Sechstes Kapitel

[402] Unter diesen Gesprächen waren die Freunde auf der staubigen Landstraße, die durch das Veltlin hinaufführt, eine gute Strecke weitergetrabt und schon erglänzten in der Ferne das Schloß und die Mauern von Morbegno.

Jetzt blickte Jenatsch scharf auf die letzte Windung des in weitem Bogen nach dem Städtchen laufenden Weges. Dort bewegte sich langsam ein kleiner brauner Reiter.

»Bravo«, rief der Bündner, »da machst du eine prächtige Bekanntschaft! Dort kommt der Pater Pancrazi, voreinst – das ist vor einem Jahrzehnt – Almenserkapuziner und Beichtiger der Nönnchen von Cazis. Wir haben ihm sein Kloster aufgehoben. Wären unsere Kapuziner alle so gute Bündner wie er, und so witzige Gesellen, man hätte sie unbehelligt gelassen. Seither hat[402] er sein Unterkommen in einem Ordenshause irgendwo am Comersee gefunden und führt hierherum, predigend und terminierend, ein fahrendes Leben.«

»Er ist mir nicht unbekannt«, erwiderte Waser. »Voriges Jahr kollektierte er in Zürich für die verarmten Überbliebenen eurer verschütteten Stadt Plurs und betonte mit beweglichen Worten als die gute Seite solcher Verheerungen, daß man sich in diesen Jammerfällen über die Scheidewand der Konfessionen hinweg christlich die Bruderhand reiche. Kurz nachher aber kam mir eine gedruckte Bußpredigt von ihm zu Gesichte, worin er – zu meinem ärgerlichen Erstaunen – in der derbsten Sprache behauptet, der Bergsturz sei ein warnendes Gericht und eine göttliche Strafe für die Duldung der Ketzerei. Das heißt in sträflicher Weise mit zwei Zungen geredet.«

»Wer wird das einem Kapuziner und praktischen Manne verdenken!« lachte der andere. »Sieh, er setzt sein Eselchen in Trott, er hat mich erkannt.«

Der Kapuziner trabte auf seinem Tiere, das neben ihm noch zwei volle Körbe trug, so rasch heran, daß der Staub in Wirbeln aufflog. Aber die lustige Begrüßung, die Waser erwartete, blieb aus. Pancrazis kurze Gestalt drängte hastig vorwärts und streckte ihnen die Rechte mit abmahnender Gebärde entgegen als bedeute er die Reisenden, ihre Maultiere zu wenden. Nun hatte er sie fast erreicht und rief ihnen zu:

»Zurück, Jenatsch! Nicht hinein nach Morbegno!« –

»Was bedeutet das?« fragte dieser ruhig.

»Nichts Gutes!« versetzte Pancratius. »Wunder und Zeichen geschehen im Veltlin, das Volk ist aufgeregt, die einen liegen in den Kirchen auf den Knieen, die andern laden ihre Büchsen und wetzen ihre Messer. Zeige dich nicht in Morbegno, kehre nicht auf deine Pfarre zurück, wende dein Tier und flüchte nach Chiavenna!«

»Was? Ich soll mein Weib im Stiche lassen?« fuhr Jenatsch auf, »meine Freunde nicht warnen? Den braven Alexander und den redlichen Fausch auf seinem Bergdorfe Buglio? Nichts da! Ich reite zurück – natürlich das Städtchen umgehend über die Adda. Mein Kamerad hier, Herr Waser von Zürich, kennt keine Furcht ... und du, Pancrazi, tust mir den Gefallen und kommst mit. Du nächtigst bei mir. Meine Berbenner sind nicht so gottverlassen, daß sie des heiligen Franziskus Kutte nicht in Ehren hielten.«[403]

Nach kurzem Besinnen willigte der Kapuziner ein. »Meinetwegen, am Ende!« sagte er. »Heute bin ich dein Schutzpatron, ein andermal bist du der meinige.«

So ritten sie, was ihre Tiere laufen konnten, nach Berbenn hinüber und wie wenig Waser auch diese wilden Ereignisse zusagten, er machte gute Miene und rechnete es sich zur Ehre, das ihm erteilte Lob der Tapferkeit zu verdienen.

Eben ertönte die friedliche Abendglocke, als sie vor der Pfarre von Berbenn abstiegen. Unter dem niedrigen Eingangsbogen des Laubdaches stand ein breitschultriger ernster Mann von kleiner Statur aber mit ausdrucksvollem Kopfe, nachdenklich und aufmerksam seinen Hut betrachtend, welchen er nach allen Seiten drehte und gegen das Licht hielt. Es war ein hoher spitzer Filz von schwarzer Farbe.

