, sagte er freundlich, sprang auf und trat mit dem Fräulein ans Fenster. Er zögerte zu scheiden. »Die Nacht ist klar geworden«, sprach er hinausblickend, »wann gedenkst du zu reisen?«

»Morgen vor Tag«, erwiderte Lucretia. »Durch Pancraz wirst du zuerst von mir hören. Jürg, du bist ein gar großer Herr geworden – wie könnt es dir fehlen, wenn Kapuziner und Frauen für dich botenlaufen!« Und die Tränen traten ihr in die Augen.

Dieses halb mutwillige, halb traurige Wort gehörte wieder ganz der Lucretia seiner Jugendtage. Sie stand neben ihm, nur größer und herrlicher, neu erblüht zu bräunlicher Gesundheit im Hauche ihrer Berge. Der Nachtwind bewegte die Löckchen an ihren Schläfen, die sich aus der Krone der dicken dunkeln Flechten gelöst hatten, und ihre leuchtenden Augen blickten ihn an mit einer lautern Kraft, wie sie unter dem ermattenden Himmel des Südens nicht gedeiht.

Alte liebe Erinnerungen erwachten in ihm, er widerstand nicht und umfing sie.

»Mir ist, es sei noch nicht lange her, daß wir da unten miteinander spielten«, sagte er weich und zeigte auf die im Herbstwinde leise rauschenden Bäume des Riedberger Schloßgartens nieder.

Sie fuhr schaudernd zusammen – ihr Vater war vor ihr aufgestiegen – und blickte, von Jürg sich abwendend, ins Dunkel hinaus.

»Was ziehn dort für Lichter auf der Straße längs dem Heinzenberg, ist es ein Totengeleit?« fragte sie auf das jenseitige Rheinufer deutend.

Jenatsch warf einen scharfen Blick hinüber. »Es sind die Fackeln des Herzogs, der im Schutze der Nacht hinunter nach Chur fährt«, sagte er, blickte noch einmal in ihre nassen Augen, küßte ihr dann rasch die Hand und eilte von hinnen.[509]

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 502-510.
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