»Was stellst du da für tiefsinnige Untersuchungen an, Kollege Fausch?« begrüßte ihn Jenatsch. »Was ist's mit deinem Filz? Oben aufgerissen, wie ich sehe. Willst du ihn hinfür zur Verstärkung deines Basses als Sprachrohr gebrauchen?«

Sorgenvoll erwiderte der Kleine: »Betrachte das Loch näher, Jürg! Seine Ränder sind verbrannt. Es ist eine Kugel durchgefahren, die mir einer deiner Berbenner zuschickte, als ich durch die Weinberge hinunterstieg. Natürlich galt sie dir; denn man sah über der Mauer nur meinen Kopf und der gleicht dem deinigen, wie du weißt, zum Verwechseln. Der Teufel soll mich holen«, fuhr er heftiger fort, »wenn ich nicht den geistlichen Stand quittiere. Der Part ist ungleich: uns ist nur das Schwert des Geistes gestattet, angefallen aber wird unser Fleisch mit Eisen und Blei.« –

»Gedenke deines Schwurs, Fausch, mein Sohn, das Evangelium zu predigen usque ad martyrium«, erscholl aus dem Hintergrunde der Laube von einer tief beschatteten Bank her die etwas dumpfe Stimme eines graubärtigen Mannes, der dort in aufrechter Haltung am Tische saß und sich von der schönen Lucia Sasseller einschenken ließ. Das junge Weib aber erblickte kaum ihren Mann, so eilte es ihm entgegen und schmiegte sich bleich und furchtsam an seine Seite, als suche es Schutz vor einer entsetzlichen Angst.

»Exclusive, Blasius! exclusive! Bis an den Martertod hinan, aber nicht hinein!« antwortete Fausch, sich zu seinem Kollegen wendend, dessen Glas er ergriff und bis auf den letzten Tropfen leerte.[404]

Indessen machte Jenatsch seinen zürcherischen Freund mit dem glaubensstarken Pfarrer Blasius bekannt und stellte ihm dann lachend in Pfarrer Lorenz Fausch einen Schulkameraden aus dem »Loch« in Zürich vor, dessen sich Waser gar wohl erinnerte als eines um ein paar Jahre ältern, ziemlich liederlichen Studiengesellen. »Dieser Mann hat seither in Bündnerdingen eine hervorragende Rolle gespielt«, behauptete Jürg und schlug dem Kleinen auf die Schulter.

Der Kapuziner schien mit beiden Pfarrern auf bekanntem Fuße zu stehen und Fausch fuhr, diesmal an Waser sich wendend, in seiner aufgeregten Rede fort:

»Glaubst du's wohl, Herr Zürcher? Während du in deiner löblichen Stadt sittsam zur Predigt gehst und über das Gesangbuch hinweg züchtig nach deinem Jungfräulein ausschaust, betrete ich armer Streiter Gottes niemals die Kanzel ohne fröstelnd den Rücken einzuziehen, aus Furcht es fahre mir das Messer oder die Kugel eines meiner Pfarrkinder zwischen die Schultern! – Aber«, sagte er, nachdem er mit den Männern in die Stube getreten, »nun bin ich auch zum längsten Pfarrer gewesen. Dies Erlebnis«, er zeigte auf das Loch in seinem Filze, »gibt den Ausschlag. Das Maß ist voll. Ich habe von meiner Muhme in Parpan zweihundert Goldgulden geerbt, gerade genug um ein sicheres Gewerbe zu beginnen. – Herunter mit dem Pfarrock!« und er legte Hand an sein geistliches Kleid.

»Warte, Freund!« rief Jenatsch, »das verrichten wir zusammen. Auch mein Maß ist heute voll geworden! Nicht eine feindliche Kugel verjagt mich von der Kanzel, sondern eine freundliche Rede. Der Herzog Heinrich hat recht«, wandte er sich an den erstaunten Waser, »Schwert und Bibel taugen nicht zusammen. Bünden bedarf des Schwertes und ich lege die geistliche Waffe zur Seite, um getrost die weltliche zu ergreifen.« Mit diesen Worten riß er sein Predigergewand ab, langte seinen Raufdegen von der Wand herunter und gürtete sich ihn um den knappen Lederkoller.

»Potz Velten, ihr gebt ein lustiges Beispiel«, rief der Kapuziner mit schallendem Gelächter. »Fast gelüstet mich, es euch nachzutun! Aber meine braune Kutte ist leider zu zäh und hat ein fester Gewebe als eure Röcklein, ehrwürdige Herren!«

Blasius Alexander, der diesem Vorgange ohne Verwunderung aber mißbilligend zuschaute, faltete jetzt die Hände und sprach feierlich: »Ich aber gedenke zu verharren im Amte bis ans Ende[405] usque ad martyrium, bis in den Martertod, zu welcher Ehre Gott mir helfe!«


»Kein schönrer Tod ist in der Welt,

Als wer vorm Feind hinscheidt ...«


sang Jenatsch mit flammenden Augen.

»Ich werde ein Zuckerbäcker«, erklärte Fausch wichtig, »ein bißchen Weinhandel daneben ist selbstverständlich.« Damit setzte er sich an den Tisch, schnallte eine kleine Geldkatze ab, die er um den Leib trug, und begann die Goldstücke, eifrig rechnend, in Häuflein zu ordnen.

Jürg Jenatsch aber umschlang die eben eintretende Lucia und küßte sie mit überströmender Zärtlichkeit: »Sei getrost, mein Herz, und freue dich! Eben hat dein Georg den schwarzen geistlichen Rock abgeworfen, der dich mit den Deinen verfeindet hat. Wir ziehn hier weg, es wird dir wohl ergehn und du erlebst an deinem Manne Ehre die Fülle.«

Lucia errötete vor Freude und blickte mit seliger Bewunderung in Jürgs übermütiges Angesicht, aus dem eine wilde Freude sprühte. Noch nie hatte sie ihn so glücklich gesehn. Offenbar wich eine dunkle Furcht von ihrem Herzen, an der sie von Tage zu Tage schwerer getragen und die ihr das Leben in der Heimat verleidet hatte.

»Hier, Jürg, mein Bruder«, sagte jetzt Fausch, der mit seiner Rechnung fertig war, »hier mein Eingebinde zu deinem Tauftage als Ritter Georg! Für Gaul und Harnisch. Das Kapital ist gut angelegt. Ich komme mit einem Hundert zurecht.« Und er schob ihm die Hälfte seines kleinen Erbes zu.

Jürg schüttelte die ihm entgegengestreckte kurze breite Hand derb, aber ohne sonderliche Rührung und strich das Gold ein.

Inzwischen hatte sich Waser zu Pater Pancraz gesetzt, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Dem Zürcher erschien des Kapuziners keckes Betragen, seine Lustigkeit und Selbstbeherrschung etwas zweideutig und verdächtig. Aber sein Mißtrauen schwand, als er die ungeschminkt herzliche Besorgnis des Paters um das Schicksal seiner bündnerischen Landsleute wahrnahm, und er mußte bewundern, wie richtig Pancraz die gefährlichen Verhältnisse auffaßte, wie scharf er die Vorzeichen des herannahenden Sturmes beobachtet hatte.

»Ich fürchte, es sind große Herren«, sagte der Pater, »Spanier, vielleicht auch Bündner, die diesmal das Spiel in Händen[406] halten und zu ihren habgierigen und herrschsüchtigen Zwecken den frommen, einfältigen Glauben des Veltlinervolks mißbrauchen. Wehe, sie schüren einen höllischen Brand, das Blut, das sie vergießen, wird ihnen bis an die Kehle steigen und sie ersäufen. – In Morbegno hieß es, die Mordbanden des Robustell seien schon auf dem Wege das Tal herunter. Gott gebe, daß solcher Greuel nur in den welschen Köpfen spukt! Eins aber ist gewiß – und das beherzigt, ihr Männer« – sprach er aufstehend und an die drei Bündner sich wendend: »des Bleibens der Protestanten im Veltlin ist nicht mehr.«

Jetzt erhob Jenatsch die Stimme: »Zweifelt nicht, Brüder, Pancrazi rät gut!« sagte er. »Kein Augenblick ist zu verlieren. Fort müssen wir. Wir sammeln in Eile unsere wenigen Glaubensgenossen, treiben unsere geistliche Herde, Mann, Weib und Kind, über das Gebirge nach Bünden, und decken bewaffnet den Rückzug.«

Er öffnete eine Truhe und zog eilig Briefschaften daraus hervor, die einen zerreißend, die andern in den Taschen seines Wamses bergend.

Blasius Alexander schüttelte den Kopf, als er von Flucht reden hörte, und lud mißvergnügt seine Muskete, die er mitzubringen nicht versäumt hatte, mit Pulver aus dem großen an seiner Hüfte hängenden Familienhorn. Dann stellte er die Waffe zwischen die Kniee und fuhr fort, langsam aber unausgesetzt, Becher um Becher zu leeren, ohne daß der feurige Wein den kalten ruhigen Blick seines Auges im mindesten belebt, oder sein farbloses Gesicht gerötet hätte.

Der junge Zürcher sah diesem Tun bedenklich zu und konnte endlich die Bemerkung nicht unterdrücken, ob der edle Trank, in solcher Überfülle genossen, dem Herrn Blasius nicht zu Kopfe steigen und die im nahenden Augenblicke der Gefahr so nötige Geistesklarheit trüben könnte.

Darauf warf ihm der Alte einen etwas verächtlichen Blick zu, antwortete aber gelassen und ungekränkt: »Ich vermag alles in dem Herrn, der mich stark macht.«

»Das ist ein christlich Wort!« rief der Kapuziner, ließ die Gläser klingen und reichte dem greisen Prädikanten über den Tisch die Hand.

Unterdessen war der Mond aufgegangen und überrieselte draußen die Krone der Ulme und die schwere Blätterdecke der Feigenbäume mit hellem Lichte; aber nur eine spärliche Helle[407] drang durch die kleinen Fenster in das breite, tiefe Gemach und schattete ihre massiven Gitterkreuze auf dem steinernen Fußboden ab.

Lucia stellte die italienische eiserne Öllampe auf den Tisch und entfachte, die Dochte in die Höhe ziehend, drei helle Flämmchen, die auf ihr über das Gerät gebeugtes liebliches Antlitz einen roten Widerschein warfen.

Der unschuldige Mund lächelte, denn die junge Veltlinerin war freudig bereit, mit ihrem Manne, auf dessen starken Schutz sie unbedingt baute, aus der Heimat wegzuziehen. Waser, dessen Blick von der warm beleuchteten Erscheinung gefesselt war, betrachtete mit Rührung diesen Ausdruck kindlichen Vertrauens.

Da stürzte plötzlich die Ampel klirrend auf den Boden und verglomm. Ein Schuß war durch das Fenster gefallen. Die Männer sprangen allesamt auf und zugleich sank das junge Weib ohne Laut zusammen. Eine tödliche Kugel hatte die sanfte Lucia in die Brust getroffen.

Schaudernd sah Waser das schöne sterbende Haupt, auf welches das Mondlicht fiel und das Jenatsch, auf den Knieen liegend, im Arme hielt. Jürg weinte laut. Während der Pater bemüht war die Lampe wieder anzuzünden, hatte Blasius Alexander seine Büchse ergriffen und schritt ruhig in den mondhellen Garten hinaus.

Er mußte den Mörder nicht lange suchen.

Da kauerte zwischen den Stämmen der Bäume ein langer Mensch, dessen vorgebeugtes Gesicht dunkle darüberfallende Lockenhaare verbargen, den Rosenkranz in der Hand, stöhnend und betend. Neben ihm lag ein noch rauchendes schwerfälliges Pistol.

Ohne weiteres legte Blasius sein Gewehr auf ihn an und streckte ihn mit einem Schusse durch die Schläfen nieder. Dann trat er neben den auf das Angesicht Hingesunkenen, drehte ihn um, betrachtete ihn und murmelte: »Dacht ich mir's doch – ihr Bruder, der tolle Agostino!« – Eine Weile stand er horchend. Nun schlich er über die Gartenmauer spähend wieder dem Hause zu. Durch die Stille der Nacht drang ein ungewisser Lärm an sein Ohr. »Zwei Vögelchen haben gepfiffen«, sagte er vor sich hin, »bald fliegt uns der ganze Schwarm aufs Dach.«

Jetzt mit einem Male scholl aus dem Dorfe ein gellendes Geschrei, und jetzt dröhnte es über ihm – die Kirchenglocke schlug an und läutete in hastigen Schwüngen Sturm. Alexanders Blick[408] fiel auf den wieder ins Dunkel hinausleuchtenden Schein der verräterischen Lampe, er schlug die dicken Laden des Erdgeschosses zu und schritt ins Haus zurück, in der Absicht es mit den Freunden wie eine Festung bis auf den letzten Mann zu verteidigen; denn schon knallten Schüsse von der Gasse her und Schläge fielen gegen die vordere Haustür. Fausch hatte sie eben verriegelt und stürzte die Bodentreppe hinauf, um durch die Dachluken auszuschauen. Der Prädikant aber lud seine Muskete wieder und stellte sich an das schmale vergitterte Küchenfenster, das nach der Gasse ging, wie hinter eine Schießscharte.

»Die Schurken!« rief er dem Zürcher zu, der eben hastig aus seiner Kammer trat, wo er sein Ränzchen geholt und seinen leichten Reisedegen umgeschnallt hatte, »wir wollen unser Leben teuer verkaufen!«

»Um Gottes willen, Herr Blasius«, warnte dieser, »gedenkt denn Ihr, ein Diener am Wort, auf die Leute zu schießen?«

»Wer nicht hören will, muß fühlen«, war des Bündners kaltblütige Antwort.

Jetzt aber faßte Pancrazi den tapfern Alten mit beiden Armen um den Leib und riß ihn von dem Mauerloche zurück: »Willst du uns alle verderben mit deiner wahnwitzigen Gegenwehr? – Macht, daß ihr von hinnen und in die Berge kommt!« –

»Misericordia!« dröhnte Fauschens Stimme durch die Treppenöffnung herunter. »Sie kommen in hellen Haufen, sie stürmen das Haus des Poretto! Wir sind verloren!«

»Macht, daß ihr fortkommt!« schrie der Pater, während immer heftigere Beilhiebe gegen die Türe schmetterten.

»Auch gut, Kapuziner«, sagte Blasius, der jetzt mit beiden Armen Reisigbündel und Stroh aus der Küche schleppte und mit geübten Handgriffen im Gange zwischen den beiden Haustüren aufschichtete. »Wir heben uns von hinnen über den Bondascagletscher ins Bergell. Fausch, alle Dachluken auf, damit es Luft gibt! Und dann hierher!«

Fausch krabbelte die Treppe herunter, beladen mit allerlei Mundvorrat, den er oben gefunden hatte, und Waser sah sich jetzt nach Jenatsch um.

»Hier scheiden sich die Wege, Pancrazi«, sagte der alte Prädikant und drückte dem Pater die Hand über den Reisigwall hinweg, während das Mittelstück des Haustors unter dem Geheul der Belagerer auseinanderkrachte. »Dein ist die Vordertür. Unsern Rückzug durch die hintere deckt die Flamme.« Und er entzündete[409] den Holzstoß. »Abgezogen, ihr evangelischen Männer!« –

Während das Feuer in aufrechter Lohe durch die luftige Bodenöffnung emporschlug, trat Jenatsch, die Tote im Arme, aus dem Wohnraume in die flackernde Helle.

In seiner Rechten leuchtete das lange Schwert, auf dem linken Arme trug er, als spürte er die Last nicht, seine Tote, deren stilles, sanftes Haupt wie geknickt ihm an der Schulter ruhte. Er wollte sie nicht auf der Mordstätte zurücklassen. Waser konnte trotz der Gefahr der Stunde den Blick nicht verwenden von diesem Nachtbilde sprachlosen Grimms und unversöhnlicher Trauer. Er mußte an einen Engel des Gerichts denken, der eine unschuldige Seele durch die Flammen trägt. Aber es war kein Bote des Lichts, es war ein Engel des Schreckens.

Indes die Bündner durch den Garten nach dem Fuße des Gebirges enteilten, hatte der Pater in der Küche neben Feuer und Rauch standhaft den Augen blick erwartet, wo die Türe in Splitter flog. Jetzt sprang er, das Kruzifix in der vorgestreckten Rechten, zwischen die Pfosten und rief der blutlechzenden Menge entgegen:

»Heilige Mutter Gottes! Wollt ihr mit den Ketzern verbrennen? . . . Feuer vom Himmel hat sie verzehrt! Löschet! Rettet euer Dorf!« ... Und hinter ihm prasselte die lebendige Glut.

Mit einem Wehgeheul, das nichts Menschliches mehr hatte, wichen die Entsetzten zurück und es enstand eine unbeschreibliche Verwirrung. Blitzschnell verbreitete sich die Sage, Sankt Franziskus in eigener Person habe die Ketzer im protestantischen Pfarrhause vernichtet und sei in erhabener Gestalt den Gläubigen erschienen.

So gelang es dem Kapuziner, sein Eselchen, das er in einem benachbarten Stalle untergebracht hatte, unbemerkt zu besteigen. Brandröten und Mordgeschrei hinter sich lassend, ritt er auf Umwegen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, seinem Kloster am Comersee zu.

Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1968, S. 402-410.
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